Die vergessenen Opfer des Kalten Krieges
Hermann G. Abmayr
Walter Timpes Augen bewegen sich unruhig hin und her. Der 75-Jährige sitzt in einer Gefängniszelle, vor ihm liegen Prozessunterlagen. Er gibt ein Interview. Hier, in der niedersächsischen Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel, musste er vor fünfzig Jahren eine einjährige Haftstrafe absitzen – wegen einiger Artikel, die er als verantwortlicher Redakteur bei der "Neuen Niedersächsischen Volksstimme" veröffentlicht hatte. Als er aus der Haft entlassen wurde, existierte die Tageszeitung der KPD nicht mehr. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Kommunistische Partei am 17. August 1956 verboten und damit auch all ihre Publikationen.
"Nicht einmal meine eigene Zeitung durfte ich in der Zelle lesen", empört sich Walter Timpe noch heute. Der damals 23-jährige Journalist aus Hannover hatte es gewagt, Artikel gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik, den Westkurs von Bundeskanzler Konrad Adenauer und die Nazivergangenheit einiger seiner Minister zu veröffentlichen. Und er hatte das Verbot der kommunistischen Jugendorganisation FDJ (Freie Deutsche Jugend) kritisiert. Daraus konstruierte die Anklage Rädelsführerschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung, Beihilfe zur Geheimbündelei in verfassungsfeindlicher Absicht sowie Verunglimpfung von Staatsorganen in Tateinheit mit Beleidigung. Der Redakteur, so der Vorwurf, habe den Bundeskanzler und einige seiner Minister beleidigt, unter anderen den wegen seiner Nazivergangenheit umstrittenen Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer.
Bei seinem Prozess vor der politischen Sonderstrafkammer am Landgericht Lüneburg hatte es Timpe ausgerechnet mit zwei ehemaligen Nazijuristen zu tun, mit dem Staatsanwalt Karl-Heinz Ottersbach und dem Vorsitzenden Richter Konrad Lenski. Ottersbach, stellt Timpe noch heute mit erregter Stimme fest, sei im Dritten Reich einer der übelsten Richter gewesen. "Der war Vorsitzender des Sondergerichts in Kattowitz, also in Polen, und hatte eine ganze Serie von Todesurteilen zu verantworten." Um ein Todesurteil durchzusetzen, habe er einmal sogar beantragt, die Polengesetze der Nazis, denen zufolge Polen härter bestraft werden konnten als andere Personengruppen, rückwirkend anzuwenden. Und Lenski war unter den Nazis Feldgerichtsrat in Straßburg gewesen. Timpe: "Der war der Henker des gaullistischen Widerstandes in Elsass-Lothringen. Der hat es fertig gebracht, Behinderte zum Schafott tragen zu lassen." Es war Lenski, der Timpe zu einem Jahr Gefängnis verurteilte – ohne Bewährung, wie damals üblich. Außerdem durfte Timpe für die Dauer von drei Jahren nicht mehr als verantwortlicher Redakteur arbeiten. Adenauer und die anderen angeblich beleidigten Minister befugte das Gericht, "die Verurteilung des Angeklagten wegen Beleidigung auf seine Kosten durch einmaliges Einrücken in die Zeitungen Die Welt und Die Wahrheit öffentlich bekannt zu machen". Walter Timpe war nicht der einzige Redakteur, der in der jungen Bundesrepublik wegen seiner Gesinnung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. "Es waren neun Kollegen betroffen", sagt er. "Für mich ein gravierender Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung – Jahre vor der Spiegel-Affäre."
Wie viele Linke in den fünfziger und sechziger Jahren wegen ihrer Gesinnung in westdeutschen Gefängnissen saßen, ist unbekannt. Schätzungen gehen von 6.000 bis 10.000 Verurteilten aus. Die höchste Strafe erhielt der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete Jupp Angenfort aus Düsseldorf: fünf Jahre Zuchthaus wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Gegen mindestens 125.000 Bürger leitete die westdeutsche Staatsanwaltschaft in den fünfziger und sechziger Jahren Ermittlungsverfahren ein. "Viele verloren deshalb ihren Arbeitsplatz oder ihre Wohnung", erinnert sich Walter Timpe, "selbst wenn das Verfahren später eingestellt wurde." Auch Timpe fand nach der Haftentlassung keine Anstellung mehr in seinem Beruf. So arbeitete er zunächst als Hilfsarbeiter. Es schmerzt ihn noch heute, dass er wiederum aus politischen Gründen keinen Studienplatz an der pädagogischen Hochschule bekam. Sogar den Führerschein hatte man dem leidenschaftlichen Motorradfahrer wegen politischer Unzuverlässigkeit zeitweise entzogen. Und das Jugendamt wollte seine Verlobte davon abhalten, den politischen Straftäter zu heiraten. "Doch wir sind noch heute zusammen", sagt Timpe und lacht.
