Zu kurz gegriffen - Die Diskussion um das Feindstrafrecht
Wolfgang Kaleck
Der Strafrechtler Günther Jakobs polarisierte mit seinen Ausführungen zum Thema »Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht« die Abschlussveranstaltungen des 29. Strafverteidigertages in Aachen im März 2005 und der Strafrechtslehrertagung im Mai 2005 in Frankfurt/Oder gleichermaßen. Ein Beobachter dieser Auftritte befand über Jakobs, er arbeite mit aus der Werbung bekannten Methoden, weil er gezielt »verpönte Begriffe« einsetze, auf diese Weise gegen Tabus verstoße und durch die ausgelösten Proteste »Bekanntheitsgrad und Akzeptanz der beworbenen Marke« steigere (Dirk Sauer, Das Strafrecht und die Feinde der offenen Gesellschaft, NJW 2005, 1703ff, 1703). Der Großkritiker der Politik der Inneren Sicherheit, Heribert Prantl, warnte in einem früheren Kommentar »Strafrecht als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln - der Beschuldigte als militärisches Ziel« in der Süddeutschen Zeitung (vom 28. April 2004) davor, dass der Rechtsstaat auch an seiner Verteidigung sterben könne. Auf der Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung »Feindstrafrecht. Auf dem Weg zu einer anderen Kriminalpolitik?« anlässlich der Werner-Holtfort-Preisverleihung am 27. Mai 2005 forderte Fritz Sack eindringlich die Auseinandersetzung mit Jakobs Thesen und warf dessen Kritikern vor, mit einem »Argument der Einschüchterung« werde der »Blick auf die Analyse« verstellt oder »zu einem normativen Vorabbekenntnis« verführt, das bei ihm den Verdacht eines »Gefälligkeitsbekenntnisses nach Art politischer Korrektheit« auslöst.1
Die Person des Strafrechtswissenschaftlers und seine Beiträge zum Feindstrafrecht mögen für sich genommen den intellektuellen Aufwand und die Vehemenz der Debatte nicht ganz erklären. Aber bei der bisherigen Diskussion wurden derart wichtige Grundsatzfragen um die Rolle des Strafrechts aufgeworfen, dass es gerechtfertigt ist, sich zunächst kurz mit Jakobs Positionen von 1985 einerseits und 1999/2004 andererseits zu beschäftigen (dazu I.), um dann zu überprüfen, ob die von Jakobs erstmals auf der Strafrechtslehrertagung 1985 formulierte und später aktualisierte Situationsbeschreibung von der Zunahme feindstrafrechtlicher Tendenzen im Strafrecht tatsächlich so originell ist, wie es die anschließende strafrechtswissenschaftliche Debatte vermuten lässt; oder ob die Kritiker repressiver Tendenzen - vor allem im politischen Strafrecht die Autoren Otto Kirchheimer oder Sebastian Cobler - Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vorher zu denselben Ergebnissen gelangt sind und ihre Analysen den jeweiligen philosophischen und politischen Hintergrund der konstatierten repressiven Strömungen wesentlich besser als Jakobs erklärt haben (dazu II.). Scheinen nicht darüber hinaus bei Jakobs, spätestens in seinem 2004 veröffentlichten Beitrag »Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht« der Gestus und das theoretische Werk Carl Schmitts durch, ohne dass dies von Jakobs auch nur ansatzweise diskutiert würde? Und geht es nicht jenseits des provokanten und emotionalen Begriffes »Feind« um das Konzept des Rechts überhaupt, wenn die Suspendierung von Teilen des Rechts gegenüber bestimmten Personen und Personengruppen zur Regel wird? Wo wird im Übrigen die entscheidende Frage, wer über die Anwendung von Feindstrafrecht auf wen entscheidet, hinreichend erörtert (dazu III.)? Und schließlich: Greift die Diskussion um das Feindstrafrecht nicht zu kurz, weil an vielen Orten auf der Welt Feindrecht praktiziert wird, in einigen Fällen im Gewand des Strafrechts, in den meisten Fällen jedoch in anderen Rechtsgebieten, bzw. wird nicht oftmals die Ebene des Rechts verlassen, um an den als Feinde deklarierten Personen reine Macht auszuüben (dazu IV.)?
I. Von der Kritik zur Affirmation
In seinem ersten Debattenbeitrag zu dem Thema konstatierte Jakobs auf der Strafrechtslehrertagung in Frankfurt am Main im Mai 1985 eine Tendenz zur »Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutverletzung« und befürchtete, dass bei stärkerem Rechtsgüterschutz »der Täter als Feind, ohne Internbereich« definiert werde (Jakobs, 1985). Zur Vermeidung einer solchen Orientierung auf die Täterpersönlichkeit schlug er die »Kriminalisierung der Verletzung vorgelagerter Rechtsgüter« vor. In seinen abschließenden Bemerkungen führt er schließlich den Begriff des Feindstrafrechts ein: »Zum Schluss meiner vielleicht etwas altliberal klingenden Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, erlaube ich mir eine Bemerkung zum Gegenteil des bürgerlichen Strafrechts, also zum Feindstrafrecht. Dabei beabsichtige ich nicht, alle vorangehenden Ausführungen durch die Empfehlung zu relativieren, der Staat solle sich, wenn es opportun sei, an die genannten Bindungen nicht halten. Die Bindungen sind für den freiheitlichen Staat konstitutiv; wer sie löst, gibt ihn Preis. Das Vorhandensein vom Feindstrafrecht ist also nicht ein Zeichen der Stärke des freiheitlichen Staates, sondern ein Zeichen dafür, dass er insoweit überhaupt nicht vorhanden ist. Freilich sind Situationen möglich, vielleicht zur Zeit gegeben, in denen Normen, die für einen freiheitlichen Staat unverzichtbar sind, ihre Geltungskraft verlieren, wenn man mit der Repression wartet, bis der Täter aus seiner Privatheit heraus tritt. Aber auch dann ist das Feindstrafrecht nur als ein ausnahmsweise geltendes Notstandsstrafrecht legitimierbar. Die zugehörigen Strafvorschriften müssen deshalb vom bürgerlichen Strafrecht streng geschieden werden, am besten noch äußerlich. So wie die Regelung der Kontaktsperre zutreffend nicht in die StPO aufgenommen worden ist (ob sie im EGGVG richtig untergebracht ist, ist eine andere Frage), muss auch das Feindstrafrecht so deutlich vom bürgerlichen Strafrecht abgesetzt werden, dass keine Gefahr besteht, es könne per systematischer Interpretation oder Analogie oder sonst wie in das bürgerliche Strafrecht einsickern. Das Strafgesetzbuch in seiner gewärtigen Gestalt verschleiert an nicht wenigen Stellen den Übertritt über die Grenzen eines freiheitlichen Staates (Jakobs, 1985: 83 f.).
