Das ständige Opium-ZK und der kleine Bruder der Planwirtschaft: der Schwarzmarkt

Prof. D. Sebastian Scheerer

Ein Plädoyer für eine freiheitliche Drogenkultur

Wer über Drogenpolitik spricht oder schreibt, unterscheidet gerne idealtypisch zwischen dem "legal approach" (gesetzlichen Ansatz) und dem "medical approach" (medizinischen Ansatz) und charakterisiert dann die konkrete Drogenpolitik eines Staates als eine eher in die eine oder eher in die andere Richtung tendierende Mischform. Und vergisst dabei, das Wichtigste zu erwähnen. Denn die Besonderheit der Drogenpolitik besteht darin, dass sie eine Gruppe von Substanzen dem Marktgeschehen und damit dem im üblichen Rahmen "autonomen" Zugriff der normalen Bürger entzieht. Und das ist durchaus bemerkenswert. Denn in einer "offenen" Gesellschaft definiert sich die Freiheit der Bürger ja nicht zuletzt über ihren Anspruch, in eigener Verantwortung Gegenstände anbauen, erfinden oder sonst wie produzieren, als Waren feilbieten oder eben zu selbstbestimmten Zwecken erwerben zu dürfen. Ausnahmen davon gibt es zwar auch in offenen Gesellschaften (so würde kein vernünftiger Mensch auf den Gedanken verfallen, den Erwerb von Plutonium-Brennstäben und deren Lagerung im häuslichen Aquarium zum Prüfstein seiner persönlichen Freiheit zu machen), aber diese wollen in jedem Fall gut begründet sein.

Drogenpolitik - eine letzte Bastion der Planwirtschaft

Ausgehend von einer US-amerikanischen Initiative, die Opiumplage auf den Philippinen (die sie seit 1898 besetzt hielten) vor allem auch im Hinblick auf Gesundheit und Moral der dort stationierten Marines zu bekämpfen, entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunderts in amerikanischen Regierungskreisen die Überzeugung, dass das Problem ein in ganz Südostasien verbreitetes sei, dem nur unter Einbeziehung aller betroffenen Mächte beizukommen sei. Das Haager Opiumabkommen von 1912 war nicht nur das erste rechtlich verbindliche Resultat dieser globalisierten Bekämpfungsstrategie, sondern ist auch bis heute sozusagen die "Mutter" aller staatlichen Betäubungsmittelgesetze auf der ganzen Welt. 1931 verpflichtete das Abkommen zur Begrenzung der Erzeugung von Rauschgiften alle Staaten zur frühzeitigen Anmeldung ihres Drogenbedarfs beim Ständigen Opium-Zentralkomitee beim Völkerbund in Genf. Aufgabe des Zentralkomitees war die, wie es wörtlich hieß, "Weltbuchführung" über Herstellung und Handel der Drogen zum Zwecke der "lückenlose(n) Regelung einer ganzen Industrie und eines Handels, der sich über die ganze Erde erstreckt". Für einen ganzen Sektor der Ökonomie hatte man ein System entwickelt, dessen Wert man ansonsten in der freien Welt gering schätzte, nämlich – in den Worten des Völkerbunds von 1934 – ein System, das man "gewöhnlich ‚Planwirtschaft' nennt."
Gewiss: der Völkerbund heißt heute UNO und aus dem Opium-Zentralkomitee ist das International Narcotics Control Board geworden, das statt in Genf nunmehr in Wien sitzt. Man begrüßt Andorra als 153. Mitglied der Anti-Drogen-Konvention von 1988. Dadurch wird nun auch der Druck auf Tschad und Liechtenstein größer. Das Wort Planwirtschaft ist aus den amtlichen Drucksachen inzwischen gestrichen, das System freilich ist noch immer dasselbe. Und nicht anders als seinerzeit die sowjetische Planwirtschaft, so funktioniert auch die Drogenplanwirtschaft auf dem Papier ganz wunderbar. Kleine Bürokratien melden den Bedarf an die große Bürokratie, wo man die Bücher führt, vergleicht, prüft, genehmigt, anordnet und zuteilt und in die Wege leitet. Gerechnet wird in Gramm. So hatten z.B. Österreich für das Jahr 2001 einen Bedarf von 2.000, Deutschland von 10.000 Gramm Kokain (für medizinische Zwecke) angemeldet. Null Gramm brauchten Deutschland und Österreich von einer Droge namens Cannabis. Die Weltplanungsbehörde sorgt dafür, dass pünktlich und vollständig in guter Qualität geliefert wird.
Aus den Erfahrungen der ehemaligen sozialistischen Staaten wissen wir, dass jede Planwirtschaft über einen kleinen Bruder verfügt, der ihr erst zur Seite tritt und sie dann durch akzeleriertes Wachstum schnell in den Schatten stellt. Sein Name ist Schwarzmarkt. Die Vorstellung, DDR-Bürger bräuchten keine Jeans und keine West-Musik, keine 20 Käsesorten und keine 15 Sorten Strumpfhosen, um ihr Lebensglück zu finden, führte bekanntlich erstens zu erheblichen Problemen bei der "Sortimentsbreite und geschmacklichen Differenzierung" und zweitens zu einem florierenden Schwarzmarkt, auf dem alles zu Wahnsinnspreisen und jenseits jeglicher staatlicher Einflussnahme zu haben war.
Was die Tiefe der Kluft zwischen Bürokratie und Bevölkerung angeht, so kann sich die Drogenplanwirtschaft der Gegenwart mit der sozialistischen Planwirtschaft der jüngsten Vergangenheit durchaus messen. Der gemeldete Cannabisbedarf der deutschen Bevölkerung ist gleich Null. Die gesellschaftlichen Bedürfnisse sehen anders aus. Heute werden in Deutschland jährlich rund 6 Tonnen Marihuana beschlagnahmt. Was Polizei und Grenzschutz nicht abfangen, reicht immer noch für den Bedarf von schätzungsweise drei Millionen CannabiskonsumentInnen.

