Zufallsprodukt Auschwitzprozess

Heins Düx Ein unerwünschtes Strafverfahren in den Zeiten der Verbrechensleugnung und des Kalten Krieges.1
Die Herrschaft des NS-Regimes ist nicht vom deutschen Volk, sondern von den Mächten der Anti-Hitler-Koalition militärisch beseitigt worden. Die breite Mehrheit der deutschen Bevölkerung diente als Aktivisten oder willige Mitläufer dem NS-Regimes bis zu dessen totaler Kapitula-tion am 8. Mai 1945.
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Gerichtliche Voruntersuchung

Bereits Mitte 1961 waren die von Bauer mit Nachdruck initiierten Ermittlungen über Auschwitz so weit gediehen, dass der Antrag auf gerichtliche Voruntersuchung gestellt werden konnte. Nach der damals gültigen Strafprozessordnung war eine gerichtliche Voruntersuchung in Verfahren, die vor dem Schwurgericht anzuklagen waren, notwendig. Die gerichtliche Voruntersuchung ist seit den siebziger Jahren abgeschafft. Ich fungierte für den Komplex Auschwitz als Untersuchungsrichter. Bei Eröffnung der Voruntersuchung bestand die Akte bereits aus 52 Bänden mit jeweils circa 200 Blatt. Die Voruntersuchung wurde von mir am 9. August 1961 eröffnet.
Bereits wenige Tage nach Erhalt der Akten wurden von zwei Richtern des Landgerichts - einer von ihnen hatte eine einflussreiche Position in der Verwaltungsabteilung des Gerichts - Anregungen an mich herangetragen, die angeblich der Abwendung der Arbeitslast, die mir bevorstand, dienen sollten. Es sei doch für mich eine Entlastung, erklärten die beiden "wohlmeinend", wenn ich angesichts von 24 Angeschuldigten zumindest für einige die Zuständigkeit des Landgerichts Frankfurt verneinte. Der Richter aus der Verwaltungsabteilung erbot sich, wenn ich seine Anregungen befolgte, mit Rückendeckung der Gerichtsverwaltung behilflich zu sein. Die wahre Absicht dieser Vorschläge war offensichtlich nicht, mich und das Landgericht arbeitsmäßig zu entlasten. Sondern es ging darum, ein Verfahren zu verhindern, das mehr als 15 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges endlich einmal die Strukturen eines deutschen Vernichtungslagers durch die Justiz des Täterstaates offen legen sollte.
Wie ablehnend über das Auschwitz-Verfahren gedacht wurde, offenbarte sich mir kurze Zeit später auch durch eine weitere Begebenheit. Einige der Angeschuldigten saßen in Untersuchungshaft. Für die regelmäßige Haftprüfung war nicht der Untersuchungsrichter zuständig, sondern eine Strafkammer des Landgerichts. Eine solche Haftprüfung stand bereits im August 1961 an. Ein Gerichtsassessor war Mitglied der für die Haftprüfung zuständigen Strafkammer. Er informierte mich vertraulich, dass der Kammervorsitzende Schwierigkeiten für eine Fortdauer der Untersuchungshaft mache, weil er es ablehne, den Belastungszeugen Glauben zu schenken. Er betrachtete sie als Lügner. Im Interesse der Fortführung der Ermittlungen wurde der Vorsitzende offensichtlich von dem mich informierenden Gerichtsassessor und einem weiteren Beisitzer überstimmt, denn während der Dauer der gerichtlichen Voruntersuchung kam es nicht zu Haftentlassungen. Mit fortschreitenden Ermittlungen kam es hingegen zur Verhaftung weiterer Angeschuldigter. Für solche Verhaftungen war, im Gegensatz zu den Haftprüfungen, der Untersuchungsrichter zuständig.
Die erste Maßnahme im Rahmen der gerichtlichen Voruntersuchung war die zwingend vorgeschriebene Vernehmung aller Angeschuldigten. Größtenteils zeigten sich diese wenig mitteilsam. Die vorwiegende Tendenz war: Beschönigen, Nicht-Erinnern oder Schuldzuweisung an andere. Auch totale Aussageverweigerung war zu verzeichnen. Der letzte Lagerkommandant von Auschwitz, Richard Baer, gehörte zu den totalen Aussageverweigerern. Er verstarb aber bereits im Juli 1963 in der damaligen Untersuchungshaftanstalt Frankfurt/Hammelsgasse an Kreislaufschwäche.