In seinem späteren, zunächst wenig beachteten Kongressbeitrag 1999 benennt Jakobs vier Kriterien, die das Feindstrafrecht ausmachten (Jakobs, 2000a: 51 f.):
- »die weite Vorverlagerung der Strafbarkeit«,
- »keine der Vorverlagerung proportionale Reduktion der Strafe«,
- der »Übergang von der Strafrechtgesetzgebung zur Bekämpfungsgesetzgebung«
- der »Abbau strafprozessualer Garantien«
Jakobs spricht bereits damals davon, dass es keine Alternative zum Feindstrafrecht gäbe, dass er der Sache nach als »Krieg« kennzeichnete, weil die Gesellschaft keine kognitive Sicherheit gegenüber ihren Feinden habe. Diese Feinde werden von ihm als »Unpersonen« bezeichnet, was mit einer gewissen Zeitverzögerung2 zu scharfer Kritik führte. Lorenz Schulz beschrieb in seinem Bericht zu der Tagung von 1999 die gewandelte Jakobsche Position zum Feindstrafrecht von einem »so nicht« zu einem »so vielleicht schon« oder »so notgedrungen schon« (Schulz, 2000: 659).
Jakobs Ausführungen gipfelten schließlich in dem Aufsatz »Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht« aus dem Jahre 2003, erstmals 2004 in Deutschland veröffentlicht, in dem er unter anderem die vieldiskutierte These aufstellte:
»Der prinzipiell Abweichende bietet keine Garantie personalen Verhaltens; deshalb kann er nicht als Bürger, sondern muss als Feind bekriegt werden. Dieser Krieg erfolgt mit einem legitimen Recht der Bürger und zwar mit ihrem Recht auf Sicherheit; er ist aber, anders als Strafe, nicht auch Recht am Bestraften, vielmehr ist der Feind exkludiert« (Jakobs, 2004a: 95).
Diese Entwicklung und die sie begleitende Diskussion lassen sich mit folgenden Worten des Jakobs-Schülers Manuel Cancio Melia (Madrid) zusammenfassen:
»Von Anfang an stellte sich zu der Begriffsbildung die Frage, ob es sich um eine (kritisch-) beschreibende oder aber legitimierbare Konzeption handelte. Die Arbeiten Jakobs in den letzten Jahren haben - zweifellos auch im Zusammenhang mit den Ereignissen seit dem 11.9.2001 - bereits eine sehr lebhafte Diskussion ausgelöst, bei denen vornehmlich kritische Stellungnahmen zu konstatieren sind. Die Weiterentwicklung der Thesen Jakobs in jüngster Zeit lässt nun keinen Zweifel darüber zu, dass er über die Beschreibung hinaus ein Feindstrafrecht unter bestimmten Umständen für legitimierbar hält« (Cancio Melia, 2005: 277, Fn. 34).
Die Rede von Günther Jakobs auf der Strafrechtslehrertagung 1985 von der »Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutverletzung« liest sich stellenweise wie eine systemtheoretisch inspirierte strafrechtswissenschaftliche Übersetzung der Kritik progressiver Juristen und Juristenorganisationen an den Zuständen bundesrepublikanischer Justiz in den 1970er und 1980er Jahren.
nsbesondere seine bereits zitierten Schlussfolgerungen können als eine liberale Kritik derselben Auswüchse der Strafverfolgung von Kommunisten und der justiziellen Terrorismusbekämpfung gelesen werden, die andere Autoren in den Jahren zuvor bereits angegriffen hatten. Es verwundert daher, dass es in der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion so erscheint, als habe Jakobs das Gegensatzpaar Bürgerstrafrecht/Feindstrafrecht in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt.
Die Große Strafrechtsreform und die damit einhergehenden Diskussionen und die teilweise Verwirklichung eines aufgeklärten, am Rechtsgüterschutz orientierten Strafrechts lagen 1985 keine zwanzig Jahre zurück. Mitte der 1980er Jahre waren Richter und Staatsanwälte, die mit dem Anspruch eines aufgeklärt liberalen Strafrecht nichts anzufangen wussten, in allen Bereichen der Justiz, insbesondere in der Strafjustiz und bis hinauf in die höchsten Gerichte sowie die Generalstaatsanwaltschaften und die Bundesanwaltschaft, tätig. Bis in diese Zeit hinein wirkten Tendenzen eines noch vom Nationalsozialismus geprägten autoritären, obrigkeitsstaatlichen Staats- und Strafrechtsverständnisses. Diese autoritären Tendenzen wurden in den Jahren nach 1968 von Teilen der Rechtswissenschaft und der Rechtsanwaltschaft scharf kritisiert.
