Berliner RZ-Prozess: Gesinnungsurteil auf Grundlage eines fragwürdigen Beweismittels
Willfähiger Kronzeuge
Der Betreiber zweier Fitness-Studios in Berlin geriet angeblich 1998 ins Visier der Ermittler. Im Oktober 1999 hatte die BAW die Festnahme Mouslis als großen Schlag gegen die RZ gefeiert. Im April 1999 war Mousli das erste Mal festgenommen worden, im Mai das zweite Mal. Bis Anfang Juli blieb er in Haft. Der Vorwurf: Unterstützung einer "terroristischen Vereinigung" und unerlaubter Sprengstoffbesitz. Wie im Verlauf der Hauptverhandlung bekannt wurde, hatten BKA und BAW von Anfang an Mousli das Angebot gemacht, sich als Kronzeuge zu verdingen. Ende Juli 1999 erhöhten sie den Druck. Zu jenem Zeitpunkt wurde Mousli von einer ehemaligen Lebensgefährtin schwer belastet. Carmen T. berichtete den Ermittlern, Mousli habe ihr erzählt, dass er 1987 auf die Beine des Asylrichters Günther Korbmacher geschossen habe. Ebenso habe er von seiner Beteiligung an dem Sprengstoffanschlag auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber im selben Jahr gesprochen. Die BAW hielt diese Aussage damals für so glaubwürdig, dass sie Carmen T. anbot, sie ins Zeugenschutzprogramm des BKA aufzunehmen. Doch alles kam anders: Statt Carmen T. wurde Mousli selbst, der "mutmaßliche Chef der Terrorgruppe" (Berliner Kurier), unter den Schutz der BKA-Zeugenschützer gestellt.
Nach seiner dritten Verhaftung im November 1999 begann Mousli gegenüber den BKA-Ermittlern umfangreiche Aussagen zu machen. Der Karatelehrer redete über alles, was er aus seiner Zeit in der Westberliner autonomen Szene der 1980er Jahre und aus seiner Zeit bei der Berliner RZ wusste - und dichtete noch vielmehr dazu. Zuvor war es auf seinen Wunsch zu einem denkwürdigen Gespräch mit einem Vertreter der Bundesanwaltschaft gekommen, das laut Vermerk von Bundesanwalt Monka so verlief:
"Im ungünstigen Fall, so erklärte ich ihm, hätte er mit umfangreichen Ermittlungen, einer langen Ermittlungsdauer und einer langen Hauptverhandlung zu rechnen, bei der eine mehrjährige Freiheitsstrafe zu erwarten wäre (...) Auf der anderen Seite gebe es den günstigsten Fall, der dann verwirklicht wäre, wenn er ein Geständnis ablegen würde, wenn es zu einer schnellen Hauptverhandlung kommen würde und wenn er Aufklärungshilfe liefern würde im Sinne der Kronzeugenregelung, die zum Jahresende ausläuft. Die Aufklärungshilfe müsste in diesem Fall dahin gehen, dass die Ermittlungsbehörden durch ihn weiterer Täter habhaft werden könnten. Ich sprach in diesem Zusammenhang von so genannten 'Knüllern'. In einem solchen Fall, stellte ich ihm dar, könnte es vielleicht möglich sein, im Frühsommer 2000 eine Hauptverhandlung beim Kammergericht in Berlin durchzuführen. Dies setzte natürlich voraus, dass das Kammergericht die Dinge ähnlich sieht. Es sei auch eine Strafmaßreduzierung bis auf eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden könnte, möglich. In einem solchen Fall könnte er den Gerichtssaal als freier Mann verlassen. Weiterhin wäre es sicher möglich, den Beschuldigten und seine Lebensgefährtin in das Zeugenschutzprogramm des Bundeskriminalamtes aufzunehmen." Bundesanwalt Monka hatte nicht zu viel versprochen: Der 2. Strafsenat des Kammergerichts sah die Dinge ähnlich. Zwar nicht im Frühsommer, jedoch im Dezember 2000 verurteilte es den Kronzeugen zu einer zweijährigen Haftstrafe auf Bewährung. Auch die Karlsruher Anklagebehörde hielt sich an ihr Angebot: Mousli befindet sich seit seiner Entlassung aus der U-Haft im April 1999 im Zeugenschutzprogramm des BKA, wird mit mindestens 1.200 Euro monatlich staatlich alimentiert und wurde mit einer neuen Identität ausgestattet. Und auch der Kronzeuge hielt sich an die Vereinbarung: Er lieferte die von Bundesanwalt Monka verlangten "Knüller".