Drogenkonsum als Normalfall


Das Problem liegt im tiefen und vielschichtigen Widerspruch zwischen den Grundannahmen der planwirtschaftlichen Drogenkontrolle und der Realität. Nach herrschender Meinung dürfen auch die gravierenden Nebenfolgen der Drogenprohibition nicht dazu führen, das Verbotsprinzip selbst in Frage zu stellen, weil jede Lockerung des Verbots noch verheerendere Auswirkungen auf die Bevölkerung hätte. Diese Überzeugung beruht auf dem konventionellen Wissen über die generell persönlichkeitszerstörende Wirkung des Konsums der "Suchtgifte". Die Wissenschaft sah das über Jahrzehnte ebenso. Da sie sich in Hunderten von Studien fast ausschließlich mit den Extremformen der Sucht befasste, bekam sie von der Realität nur diesen Ausschnitt mit. Als man (in den 1930er Jahren) von der Gefährlichkeit von Cannabis als killer weed überzeugt war, konzentrierte man sich auf die Schilderung und Analyse entsprechender Einzelfälle. Psychiater suchten in Irrenhäusern nach Patienten mit Cannabiserfahrung - und fanden insbesondere Psychotiker, die früher im Leben Cannabis geraucht hatten. Nirgendwo forschte man zu der Frage, was denn im Normalfall mit den Konsumenten der Droge passierte (der Bericht der Indischen Hanf-Kommission von 1894 hatte sich damit noch befasst; aber der war knapp vier Jahrzehnte später schon dem Vergessen anheim gefallen).
Heute zeichnet sich aber ein radikal anderes Bild der Wirklichkeit ab. Die Resultate neuerer Forschungen lassen sich auch auf einen Begriff, eine These bringen. Und die kann nur lauten, dass alle bislang bekannten Drogen von der Mehrheit der Konsumenten beherrscht werden können - und schon heute auch beherrscht werden. Das gilt für Cannabis und Heroin, aber auch für Kokain und vermutlich sogar für Crack.
Auch das Wissen über die Motive und Bedingungen des Drogenkonsums hat sich grundlegend verändert. Im ganz gewaltig überwiegenden Normalfall sind es "normale" Menschen, die aus ganz "normalen" Motiven zu Drogen greifen. In aller Regel handelt es sich dabei um eine bewusste Entscheidung zur Freizeitgestaltung. Die Droge wird aufgesucht und bewusst und gewollt zu sich genommen. Nicht die Dealer, sondern die Konsumenten "verantworten" diese Entscheidung.
Heute weiß man: die große Mehrheit der Drogenkonsumenten hat sich von Lebensplänen, Karrieremustern und dem gesellschaftlichen und finanziellen Weiterkommen keineswegs verabschiedet. Wenn sie Drogen nehmen, versinken sie nicht in ihrer eigenen Höhle, sondern feiern mit anderen, was es zu feiern gibt: das Ende einer anstrengenden, aber erfolgreichen Arbeitswoche, die Möglichkeit, unter Freunden und Bekannten aus sich herauszugehen, neue und interessante Erfahrungen zu gewinnen. Man zieht sich nicht zurück, sondern verfolgt die alten legitimen Ziele mit neuen, innovativen Mitteln.