Eine maßgebliche Rolle in der Diskussion spielte dabei insbesondere die Studie »Politische Justiz. Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken« des ehemaligen Mitarbeiters am Institut für Sozialforschung, Otto Kirchheimer, die 1961 in englischer Sprache und 1965 in deutscher Übersetzung erschien. Seine Definition der politischen Justiz darf als klassisch bezeichnet werden. Kirchheimer konstatiert darin, »dass der Begriff 'politische Justiz' auf den dubiosesten Abschnitt der Rechtspflege angewandt wird, indem die Vorkehrungen und Einrichtungen des staatlich betreuten Rechts dazu benutzt werden, bestehende Machtpositionen zu festigen oder neu zu schaffen, [dies] entspricht dem traditionellen Sprachgebrauch und hat nichts Zynisches an sich« (Kirchheimer, 1981: 11).
Diese Passage dürfte mittlerweile in unzähligen einschlägigen Strafverfahren von Verteidigern und Prozessbeobachtern zitiert worden sein. Deshalb verwundert es, dass Kirchheimer und insbesondere der erste Satz des 1. Kapitels des viel zitierten Werkes im Zusammenhang der Debatte um das »Feindstrafrecht« - soweit ersichtlich - bisher nicht zur Kenntnis genommen wurde. »Jedes politische Regime«, heißt es dort, »hat seine Feinde oder produziert sie zu gegebener Zeit. Ausdrücklich soll hier von den Feinden eines Regimes, nicht von den Gegnern dieser oder jener Regierung die Rede sein« (Kirchheimer, 1981: 21).
Kirchheimer analysiert in seiner Studie nicht nur den politischen Strafprozess. Er geht darüber hinaus auf ähnliche Strukturen in anderen Rechtsgebieten ein. So erklärt er die Anwendung »gesetzlichen Zwangs« gegen politische Organisationen, untersucht die Rollen der verschiedenen Verfahrensbeteiligten und handelt die Auswüchse der politischen Justiz in Bereichen des Asylrechts ab. Von der politischen Philosophie und dem Staatsrecht kommend, spürt Kirchheimer die Mechanismen auf, mit denen politisch Mächtige das rechtsförmige Verfahren für ihre eigenen politischen Zwecke nutzen. Ohne ihn besonders zu erwähnen oder seine Theorie hervorzuheben, zollt Kirchheimer seinem Lehrer und späterem intellektuellen Gegner aus der Weimarer Republik, Carl Schmitt, Tribut, in dem er gleich zu Beginn auf die Feinderklärung politischer Regimes eingeht. Auf diesen Aspekt der Studie Kirchheimers und die Rolle der Kategorie »Feind« im Werk Carl Schmitts soll an anderer Stelle eingegangen werden. Kirchheimers Studie übte großen Einfluss auf jene Juristen aus, die die Zustände im Rechtsstaat der Bundesrepublik der 1970er und 1980er Jahre kritisierten. Seine Epigonen wandten seine Theorie der politischen Justiz auf die konkreten bundesrepublikanischen Zustände an. Dabei kommt praktisch keine der Beschreibungen ohne die Kategorie »Feind« aus.
Ein Beispiel hierfür ist der kurze Band »Staatsfeinde - Innerstaatliche Feinderklärung in der Bundesrepublik Deutschland« von Peter Brückner und Alfred Krovoza (1972). Brückner und Krovoza untersuchen darin vor allem die politische Psychologie der innerstaatlichen Feinderklärung.
»Die innerstaatliche Feinderklärung kann auf propagandistische Vorbereitung und Begleitung nicht verzichten. Das Problem der propagandistischen Präparierung der Feinderklärung ist die Sichtbarmachung und Identifikation - die der Identifikation durchaus im kriminaltechnischen Sinne des Steckbriefs und im Sinne von Identitycard - des Feindes, die Versinnlichung der Teilpopulation, die ausgegrenzt und ausgebürgert werden soll« (Brückner & Krosova, 1972: 61).
Brückner und Krosova exemplifizieren dies 1972 anhand von drei Untersuchungsfeldern: dem »rassisch« konnotierten Feindrecht im Nationalsozialismus gegenüber Juden, der Verfolgung von Kommunisten in der Rekonstruktionsphase Deutschlands nach 1945 sowie der Reaktion auf die Studentenproteste in der BRD Ende der 1960er Jahre. Die beiden letztgenannten Untersuchungsfelder sollen in der folgenden Beschäftigung mit Feindrecht und Feindstrafrecht eine wichtige Rolle spielen. Die Bedeutung des »Feind«-Begriffs in der politischen Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik nach dem Krieg hat vor allem Alexander von Brünneck untersucht (von Brünneck, 1978). Von Brünneck weist nicht nur die Vorverlagerung des strafrechtlichen Schutzes beim ersten Strafrechtsänderungsgesetz von 1951 nach, sondern hebt darüber hinaus hervor: »Mit strafrechtlichen Mitteln sollten vielmehr schon solche Formen der politischen Tätigkeit unterbunden werden, die auf die Verwirklichung erst langfristig hinzielt. Die gesamte Struktur des neuen politischen Strafrechts war darauf angelegt, den strafrechtlichen Schutz des Staates möglichst weit vorzuverlegen: 'der allseits anerkannte Hauptzweck des Gesetzes ist es, den gewaltlosen Umsturz zu erfassen, einschließlich derjenigen Betätigungen, die das Land dazu reif machen sollen'« (von Brünneck, 1978: 74, Hervor. im Orig.).