Nicht wenige der Verurteilten saßen bereits unter Hitler in Gefängnissen oder im KZ. Die meisten sind heute längst tot. "Aber rehabilitiert wurden sie nie", empört sich Walter Timpe. Erst vor wenigen Tagen sei der letzte Überlebende in Niedersachsen beerdigt worden, der frühere Landtagsabgeordnete Kurt Baumgarte. Der Volksgerichtshof hatte ihn zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. "Kurt Baumgarte und seine Genossen haben den Widerstand gegen die Nazis gemacht. Er gehörte 1945 zu den Siegern der Geschichte, stand in der Tradition der Alliierten und war am Aufbau unseres Landes beteiligt." Doch Mitte der sechziger Jahre saß der damals 44-Jährige erneut wegen seiner politischen Aktivitäten für die KPD ein. Das Landgericht Lüneburg verurteilte ihn zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und zehn Monaten. Zudem wurde ihm für drei Jahre die Wählbarkeit aberkannt und die Bekleidung öffentlicher Ämter untersagt. Nicht einmal eine vorzeitige Entlassung wegen guter Führung bewilligte man dem gelernten Grafiker. In der Begründung unterstellte die Staatsschutzkammer Lüneburg, dass Baumgarte, weil er schon in der Nazizeit Kommunist war, vermutlich weiterhin aktiv sein würde. Es könne also nicht erwartet werden, "dass der Verurteilte in Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen wird".
Das Urteil stammt vom Juli 1967, aus einer Zeit also, in der Rechtspolitiker aller Parteien in Bonn längst über eine Reform des politischen Strafrechts diskutierten. Beschlossen wurde das 8. Strafrechtsänderungsgesetz dann 1968 unter Bundesjustizminister Gustav Heinemann. Nur wenige Abgeordnete stimmten dagegen. Zu einer Wiederzulassung der KPD konnten sich die Politiker nicht durchringen. Sie gestatteten dafür die Neugründung einer kommunistischen Partei, die sich dann das Kürzel DKP gab. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich mit dem KPD-Verbot vom 17. August 1957 sehr schwer getan und dafür mehrere Jahre Zeit benötigt. Es beschränkte sein Urteil auf die Zeit bis zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Doch da die DDR dann 1990 der Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist, besteht das Urteil noch heute. Einmalig in Europa.
Walter Timpe will sich damit und mit den vielen politisch motivierten Urteilen der fünfziger und sechziger Jahre nicht abfinden. "Wenn Unrecht in der ehemaligen DDR aufgedeckt und wieder gutgemacht wird, dann begrüße ich dies. Ich verlange aber gleiches Recht für alle." Auch die Urteile der Opfer des Kalten Krieges im Westen müssen seiner Meinung nach aufgehoben und die erlittene Haftzeit entschädigt werden.
Aber keine der Nach-Wende-Regierungen wollte sich mit dem Thema ernsthaft befassen. Nur die letzte rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen war zu einer bisher einmaligen Geste bereit. Justizminister Christian Pfeiffer empfing die Mitglieder der Initiativgruppe Opfer des Kalten Krieges Niedersachsen Anfang 2003 im Gästehaus der Landesregierung und ergriff Partei für die Verurteilten:
"Wir wissen heute, dass die politischen Prozesse der frühen Bundesrepublik nach den geltenden rechtsstaatlichen Maßstäben undenkbar wären. So etwas erlauben weder unsere strafrechtlichen Normen, noch würden handelnde Personen in der Justiz das mittragen". Auch Haftstrafen wie die gegen den Redakteur Walter Timpe, "der kritische Beiträge gegen die Politik der Adenauer-Regierung verfasst hatte", seien "heute kaum noch vorstellbar". Die Rede des damaligen niedersächsischen Justizministers hat Timpe gut getan. Sie bestärkte ihn darin, weiter für die Rehabilitierung seiner Genossen zu streiten. Kürzlich trat er als Zeitzeuge bei einer Anhörung der Linkspartei im Reichstagsgebäude auf.
Und im November wird er im Senatssaal der Humboldt-Universität in Berlin vor Juristen sprechen – fünfzig Jahre nach seinem Aufenthalt in der Gefängniszelle von Wolfenbüttel.
Der Autor und Filmemacher Hermann G. Abmayr hat eine Dokumentation mit dem Titel "Als der Staat rot sah – Justizopfer im Kalten Krieg" erstellt.
* Der Artikel erschien erstmals in der Wochenendbeilage der Stuttgarter Zeitung, Samstag, 12. 08. 06.