Für eine zivilisierte Drogenkultur

Es ist nicht die Pathologie, sondern die sich verändernde Normalität der Gesellschaft, die es den Bürgern aus nachvollziehbaren Gründen nahe legt, sich mehr als früher für psychoaktive Substanzen zu interessieren. Um den Drogenkonsum in der Gegenwartsgesellschaft zu erklären, nützen die herkömmlichen Theorien über individuelle und soziale Defizite nichts mehr.
Zwei wichtige Begriffe in diesem Zusammenhang sind "Wertewandel" und "Konsumkultur". In dem Maße, in dem heutige Gesellschaft sich von den traditionellen Werten der Autorität, des Gehorsams, der Disziplin und des Fleißes verabschiedet oder sie doch zumindest durch die Betonung anderer Werte wie Selbsterfahrung und -entfaltung, Kreativität und Gemeinsinn relativiert, sehen sich "Spannung", "Abenteuer", "Aufregung", "Unterhaltung" und "Erlebnisse" - allesamt Gefühlszustände, für die man auch Drogen einsetzen kann - einst kümmerliche Außenseiter der gesellschaftlichen Werteskala, erheblich aufgewertet.
Machtvoll getrieben von Massenmedien, Werbung und Jugendkultur, applaudiert der Konsumismus der neuen Wertordnung, der Suche nach Abenteuer, Selbstverwirklichung und besonderen Erlebnissen, und die neuen Subjekte der Erlebnisgesellschaft versuchen im Gegensatz zu früheren romantischen Revolten, ihre Identität, ihr Ich und ihre Abenteuer nicht in schroffer Ablehnung der Warenwelt, sondern durch die geschickte und kombinatorische Nutzung von deren Events zu finden.
Die größte Anziehungskraft haben solche Waren, und auch das ist in diesem Kontext jetzt schon nicht mehr verwunderlich, die neue Erfahrungen versprechen – von Abenteuertourismus bis zu Snowboard-Fahren und Tiefseetauchen. In einem solchen Kontext gesehen ist Drogengenuss nur eine von zahllosen Möglichkeiten der mit der Warenwelt versöhnten Suche nach excitement, pleasure und entertainment. Wie soll man also heute noch einem Freizeitkonsumenten psychoaktiver Substanzen erklären, dass er zwar auf jeden Alpengipfel kraxeln und jede schwarze Piste in Sankt Anton hinunterbrausen, nicht aber beim Après-Ski eine kleine Linie verlockenden Kokses schnupfen darf? Der Drogengenuss ist bei weitem nicht die riskanteste unter den riskanten Freizeitaktivitäten. Warum sollten wir nun ausgerechnet ihn so martialisch bekämpfen? Ließen wir es sein, könnte der Konsum von Drogen risikoloser, angenehmer, kundiger und geselliger werden.
Konsequent wäre also die Formulierung einer einheitlichen Politik, die alle Drogen im Prinzip jedem Erwachsenen legal zugänglich macht, die aber nicht daran gehindert ist, durch Aufklärungskampagnen, durch Steuern oder sonstige Maßnahmen das Verhalten zu beeinflussen. Eine künftige Drogenpolitik hätte vor allem anderen die Legitimität der Nachfrage nach psychoaktiven Substanzen anzuerkennen. So wie das Recht heute die grundsätzliche Legitimität einer homosexuellen Orientierung anerkennt.
Drogenhandel müsste nicht mehr in einem Klima der Heimlichtuerei, der Heuchelei und der Gewalt stattfinden. Großhändler müssten nicht mehr befürchten, von Konkurrenten erschossen oder verraten, mit langjährigen Gefängnisstrafen belegt oder gar – wie in manchen asiatischen Staaten – zum Tode durch den Strang (wie in Südostasien) oder durch Genickschuss (wie in China) verurteilt zu werden.
Es geht aber nicht nur um die Abstellung dieser Barbarei und um die Abschaffung der Planwirtschaft und ihrer großdestruktiven Nebenwirkungen. Es geht auch um die Durchsetzung der Grundrechte in einem wichtigen Bereich unserer Existenz, in dem die Idee der offenen Gesellschaft bisher noch nicht so recht angekommen ist.
Einzelne Staaten wie Deutschland können ihre Politik nicht grundlegend ändern, solange sie zur Planwirtschaft aufgrund der zwei wichtigsten internationalen Verträge verpflichtet sind. Die sind aber kündbar. Die Single Convention bis zum 1. Juli eines jeden Jahres. Die Wiener Konvention jederzeit. Eine künftige Drogengesetzgebung sollte sich wie die alte am bestmöglichen Kenntnisstand über den Normalfall des Konsums orientieren. Da sich gerade dieses Wissen radikal geändert hat, können die Regeln nicht dieselben bleiben. Drogen sind – neben anderen Verwendungsweisen, die sie dann auch zu etwas anderem werden lassen – vor allem eines: Genussmittel.