Dabei spielt insbesondere die klare Tendenz zum Täterstrafrecht eine entscheidende Rolle. So führt von Brünneck aus, dass es für »die Bestrafung ausreiche, wenn der Täter mit seinem politischen Handeln die Intention verfolgte, eine Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung herbeizuführen«. Der damalige CDU-Abgeordnete Wahl wird mit den Worten zitiert: »Der Ausweg, der gefunden worden ist, läuft im Wesentlichen darauf hinaus, dass der Einzelne, der einen Beitrag zu dieser revolutionären Entwicklung liefert, dann wegen eines Deliktes der Staatsgefährdung bestraft wird, wenn er diesen Beitrag in der Absicht liefert, die Staatsumwälzung herbeizuführen.« Die von Alexander von Brünneck benannten Beispiele betreffen sowohl das Verfassungsrecht, insbesondere die Verbotsverfahren gegen die KPD vor dem Bundesverfassungsgericht sowie zahlreiche weitere Verbotsverfahren gegen kommunistische Organisationen, als auch das verwaltungsmäßige Vorgehen gegen Organisationen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Kommunistenverfolgung im Kalten Krieg, nicht nur in Deutschland, als Musterbeispiel einer feindstrafrechtlichen und feindrechtlichen Praxis gelten kann. Bestimmte Argumentationsmuster, wie das des Paktierens des inneren mit dem äußeren Feind und die damit gerechtfertigte Anwendung kriegerischer Mittel, finden sich bereits hier. Dies gilt umso mehr, wenn man einen Blick auf die innerstaatlichen Auseinandersetzungen in Ländern Lateinamerikas während dieser Epoche wirft.
Dass auch später, in den 1960er und 1970er Jahren, kein Traditionsbruch eintrat und insbesondere die Reformbemühungen im Strafrecht nicht unmittelbar Früchte trugen, hat vor allem Sebastian Cobler in seinen Schriften nachgewiesen. Bereits 1976 beschrieb er das Gegensatzpaar Feindrecht/Bürgerrecht: »Da ist die Rede von Leuten, die sich 'sozialschädlich' oder 'gemeinschaftsgefährlich' verhalten, die 'staatsverdrossen' sind, 'staatsverneinend', 'staatsabträglich', 'staatsverachtend', 'staatsverleumdend', 'staatszersetzend', 'staatsgefährdend', 'staatsfeindlich', 'staatsbedrohend' u.s.f..
Begriffe, die nirgendwo gesetzlich bestimmt sind, deren Verwendung folglich keine rechtlichen Nachteile begründen dürfte, die gleichwohl mit negativen Vorstellungen und Sanktionen versehen sind. Den 'Staatsfeinden' gegenüber stehen die 'Anständigen', diejenigen, die mit einem positiven hinwendenden staatlichen Bewusstsein den Staat und seine geltende Verfassungsordnung bejahen und dies nicht bloß verbal, die den hohen positiven Wert (der Verfassung) erkennen und anerkennen, für den einzutreten sich lohnt, die mehr als nur formal korrekte Haltung gegenüber Staat und Verfassung einnehmen…« (Cobler, 1976, Hervor. im Orig.).
In der genannten Abhandlung liefert Cobler Beispiele von Feinderklärungen durch rechtliche Institutionen. Die trotz der Strafrechtsreform ungebrochene Tendenz der Justiz nach 1968 charakterisiert er so:
»Geblieben ist die negative Privilegierung der Angeklagten, die als politische Straftäter bezeichnet werden, weil sie einen doppelten Normbruch begehen: Die herrschenden Gesetze nämlich ebenso missachten, wie die Regeln, nach denen sie zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Sie setzen, so die Rechtssprechung des BGH zu Überzeugungstätern, an die Stelle der Wertordnung der Gemeinschaft ihre eigene, ein Verhalten, dass von der Gemeinschaft als verächtlich angesehen wird, wenn die Überzeugung mit dem Sittengesetz nicht im Einklang steht. Besonders gefährlich sei der leidenschaftlich an seinem Glauben festhaltende und zur jederzeitigen Wiederaufnahme des Kampfes bereite Angeklagte, jene Überzeugungstäter, die nicht im herkömmlichen Sinne resozialisierbar sind. Da sie durch herkömmliche Strafen nicht angepasst werden können, versucht man sie durch eine Sonderbehandlung zu brechen: Ihre Uneinsichtigkeit und ihre Hartnäckigkeit, ihre Rechtsfeindschaft, ihr Protestverhalten und schließlich die Art der ihnen vorgeworfenen Handlungen begründen für die Staatsschutzkammer besondere Beschränkungen während der Untersuchungshaft, eine Straferhöhung bei der Verurteilung und deren sofortige Vollstreckung« (Cobler, 1976: 98).
Dies schrieb Cobler wohlgemerkt schon 1976, also knapp zehn Jahre bevor Jakobs mit dem Begriff »Feindstrafrecht« und seiner Kritik an der Vorverlagerung der Strafbarkeit in der engeren strafrechtwissenschaftlichen Diskussion reüssierte. In weiteren Einzelstudien weisen vor allem Piet Bakker Schut (1986) und Rolf Gössner (1991) die von Kirchheimer allgemein zur politischen Justiz formulierten Kriterien sowie die von Cobler bereits zu Beginn der 1970er konstatierten Elemente von politischer Justiz und innerstaatlicher Feinderklärung der Strafprozesse bis weit in die 1980er Jahre hinein nach. Ähnliches zeigt sich in den Diskussionen der fortschrittlichen Juristenvereinigungen, insbesondere auf den Strafverteidigertagen.