Wissen vom Hörensagen
Die Frage, inwieweit Mousli dabei von den Ermittlungsbehörden unterstützt, gefördert und mit Informationen gespickt wurde, stellte sich das Gericht nicht, obwohl man von einem rechtsstaatlichen Verfahren hätte erwarten dürfen, dass die Aussagen des Zeugen der Anklage kritisch überprüft und in Verbindung mit anderen Erkenntnissen abgewogen würden. Zumal selbst das Verwaltungsgericht (VG) Berlin, das von der Verteidigung angerufen wurde, weil Gesprächsprotokolle zwischen dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und dem Kronzeugen den Prozessbeteiligten vorenthalten worden waren, festgestellt hatte, "dass eine bestimmte Vernehmungsweise quasi Geschäftsgrundlage" bei den Gesprächen zwischen dem BfV und Mousli gewesen sei, "die naturgemäß zu einer Veränderung der Aussageinhalte geführt haben muss". Dem Erinnerungsvermögen Mouslis sei, so die VG-Richter, mit "unterstützender Hilfe" auf die Sprünge geholfen worden, als ihm unter anderem Namen und Fotos "seitens der Vernehmenden vorgenannt" wurden. Es könne deshalb "nicht ernstlich bezweifelt werden, dass der dem Zeugen für seine Aussagen zur Verfügung stehende Kenntnisstand einer bestimmten 'Entwicklung' unterworfen war". Dass hatte selbst Mousli während seiner Gespräche mit dem BfV zugegeben:
"Vertrauen Sie nicht auf mein Gedächtnis. Das ist katastrophal! Aber wenn ich Bilder sehe oder wenn Sie Namen sagen, dann kommt es schon wieder."
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass während der Hauptverhandlung erstaunliche Dinge zu Tage getreten sind, die ein bezeichnendes Licht auf die Ermittlungsmethoden von BKA und BAW warfen. So sind unzählige Ungereimtheiten in der Kronzeugenvita und -aussage offenbart worden, die sehr wohl die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Kronzeugen aufwerfen.
Über Mouslis Leben nach seinem Rückzug aus der autonomen Szene Anfang der 1990er Jahre ist wenig bekannt. Bekannt ist, dass der im Libanon geborene Mousli 1997 eingebürgert wurde. Anfang der 1990er Jahre war ihm das noch versagt worden, wegen seiner linksradikalen Vergangenheit und seiner Kontakte zu politischen Gefangenen. Warum Ende der 1990er Jahre die Behörden seinen Einbürgerungsantrag positiv beschieden, ist bis heute nicht geklärt.
Klar ist jedoch, dass der Karatelehrer in arger finanzieller Bedrängnis seine Fitness-Studios betrieb und horrende Schulden hatte. Klar ist auch, dass die Ermittlungsbehörden diese Situation für ihre Sache zu nutzen wussten. Systematisch setzen sie Mousli unter Druck: So sorgten sie z.B. dafür, dass seine Anstellung beim Deutschen und Berliner Karateverband gekündigt wurden.
Das Gericht hat an einer Aufklärung dieser Fragen kein Interesse gezeigt. Zwar hat es zu Beginn der Hauptverhandlung erklärt, es wolle die Hintergründe klären, die zur Kronzeugenaussage geführt haben. Ernsthaft ist dies aber nie geschehen, vielmehr sprang das Gericht dem Kronzeugen immer dann zur Seite, wenn dieser sich zu sehr in Widersprüche verstrickte oder mangelndes Erinnerungsvermögen vorschob. Auch die veritable Falschaussage eines BKA-Beamten blieb ohne Folgen. Ebenso hat der Senat hingenommen, dass die Sitzungsvertreter der Generalbundesanwaltschaft sich als eigentliche Herren des Verfahrens gebärdeten. Auch wenn die Verteidigung zurückgehaltenes oder manipuliertes Beweismaterial nachweisen konnte, die BAW konnte immer mit dem Segen des Gerichts rechnen.