Unter den Angeschuldigten ist mir vom Aussageverhalten her der Angeschuldigte Oswald Kaduk in besonderer Erinnerung geblieben. Er war in Königshütte geboren, hatte das Metzgerhandwerk erlernt, war später bei der Berufsfeuerwehr, trat der SS bei und wurde in Auschwitz Blockführer (Aufsicht über einen Häftlingsblock), später Rapportführer (Vorgesetzter aller Blockführer). Er gehörte unter den Angeschuldigten zu den am meisten belasteten. Sein Auftreten war zwanghaft militaristisch. Bei jeder an ihn gerichteten Frage sprang er auf, nahm Haltung an (Hackenschlag, Hände an die Hosennaht) und gab mit abgehackter Stimme eine Erklärung ab. Als ich ihn belehrte, dass er nicht immer Haltung annehmend aufspringen müsse, schoss er wieder hoch und antwortete schneidig: "Jawohl! " Den Militarismus hatte er offenbar so verinnerlicht, dass er in einem anderen Zusammenhang sogar antwortete: "Jawohl, Herr Obersturmführer. " Als ihm diese Anrede entfahren war, stutzte er kurz und erklärte dann, das sei aus alter Gewohnheit geschehen. Wenn er mit Amtspersonen spreche, reagiere er häufig so, wie es bei der SS üblich gewesen sei und wie er es früher tausendfach getan habe. Ich hatte in der Tat den Eindruck, dass er die Anrede nicht aus Gründen der Provokation gewählt hatte, sondern dass aufgrund der Vernehmungssituation das tief verinnerlichte Verhaltensmuster unbewusst zutage trat.
Die Erklärungen Kaduks zu den ihm vorgeworfenen Beschuldigungen waren wesentlich instruktiver als die seiner meistens ausweichend um die Geschehnisse herumredenden Mittäter. Seine Verteidigung war darauf gerichtet, sich als SS-Unterführer in einer untergeordneten Handlanger-funktion darzustellen. Wirklich Schuldige seien zum Beispiel Dr. Hans Globke2 und Dr. Theodor Oberländer3 gewesen, die er ausdrücklich erwähnte. Die Todesselektionen hätten SS-Ärzte und höhere SS-Führer vorgenommen. Seine Aufgabe sei es nur gewesen, wie ein Luchs aufzupas-sen, dass keiner der Todeskandidaten zur Gruppe der Arbeitsfähigen hätte überwechseln können. Ankommende Kinder seien, sofern sie nicht von den SS-Ärzten für medizinische Experimente ausgesucht worden seien, sofort vergast worden. Auch arbeitsfähige Mütter, die sich nicht von ihren für die Vergasung vorgesehenen Kindern hätten trennen wollen, seien mit in die Gaskammer geschickt worden.
Die Judentransporte "kamen an wie warme Brötchen", erklärte Kaduk wörtlich. Mit anderen SS-Männern habe er die von den Ärzten und höheren SS-Führern ausgesuchten Todeskandidaten mit Lastwagen von der Ankunftsrampe zur Gaskammer transportiert. "Ich habe niemals mit Bewusstsein getötet, nur manchmal jemanden geschlagen, wenn er sich vor der Arbeit drücken wollte", resümierte Kaduk. "Ein scharfer Hund" sei er schon gewesen. In Bezug auf den in den sechziger Jahren amtierenden polnischen Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz, der Häftling in Auschwitz gewesen war, meinte er: "Wenn ich damals die Möglichkeit gehabt hätte, hätte ich ihn um die Ecke gebracht." Diese Offenbarung stand im offensichtlichen Widerspruch zu seiner Einlassung, einen Tötungsvorsatz habe er nie gehabt, sondern nur durch Schläge für Disziplin sorgen wollen. Seine Verharmlosungsversuche wurden durch vielfältige Zeugenaussagen widerlegt. Das Schwurgericht verurteilte ihn wegen Mordes an insgesamt 1.012 Menschen zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe. Die namentliche Erwähnung von Baer und Kaduk