Die von Jakobs im Jahre 1985 konstatierten Kriminalisierungstendenzen im Vorfeld von Rechtsgutverletzungen kennzeichneten ausweislich der zitierten Studien also beträchtliche Teile bundesrepublikanischer Nachkriegsjustiz, wenn man nicht sogar - wie Thomas Vormbaum (1995: 737) - die vergangenen 100 Jahre von »Entformalisierung, Flexibilisierung und Ausweitung des Strafrechts« gekennzeichnet sehen will. Was also ist dann wirklich neu an dem auf der Strafrechtslehrertagung 1985 vorgetragenen Ansatz von Jakobs? Die Kategorie des Feindes spielte im staatsphilosophischen und rechtstheoretischen Diskurs, insbesondere auch im Strafrecht, in Deutschland oft eine unheilvolle Rolle. Selbst in Gesetzgebung und Rechtsprechung des im Aufbau begriffenen Rechtsstaates nach 1945 ist diese Tendenz deutlich zu spüren. Im Bereich der Staatsschutzdelikte und Organisationsdelikte kann von einem aufgeklärten, am Rechtsgüterschutz orientierten Strafrecht nur in den seltensten Momenten der bundesrepublikanischen Geschichte die Rede sein. Vielmehr sind die Tendenzen eines vorverlagerten Strafrechtsschutzes und eines Täterstrafrechts in allen kritischen Kommentaren beschrieben worden. Jakobs Verdienst mag es allenfalls sein, diese in der politisch-juristischen Gegenöffentlichkeit primär zum politischen Strafrecht entwickelten Argumente für das gesamte Strafrecht aufgezeigt und die Tendenz bezeichnet zu haben.
III. Carl Schmitt - spiritus rector des Feindstrafrechts Von der Ausnahme zum Regelfall
Fast schon resigniert muss man zur Kenntnis nehmen, wie mit der Debatte um das »Feindstrafrecht« einmal mehr Carl Schmitt wie der Geist aus der Flasche aufsteigt - sowohl, was die Selbstinszenierung, als auch was die Theorie des bis heute wirkungsmächtigen Staatsrechtlers anbelangt. Wenn Jakobs ausführt, dass »der prinzipiell Abweichende […] keine Garantie personalen Verhaltens« biete und »deshalb […] nicht als Bürger, sondern [...] als Feind bekriegt werden« müsse, erinnert dies in Begrifflichkeit und Inhalt an Schmitt. Jakobs hält Schmitt an keiner Stelle für einer Erwähnung würdig, auch nicht, wenn er 2004 im zweiten Kapitel seiner umstrittenen Abhandlung »einige rechtsphilosophische Entwürfe«, besser gesagt: Fragmente, aus den Lehren von Rousseau, Fichte, Hobbes und Kant destilliert (vgl. Jakobs, 2004a: 89 ff.). Doch nicht nur die zentrale Bedeutung des Begriffes »Feind« weist auf Schmitt hin. Vielmehr legt Jakobs bereits 1985 eine kaum zu übersehende Spur zu dem umstrittenen Staatsphilosophen, wenn er das Feindstrafrecht »nur als ein ausnahmsweise geltendes Notstandsrecht« für legitimierbar hält, um dann in seinen späteren Abhandlungen diese Ausnahme zum Regelfall bei der Behandlung von Feinden aufzuwerten und das Feindstrafrecht mit Krieg gleichzusetzen. Es lohnt sich also, einen Blick auf Carl Schmitt zu werfen.
Die innerstaatliche Feinderklärung bei Carl Schmitt
Carl Schmitt gebührt das zweifelhafte Verdienst, die Begriffe Feind und Krieg als zentrale Kategorien in seine staatsphilosophischen Theorien inkorporiert zu haben,3 um - wie er unermüdlich betonte - »rechtlich« mit diesen Realitäten umzugehen und die drohende Entgrenzung des Krieges und die absolute Feindschaft beispielsweise im Bürgerkrieg zu verhindern. Feindschaft wird von Carl Schmitt vor allem im Kontext des Krieges zwischen Staaten untersucht. Der Feind ist für ihn weder »moralisch böse« noch »ästhetisch hässlich« (Schmitt, 1963 [1932]: 27). Vielmehr bezeichne »Feind in seinem ursprünglichen Sprachsinn denjenigen [...], gegen den eine Fehde geführt« wird oder einfach nur »negativ [den] Nicht-Freund« (Schmitt, 1963 [1932]: 104). Diese vor allem in nachträglich editierten Vor- und Nachworten von Schmitt vorgenommenen Einordnungen des eigenen Theoriewerkes können nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Werke in der Endphase der Weimarer Republik das antidemokratische Lager theoretisch stärkten, er den »Preußenschlag« 1932 theoretisch und praktisch verteidigte und er sich in der Frühphase des Nationalsozialismus theoretisch und praktisch auf die Seite derer stellte, die ab 1933 ihre Feinde nicht nur kennzeichneten, sondern drangsalierten und vernichteten. Ein kurzer Blick auf die Bedeutung des Feindbegriffes bei Schmitt im innerstaatlichen Bereich verdeutlicht die Konsequenzen. Schmitt bestimmt in seinem 1932 erschienen Essay »Der Begriff des Politischen« den »Kern« alles Politischen durch die »spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen […] die Unterscheidung von Freund und Feind«. »Der politische Feind« sei »eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist, so dass im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines 'unbeteiligten' und daher 'unparteiischen' Dritten entschieden werden kann« (Schmitt, 1963 [1932]: 26f., Hervor. im Orig.).