Und so bleiben auch nach drei Jahren die Beweisaufnahme vieler Vorgänge ungeklärt. Als exemplarisch dafür darf gelten, wie man angeblich auf die Spur des Kronzeugen gekommen sei: Wegen des Diebstahls von Sprengstoff aus seinem Keller im Jahr 1995, den er im Auftrag seiner ehemaligen RZ-Mitstreitern aufbewahrt haben will. Die Diebesbeute wurde bei einem Kreuzberger Kleinkriminellen sichergestellt. Obwohl das Landeskriminalamt Berlin das BKA unmittelbar per Sprengstoffsofortmeldung von dem Sprengstofffund informierte, passierte (angeblich) drei Jahre lang nichts. Erst im November 1997 habe das BKA den Zusammenhang zwischen diesem Sprengstoff und den RZ hergestellt. Gleichzeitig wurde durch die Verteidigung jedoch nachgewiesen, dass mehrere BKA-Dienststellen 1995 und 1996 diese Sofortmeldung in den Händen gehalten haben.
Das Dilemma der Anklage
Aber auch seine Beschuldigungen gegenüber den Angeklagten selbst, standen auf tönernen Füßen. Wie selbst die BAW und das Gericht eingestehen mussten, bestand bei den RZ ein striktes Abschottungsprinzip. Die Militanten der verschiedenen Gruppen kannten sich nicht, intern wurden Decknamen benutzt. Nun sollen nach Mouslis Angaben aber im fraglichen Zeitraum zwei - den Regeln der Gruppe entsprechend von einander unabhängige - "Revolutionäre Zellen" in Berlin aktiv gewesen sein. Die eine Zelle habe aus den Angeklagten Axel H. und Matthias B. sowie einem bislang unbekannt gebliebenen Mitstreiter mit dem Decknamen "Toni" bestanden. Die andere Zelle soll sich laut Mousli aus den Angeklagten Sabine E., Rudolf Sch., Harald G., ihm selbst und dem gesondert verfolgten Lothar E. zusammengesetzt haben.1
Mousli hatte angegeben, einen Teil der Angeklagten während seiner aktiven Zeit bereits unter ihrem richtigen Namen gekannt zu haben; andere habe er erst auf Lichtbildern des BKA identifiziert. Außerdem behauptete er, bei zwei Gelegenheiten alle aktiven Mitglieder der beiden Berliner RZ-Gruppen gesehen zu haben - beim Anschlag auf die ZSA und bei einem gemeinsamen "Waldspaziergang" Ende der 1980er Jahre, auf dem über die weitere politische Perspektive der RZ diskutiert worden sein soll. Nach Angaben der Angeklagten Sabine E. und Rudolf Sch. hat es allerdings diesen "Waldspaziergang" nie gegeben, ebenso sei der Anschlag auf die ZSA nur von Rudolf Sch. und Mousli selbst durchgeführt worden.
Bei der Verurteilung der Angeklagten hat ebenso keine Rolle gespielt, dass der von Mousli beschriebene Aufbau des Sprengsatzes, der beim Anschlag auf die ZSA zur Verwendung kam, nach Aussage von BKA-Experten nicht diese Sprengwirkung hätte entfalten können. Es hat keine Rolle gespielt, dass trotz zweimaliger intensiver Suche im MehringHof kein RZ-Waffen- und Sprengstoffdepot gefunden wurde. Es hat keine Rolle gespielt, dass der Sprengstoff, den Mousli 1995 in einem Seegraben im Norden Berlins entsorgt haben will, nach Aussage von Gutachtern dort nie so lange gelegen haben könne, usw., usf..