erfolgte, weil der Lagerkommandant durch seine mangelnde Einlassung zu den Beschuldigungen und der Rapportführer durch seine skurrilen Verhaltensformen und entlarvenden Redensarten auffielen. Eine namentliche Beschäftigung mit den weiteren mehr als 20 Angeschuldigten erscheint überflüssig, weil es sich durchweg um mausgraue Personen aus allen Schichten der deutschen Gesellschaft mit Tausenden von Ebenbildern handelte. Sie entstammten den verschiedensten Berufssparten: Arzt, Angestellter, Ingenieur, Student, Maurer, Berufssoldat, Hilfspolizist, Tischler, Arbeiter. Hätte sie ihr Lebensweg nicht nach Auschwitz geführt und wären statt ihrer andere dort tätig geworden, wären diese anderen dort die Täter geworden. Entscheidend war, dass circa 90 Prozent der Deutschen die mörderische Ideologie des NS-Regimes als Aktivisten oder Mitläufer in die Tat umsetzten. Die Täter waren von der NS-Ideologie so beherrscht, dass ihnen ein Unrechtsbewusstsein für die Taten fehlte, was sich bei der Vernehmung aller Angeschuldigten zeigte. Ihr mangelndes Unrechtsbewusstsein kann man mit der Mentalitätsstruktur von Tätern aus Mafia-Kreisen vergleichen. Dort ist es auch üblich, allenfalls aus taktischen Gründen ein Bedauern über geschehene Taten zu äußern, während jede echte emotionale Regung im Sinne einer Reue fehlt.
Der Unterschied zwischen NS-Tätern und Mafia-Tätern zeigte sich meist nur in der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Einbindung der Erstgenannten. Die NS-Täter waren häufig familienorietiert, karrierebewusst und sogar fromm.
Die ideologische Korrumpierung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung in Richtung auf die Eliminierung des Judentums und anderer Menschengruppen war primärer Grund für die Schwierigkeiten bei der Verfolgung der NS-Straftäter. Die Schwierigkeiten wurden von denen bereitet, die in der Ideologie der Täter dachten und handelten, aber im Gegensatz zu den Angeschuldigten mangels entsprechenden Einsatzes nur potentielle Täter geblieben waren. Diese potentiellen Täter leisteten den aktuellen Tätern Hilfestellung in Gestalt einer Strafvereitelung.

Störmanöver

Entsprechenden Störmanövern begegnete man bei den untersuchungsrichterlichen Ermittlungen ständig. Die sich aus dem damals intensiv geführten Kalten Krieg zwischen Ost und West ergebenden Möglichkeiten waren ein beliebte Vehikel zur Behinderung der Ermittlungen in Verfahren gegen NS-Gewaltverbrecher. So wurde ein auf dem Dienstweg zu versendendes eiliges Schreiben an die sowjetische Botschaft in Bonn im Justizministerium in Wiesbaden tagelang angehalten, weil in dem Schreiben die Bezeichnung DDR gebraucht worden war. Das Ministerium bestand darauf, es solle die Bezeichnung "Sowjetische Besatzungszone (SBZ)" verwendet werden. Es war vorauszusehen, dass bei der Verwendung dieser der Sowjetunion nicht genehmen Bezeichnung, die Ermittlungen gefährdet gewesen wären. Nach einigem Hin und Her mit dem zuständigen Ministerialbeamten wurde schließlich von mir die Kompromissbezeichnung "Ostdeutschland" akzeptiert, um die Weiterbeförderung des Schreibens nach der ministeriellen Verzögerung endlich zu gewährleisten. Der Beamte versäumte allerdings nicht, mir vorzuhalten, dass das Anschreiben eine sinnlose Aktivität sei, weil eine Antwort nicht erwartet werden könne. Ihm war offensichtlich die Kontaktaufnahme mit der sowjetischen Botschaft im Zusammenhang mit dem Auschwitz-Prozess nicht genehm.