In der neueren kriminologischen Debatte wird scheinbar auf eine ähnliche Unterscheidung zurückgegriffen: zwischen dem »rationalen, normalen Rechtsbrecher wie Du und Ich«, auf den die Konzepte der »criminology of the self« oder »criminology of the everyday life« angewandt werden, und dem »alien other«, dem Fremden, der ausgeschlossen und weggesperrt wird.4 Diese unterschiedliche Behandlung des so deklarierten »Fremden« sowie die zunehmende Instrumentalisierung des Strafrechts in der öffentlichen Diskussion mögen eine demagogische Funktion erfüllen und die sozialpsychologische Rolle spielen, Identität zu stiften und gemeinsame Interessen gegenüber den »Fremden« zu suggerieren. Bei Schmitt reicht die Bedeutung der Freund/Feind-Unterscheidung jedoch wesentlich weiter: »Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus« (Schmitt, 1963 [1932]: 21). »Zum Staat als einer wesentlichen politischen Einheit gehört das jus belli, d.h. die reale Möglichkeit, im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen« (Schmitt, 1963 [1932]: 45). Zum Wesen des Staates zählt Schmitt zufolge nicht nur die Fähigkeit zur Kriegserklärung und -führung, und damit: über das Leben von Menschen zu verfügen, sondern auch im Inneren Freund/Feind-Grenzen zu ziehen. Eine »Verrechtlichung dieser innerstaatlichen Feinderklärung hingegen führe zur »Neutralisierung« des Politischen.
»[Die] Notwendigkeit innerstaatlicher Befriedigung führt in kritischen Situationen dazu, dass der Staat als politische Einheit von sich aus, solange er besteht, auch den 'inneren Feind' bestimmt«. In allen Staaten gäbe es »deshalb in irgendeiner Form […] schärfere oder mildere, ipso facto eintretende oder auf Grund von Sondergesetzen justizförmig wirksame, offene oder in generellen Umschreibungen versteckte Arten der Ächtung, des Bannes, der Proskription, Friedloslegung, hors-la-loi-Setzung, mit einem Wort, der innerstaatlichen Feinderklärung« (Schmitt, 1963 [1932]: 46f.).
Die Definition des Feindes, seine Markierung und Bekämpfung wird damit zum zentralen Merkmal staatlicher Herrschaft. »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet« (ebd.). Jakobs hingegen hält zwar bereits 1985 in der oben zitierten, noch liberal inspirierten Diagnose des Feindstrafrechts ein solches »als ein ausnahmsweise geltendes Notstandsstrafrecht« für »legitimierbar«. Doch weder damals noch in seinen heutigen Abhandlungen geht Jakobs theoretisch und praktisch näher auf die Voraussetzungen und den Umfang des Notstandes und der Ausnahme ein. Er integriert diese beiden aus dem Staatsrecht stammenden Kategorien vielmehr in sein strafrechtliches Konzept, ohne auch nur den geringsten Hinweis auf rechtliche und politische Verfahren zur Bestimmung des Notstandes und der Ausnahme zu liefern.
Ihre Reichweite wird ebenso wenig erläutert wie die Kompatibilität dieser Begriffe mit dem Strafrecht. Mögliche Hindernisse wie die durch das Grundgesetz verbürgte Menschenwürde und die in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierte Unschuldsvermutung werden bei ihm nicht abgehandelt. Die neben schwerwiegenden grundsätzlichen Bedenken eigentlich spannende Frage, wann von wem in welchem Verfahren bestimmt wird, ob und mit welchen Konsequenzen Feind- oder Bürgerstrafrecht angewandt werden soll, überlässt Jakobs seinen Interpreten.
IV. Quare siletis juristiae in munere vestro?5
Welche Folgen diese entscheidende Leerstelle im Konzept »Feindstrafrecht« hat, zeigt ein Blick auf die Schriften des italienischen Philosophen Giorgio Agamben. Dieser hat in seinem »Homo Sacer«-Projekt (Agamben, 2002) den Versuch unternommen, die »paradoxe Situation« des Ausnahmezustandes zu analysieren:
»Wenn Ausnahmevorkehrungen tatsächlich die Folge politischer Krisenperioden sind und sie deshalb auf dem Gebiet der Politik und nicht auf juristischem oder verfassungsmäßigen Boden als solche begriffen werden, dann finden sie sich in die paradoxe Situation gestellt, dass sie rechtliche Vorkehrungen sind, die auf der Ebene des Rechts nicht begriffen werden können, und der Ausnahmezustand zeigt sich dann als die legale Form dessen, was keine legale Form annehmen kann« (Agamben, 2004: 7).