Auch die zahlreichen nachgewiesenen Falschbehauptungen des Kronzeugen waren für den Senat offensichtlich unerheblich. So behauptete Mousli, Harald G. sei am Anschlag auf die ZSA beteiligt gewesen. Falsch, Harald G. befand sich zu diesem Zeitpunkt in Polizeigewahrsam. Mousli behauptet, auf Harald Hollenberg habe Rudolf Sch. geschossen. Falsch, denn während der Hauptverhandlung gestand die Zeugin Barbara W., sie habe geschossen. Mousli behauptete, er habe beim Anschlag auf Günther Korbmacher den Polizeifunk abgehört. Rudolf Sch. dagegen hat ausgesagt, dass Mousli das Motorrad gefahren habe, von dem aus auf Korbmacher geschossen wurde. Unerheblich auch, dass Sabine E., Rudolf Sch., die sich beide als RZ-Militante bekannten, und Axel H., der Unterstützungsleistungen eingestand, in ihren Einlassungen in weiteren Punkten der Version des Kronzeugen widersprochen haben. Unerheblich auch, dass Rudolf Sch. erklärt hat, er und Sabine E. hätten sich nach dem Knieschussattentat auf Korbmacher 1987 entschlossen, "die Arbeiten mit und in den Revolutionären Zellen zu beenden". Sie hätten die übrigen "Beteiligten" aufgefordert, "die gleiche Konsequenz zu ziehen". Sabine E. ergänzte: "In der Zeit von Ende 1987 bis zu unserem Weggang aus Berlin 1990/91 hat es in Berlin keine Revolutionäre Zelle(n) gegeben." Für das Kammergericht war dies alles ohne Belang. Die Sache sah für den Senat ganz einfach aus: Drei der Angeklagten, Sabine E., Rudolf Sch. und Axel H., hatten sich als RZ-Militante geoutet. Galt für den Kronzeugen absolute Glaubwürdigkeit, waren die Angeklagten generell unglaubwürdig und ihre Aussagen interessengeleitet. Obwohl alle drei den Aussagen des Kronzeugen in Kernbereichen widersprochen hatten, betont der Senat, wesentliche Teile der Anklage und die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen seien dadurch "erhärtet worden". Die Angeklagten hätten lediglich "das Mindeste und nicht Bestreitbare zugegeben. Dieses Taktieren hat den Angeklagten mehr geschadet als genutzt."
Auflösung einer terroristischen Vereinigung
Aber warum sollte ein Senat, der nicht gewillt ist, sich der Kronzeugenproblematik zu stellen, auch Zweifel haben, die zentrale Strafnorm des politischen Sonderrechts anzuwenden? Hat es doch auch in diesem Verfahren seine, rechtsstaatlichen Prinzipien entgegenstehenden Wirkungen vollkommen entfaltet. Oder in den Worten von Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck:
"So haben die Anwendung des § 129a StGB und der prozessualen Sondervorschriften im hiesigen Prozess viel Unheil angerichtet: Sie schufen seit Beginn des Verfahrens eine der Verurteilung dienliche Atmosphäre, in der ein offenes und faires Verfahren kaum denkbar war, sorgten mit dafür, dass die Angeklagten rechtswidrig lange in Untersuchungshaft saßen, ein erhebliches, wenn nicht entscheidendes Präjudiz für das gesamte Verfahren, und beeinflussten schließlich ... den Verfahrensausgang auch inhaltlich enorm."
Würden die eigenen rechtsstaatlichen Grundsätze ernst genommen, wäre eine Verurteilung nach den ursprünglichen Anklagepunkten unmöglich. Im Wesentlichen beruhen die Aussagen Mouslis auf Hörensagen, dort, wo er angebliches Täterwissen offenbarte, erwies es sich als falsch oder allgemein zugänglich. Im Kern blieben deshalb für eine Verurteilung nur biografische Gemeinsamkeiten und die politische Gesinnung der Angeklagten, die bereits in der Anklage konsequent für eine angebliche RZ-Mitgliedschaft herangezogen worden waren und zur Stütze der Anschuldigungen des Kronzeugen mutierten. Denn bei allen von Mousli Beschuldigten handelt es sich um langjährige linke Aktivisten, die seit den 1970er Jahren politisch aktiv waren. Zum Teil bewegten sie sich im kulturellen Umfeld der linksradikalen Szene Westberlins und kannten sich untereinander. So besuchten etwa Matthias B. und Harald G. zusammen eine Berufsschule und waren zeitgleich in den 1970er Jahren in derselben Firma beschäftigt. Trotz fehlender konkreter Beweise für irgendeine Beteiligung an RZ-Aktionen war das Kammergericht gewillt, sich der Interpretation der Karlsruher Anklagevertreter anzuschließen, dass dies hinreichende Beweise seien.
Aber in solchen Verfahren kommt es auf die Schlüssigkeit der Beweisführung ja nicht an. Heinrich Hannover, Strafverteidiger u.a. von Ulrike Meinhof und Astrid Proll, fasste seine Erfahrungen in zahlreichen politischen Strafprozessen so zusammen:
"Politische Strafjustiz hat es mit Feinden zu tun, auf die das Gesetz mit aller Härte anzuwenden ist, ohne dass es auf die Schlüssigkeit der Beweisführung ankommt, aber auch mit Freunden, die man glimpflich davonkommen lässt oder freispricht, mag die Beweislage auch noch so dicht sein."
Dass es in solchen Verfahren tatsächlich nicht um Wahrheitsfindung geht, sondern um die Bekämpfung von Feinden, zeigt der RZ-Prozess anschaulich.