Während solche Manöver wie das zuvor geschilderte noch einfach zu durchschauen waren und die Ermittlungen nur verzögern und nicht verhindern konnten, gab es auch Entwicklungen, die das Verfahren substantiell gefährdeten. Im Zuge der gerichtlichen Voruntersuchungen - es hatte sich die Notwendigkeit ergeben, gegen zwei oder drei Gruppen von Tätern zu ermitteln, die in dem Ursprungsantrag auf gerichtliche Voruntersuchung noch nicht enthalten waren - musste auch über den Erlass weiterer Haftbefehle nachgedacht werden. So hatte die SS in Auschwitz einen polnischen Häftling zum Häftlingsarzt bestellt. Er kehrte nach Beendigung der NS-Herrschaft nicht nach Polen zurück, sondern betrieb in Hannover eine Privatklinik. Seinen polnischen Namen hatte er germanisieren lassen. Er war von den Mithäftlingen Curt Posener und Professor Robert Waitz, nach dem Krieg an der Universität Straßburg tätig und in einer Führungs-position bei dem Internationalen Auschwitz-Komitee, dahingehend charakterisiert worden, dass er rigoros gegen jüdische Häftlinge vorgegangen sei. Er habe sich auch an Selektionen für die Gaskammer beteiligt. Sein Eifer, der SS zu dienen, sei so weit gegangen, dass er einem SS-Arzt 600 Häftlinge für die Gaskammer präsentiert habe, obwohl dieser nur 300 Häftlinge verlangt habe. Gegen diesen polnischen Häftlingsarzt wurde kein Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung gestellt. Befragt, warum dies nicht veranlasst werde, erklärte man, es sei nicht zu verantworten diesen Häftling anzuklagen, weil man dadurch möglicherweise maßgebliche Stel-len in Polen verstimme.
Dieses Argument war nicht stichhaltig, denn zu den Angeschuldigten gehörte von Anfang an der Pole Emil Bednarek, als Kapo ein so genannter Funktionshäftling. Auch er hatte nach dem Krieg seinen Wohnsitz in Deutschland genommen. In Polen war niemand über das Verfahren gegen Bednarek verstimmt, im Gegenteil: Von polnischer Seite wurden über Bednarek belastende Aussagen zu den Akten übersandt. Bednarek wurde vom Schwurgericht schließlich wegen Mordes in 14 Fällen zu lebenslänglichem Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit verurteilt. Dass gegen den polnischen Häftlingsarzt nicht vorgegangen wurde, muss also andere Motive als die angegebenen gehabt haben. Ich habe am 26. Oktober 1962 einen privaten Erinnerungsvermerk über diesen Vorfall angefertigt. Der letzte Satz dieses Vermerks lautet: "Ich habe den Eindruck, dass (es folgt der Name des polnischen Häftlingsarztes) als antikommunistischer Pole gedeckt werden soll. "

Beanstandung einer Dienstreise nach Auschwitz

Eine symptomatische Begebenheit will ich noch schildern, die offenbart, mit welcher kaum für möglich gehaltener Anmaßung sich Personen, die das Geschehen absolut nichts anzugehen hatte, in die Ermittlungsarbeit einzumischen versuchten. Bei jedem Landgericht gibt es einen so genannten geschäftsleitenden Beamten aus dem gehobenen Dienst - Anfang der sechziger Jahre war es ein Amtmann oder ein Oberamtmann. Er stand offenbar in einem sehr guten Verhältnis zu dem richterlichen Personalsachbearbeiter. Diesen Beamten musste ich wegen einer Verwal-tungsangelegenheit aufsuchen. Unvermittelt regte er sich darüber auf, dass der Aufwand für das Auschwitz-Verfahren in keinem Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehe. Er habe meinen Bericht an das Hessische Justizministerium über eine eventuelle Dienstreise nach Auschwitz zwecks Tatortbesichtigung gelesen. Das fand er unglaublich. Warum wohl? Es gibt nur eine Erklärung. Ein alter Nazi beziehungsweise Sympathisant der deutschen Eliminationspolitik war, wie so häufig in der damaligen Zeit, im öffentlichen Dienst aufgestiegen. Ich gab meiner Verwunderung über seine Erklärung Ausdruck, weil ich ihn nicht um seine Meinung gefragt hatte, und hielt ihm vor Augen, dass Massentötungen den Gegenstand der Ermittlungen bildeten. Das beeindruckte ihn aber nicht, denn kurze Zeit später wiederholte er bei einer neuerlichen zufälligen Begegnung seine Kritik am Auschwitz-Verfahren, die offensichtlich einer tief sitzenden, nicht zu zügelnden NS-Sympathie entsprang. Es wurde auf Veranlassung der Gerichtsverwaltung ein anderer Richter eingeschaltet, der die Vorgänge mit ihm erörterte. Angeblich soll er bei dieser Erörterung sein Fehlverhalten eingesehen haben. Wie dem auch sei, der Vorfall ist symptomatisch für den damals herrschenden Zeitgeist.