Agamben rekonstruiert historisch die in den Notstandsgesetzen verankerte Ununterscheidbarkeit von Recht und Gewalt. Sie ermöglichen - nicht selten qua Verfassung - eine Suspendierung der regulären Rechte. Agamben legt dar, warum der Ausnahmezustand, der eine zentrale Rolle zur Herrschaftssicherung spielt und zunehmend zur Normalität werde, »eine Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Absolutismus« darstellt (Agamben, 2004: 9). »Weil der Bürgerkrieg das Gegenteil des Normalzustandes ist, befindet er sich hinsichtlich des Ausnahmezustandes - als der unmittelbaren Antwort der Staatsgewalt auf schwerste innere Konflikte - in einer Zone der Unentscheidbarkeit.« Anhand der von Adolf Hitler am 28. Februar 1933 erlassenen Notverordnung »zum Schutze von Volk und Staat« zieht er den Schluss, der »moderne Totalitarismus [kann] definiert werden als die Einsetzung des legalen Bürgerkrieges, der mittels des Ausnahmezustandes die physische Eliminierung nicht nur des politischen Gegners, sondern ganzer Kategorien von Bürgern gestattet, die, aus welchen Gründen auch immer, als ins politische System nicht integrierbar betrachtet werden. Seither ist es für die Staaten der Gegenwart zu einer wesentlichen Praxis geworden, willentlich einen permanenten Notstand zu schaffen. Angesichts der unaufhaltsamen Steigerung dessen, was als 'weltweiter Bürgerkrieg' bestimmt worden ist, erweist sich der Ausnahmezustand in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens. Diese Verschiebung von einer ausnahmsweise ergriffenen provisorischen Maßnahme zu einer Technik des Regierens droht die Struktur und den Sinn der traditionellen Unterscheidung der Verfassungsformen radikal zu verändern - und hat es tatsächlich schon merklich getan« (Agamben, 2004: 8, Hervorh. im Orig.).
Agamben liefert damit einen theoretischen Ansatz zur Analyse einer weltweiten Entwicklung, die nicht erst am 11. September 2001 einsetzte, seitdem aber an Geschwindigkeit gewonnen hat. Das Beispiel des exterritorialen Gefangenenlagers Guantánamo drängt sich genauso auf, wie die permanente Notstandsregierung in vielen Staaten der Peripherie, die durch die »Terrorbekämpfung« neuerlich eine vermeintliche Legitimation erfahren hat.
V. Feindrecht in der Praxis
Öffnet man die Perspektive dieserart auf internationale Veränderungen, so zeigt sich, dass das Konzept »Feindstrafrecht« durch die Entwicklungen und Diskussionen seit dem 11. September 2001 möglicherweise bereits überholt ist.
Für die Bundesrepublik Deutschland ist die Tendenz »Vom Rechtstaat zum Sicherheitsstaat« (Bernhard Haffke), zum »Bekämpfungsstaat« - unabhängig von den Terrorismus-Diskussionen - von zahlreichen Autoren konstatiert worden. Bernhard Haffke beispielsweise benennt anlässlich der Betrachtung der Sicherungsverwahrung und des Sexualstrafrechts als aktuelle Trends die Entwicklung des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit sowie die Zunahme von »Umfang und Intensität, Reichweite und Tiefenwirkung der strafrechtlichen Sozialkontrolle« (Haffke, 2005: 17ff.). Sicherheitsstaatliche Tendenzen waren darüber hinaus seit den frühen 1990er Jahren bei der Bekämpfung der so genannten Organisierten Kriminalität, der Drogenkriminalität u.a. zu beobachten. Die diversen Gesetzespakete des damaligen Innenministers Otto Schily nach den Anschlägen von New York und Washington im September 2001 lassen eindrucksvoll die Abkehr von den rechtstaatlichen Kategorien des Tatverdachts im Strafprozessrecht und der Gefahr im Polizeirecht als Anknüpfungspunkt für repressive und präventive staatliche Eingriffe sowie deren Ersetzung durch die Topoi der »Bekämpfung« und der »Erhöhung der Sicherheit« erkennen.
Alle diese Entwicklungen ließen sich hinsichtlich des Strafrechts noch mit den Jakobs'schen Kategorien erfassen und als feindstrafrechtliche Elemente in einem Bürgerstrafrecht diagnostizieren. Doch parallel sind staatliche Eingriffe in ganz anderen Rechtsgebieten für die Betroffenen von wesentlich größerer Bedeutung, als es ein möglicherweise dazu- oder daneben laufendes Strafverfahren ist. So entwickelte sich das Ausländer- und Asylrecht mit seinen zahlreichen auf Terrorismusabwehr bezogenen Ausnahmetatbeständen mehr und mehr zu einem Teilgebiet des Polizeirechts. Bei zahlreichen Demonstrationen verschiedener sozialer Bewegungen in Deutschland (Castor-Transporte im Wendland, Münchener Sicherheitskonferenz, 1. Mai in Berlin) wurden Freiheitsentziehungen zur Gefahrenabwehr nach Polizeirecht gegenüber einer großen Personenzahl durchgeführt. Demgegenüber waren nachträgliche strafrechtliche Sanktionen von untergeordneter Bedeutung. Gegenüber Angehörigen der »globalisierungskritischen« Bewegung wurden darüber hinaus polizeirechtliche Instrumente wie Ausreiseverbote und Passbeschränkungen zur Vermeidung der Teilnahme an im EU-Ausland stattfindenden Demonstrationen eingesetzt, ohne dass Strafverfahren gegenüber diesen Gruppen eine Rolle spielten.
In den letzten Jahren gaben die Bundesinnenminister in Deutschland zunehmend den Ton in der Rechtspolitik an. Ihre Äußerungen im Zusammenhang mit feindrechtlichen Maßnahmen verdeutlichen den teilweisen Abschied von den Formen und Verfahrensgarantien des Strafrechts und die Hinwendung zum Polizeirecht bei zunehmender Auflösung des Gefahrbegriffes bzw. Verzicht auf die Konkretheit der Gefahr.
Feindrecht soll nach dem erklärten Willen der beiden Amtsträger Otto Schily und Wolfgang Schäuble nicht als (Feind)Strafrecht, sondern als Polizeirecht praktiziert werden. Schily bspw. führte in einem Interview aus, dass das Wissen, »dass eine Person in einem Ausbildungslager in Afghanistan war, […] dass sie Verbindungen zu bin Laden hat, […] meist noch nicht für ein Ermittlungsverfahren« ausreicht« (Süddeutsche Zeitung, 3. August 2005). Auf die Gegenfrage, »Strafhaft ohne Schuldnachweis?«, stellt Schily klar: »Es geht nicht um Strafhaft, sondern um vorübergehende Freiheitsbeschränkung, wenn eine tödliche Gefahr für die Gesellschaft nicht auf andere Weise abgewendet werden kann«. Auf die Nachfrage, ob diese Reaktion nicht ein »Sonderstrafrecht, Feindstrafrecht« sei, entgegnet Schily: »Nein, nochmals, es geht nicht um Strafrecht, es geht um Polizeirecht, um Vorbeugung angesichts von Gefahren, die ganz anders sind als bei gewöhnlicher Kriminalität. Wir haben die Ausbildungslager in Afghanistan mit militärischen Mitteln vernichtet. Wir haben dort polizeiliche Ziele mit militärischen Mitteln erreicht. Wir werden die Begriffe und Regeln für die Auseinandersetzung mit diesem internationalen Terrorismus noch finden müssen, wenn wir unsere Bürger ausreichend schützen wollen« (ebd.). In einem Interview zum selben Thema erkennt der amtierende Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble nicht nur an, dass eine Ausweitung bestimmter Straftatbestände bei Terrorismusgefahr wünschenswert sei und man im Ausländerrecht »mehr Spielraum« habe. Er verweist ausdrücklich darauf, dass man sich nach dem 11. September im Kriegs- und Kriegsfolgenrecht befände (Süddeutsche Zeitung, 16. Dezember 2005).
Viele der in Deutschland nur angedeuteten Entwicklungen hin zu einem Feindrecht sind in der unter dem Begriff des »War on Terror« gefassten Politik der USA bereits vorweggenommen; oder, wie Hauke Brunkhorst (2005: 75) formuliert: »Amerikas Gegenwart ist immer noch unsere Zukunft.« Mit hochemotionalen Argumenten und teilweise religiösen Kategorien (Gut/Böse, Teufel) wird der Boden für eine weitgehende Verabschiedung von nationalen und internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen geschaffen. Internationale Terroristen gelten als Outlaws von heute, die weder rechtlichen Schutz durch nationale Strafverfahrensrechte mehr genießen, noch durch die Genfer Konventionen zum Schutz von Kriegsgefangenen und der UN Anti-Folter-Konvention geschützt sind. In diesem Zusammenhang müssen neben den Gefangenenmisshandlungen die wachsende Zahl ziviler Todesopfer durch die Militarisierung polizeilicher Praxis mit so genannten chirurgischen Schlägen sowie die von israelischen und US-amerikanischen Geheimdienstkommandos praktizierte Methode des »targeted killing«, des gezielten Tötens von als Feinden angesehenen Personen außerhalb eines militärischen Konfliktes, gesehen werden. Auch die ausufernde, akademisch angeleitete, politisch angeordnete, zumindest tolerierte und durch Militärs und Geheimdiensten angewandte Folterpraxis muss zum Gegenstand einer Debatte über das Feindrecht werden. Ansonsten können politische Entscheidungsträger wie der oben zitierte ehemalige Bundesinnenminister Schily und die Bundesjustizministerin Brigitte Zypries weiterhin verbal die Existenz und die Notwendigkeit eines Feindstrafrechts verneinen, weil die tatsächliche Bekämpfung von als Feinden gekennzeichneten Personen nicht in den mehr oder weniger regulierten Formen des Strafverfahrens geschieht, sondern außerhalb desselben vorgenommen wird. Brigitte Zypries bringt diese Aufgabenteilung zwischen dem gehegten Strafprozess und einer grenzenlosen Terrorismusbekämpfung durch Polizei, Geheimdienste und Militärs auf den Punkt. Sie führt aus, dass im Strafprozess die durch Folter gewonnenen Informationen tabu bleiben sollen, aber »Geheimdienste […] solche Aussagen zur Gefahrenabwehr wohl verwenden [werden] müssen« (Die Zeit, 26. Januar 2006). Strafrechtswissenschaft und -praxis sollten diese feindrechtliche Theorie und Praxis mit in die Betrachtung aufnehmen, sonst erfüllt sich, was Klaus Lüderssen in einem anderen Zusammenhang befürchtete, dass man sich nämlich im nationalen Strafrecht die »feine Ware« erhalte und dafür bereit sei, »den Preis einer andernorts herrschenden Regellosigkeit zu zahlen« (Frankfurter Rundschau, 28. Januar 2002).
* Für die kritische Durchsicht dieses Textes und ihren Anmerkungen habe ich Professor Jörg Arnold, Erwin Single und Thomas Uwer zu danken.
1 Vgl. die Dokumentation der Veranstaltung www. rav.de/infobrief95.htm, Fritz Sack, Feindstrafrecht, S. 9.
2 Vgl. zur Reaktion auf den Vortrag insgesamt Schünemann, 2001: 205ff., 210ff.
3 Siehe vor allem: Schmitt, 1963 [1932].
4 Vgl. die Nachweise bei Sack, S. 13 (Fn. 1).
5 Warum schweigt ihr Juristen in Ausübung eures Dienstes?