Auf die von dem Amtmann beanstandete Dienstreise nach Auschwitz will ich noch kurz eingehen. Mangels geordneter diplomatischer Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik im Jahre 1963 konnte meine Dienstreise nur privaten Charakter haben. Die Dienstreise diente dazu, durch die Besichtigung des Verbrechensortes eine sicherere Bewertung der Angaben der Angeschuldigten und der Zeugen zu ermöglichen. Ich wurde später in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgericht als Zeuge über meine gewonnenen Eindrücke vernommen. Die Vernehmung führte dazu, dass auch das Schwurgericht durch einen beauftragten Richter eine Ortsbesichtigung vornehmen ließ.
Es waren für mich zwei Übernachtungen in Auschwitz notwendig. Diese erfolgten im Lager, und zwar in dem Gebäude, das der SS als Kommandantur gedient hatte. Das Zimmer, in dem der hingerichtete Kommandant Rudolf Höß gewirkt hatte, diente mir als Schlafraum. Da konnte es nicht ausbleiben, dass man von merkwürdigen Gefühlen beschlichen wurde. Hinzu kam, dass während der Nacht vom nahen Güterbahnhof her ständig Rangiergeräusche mit Pfeifen und Stampfen der damals noch benutzten Dampflokomotiven wahrzunehmen waren. So war es unvermeidlich, dass man lebhaft an die Ankunftsrampe des Lagers erinnert wurde, die grauenhafte Endstation, wo ununterbrochen Güterwaggons einrangiert wurden, die Juden aus vielen Ländern Europas nach Auschwitz verbrachten, und wo die Ankommenden nach tagelanger qualvoller Enge aus den Waggons herausgetrieben wurden und durch eine Handbewegung der Selekteure sofort für die Gaskammer bestimmt wurden oder zunächst noch als Arbeitssklaven dienen mussten.
Auf einen mit dem KZ Auschwitz im Zusammenhang stehenden Nebenkomplex, der von mir als Untersuchungsrichter bearbeitet wurde, will ich schließlich noch eingehen. Angeschuldigt war der Anthropologe Dr. Bruno Beger. Er war höherer SS-Offizier. Er arbeitete zusammen mit dem während des Zweiten Weltkrieges an der Universität Straßburg tätig gewesenen Professor Hirt, der bei Kriegsende Selbstmord beging. Das Anliegen der beiden bestand darin, eine Schädelsammlung von "jüdisch-bolschewistischen Kommissaren" anzulegen. Da in Auschwitz viele sowjetische Kriegsgefangene inhaftiert waren, wurden die Opfer dort ausgesucht, getötet, skelettiert und die Köpfe in der Universität Straßburg verwahrt. Das Unterfangen der beiden "Wissenschaftler" war abartig und hatte das Niveau eines primitiven Horrorfilms. Der auf "jüdisch-bolschewistische Schädel" spezialisierte "Wissenschaftler" versuchte trotz eindeutiger Beweise in der Voruntersuchung mit ausweichenden Erklärungen zu reagieren. Im Hauptverfahren wurde er zu einer mehrjährigen Freiheitsentziehung verurteilt.4
Ein intensiver Aufklärungswille der Strafverfolgungsbehörden, wie er bei unpolitischen Verbrechen gegen das Leben zu verzeichnen ist, bestand bei NS-Gewaltverbrechen nur vereinzelt. Es zeigte sich ein merkwürdiger Widerspruch zwischen nach außen gezeigter formaler Verfolgungs-bereitschaft und tief im Innern verwurzelten Vorbehalten gegen die Verfolgung von Personen, deren rassistische und chauvinistische Auffassungen man bis 1945 geteilt hatte und deren Beteiligung am großdeutschen Geschehen in der Praxis zufällig um einiges intensiver ausgefallen war als die eigene. Es konnte nicht überraschen, dass ehemalige Parteigenossen, SA-Leute, Kriegsrichter für den eliminatorischen Antisemitismus und artverwandte Verbrechen kein Aufklärungsgespür hatten. Im Grunde war das für diesen Personenkreis ein Ansinnen, ein Verfahren gegen sich selbst zu führen.
Bezeichnend für diese Mentalität ist auch das Ergebnis von in Frankfurt am Main geführten Verfahren wegen der Euthanasieverbrechen. Der Hessische Generalstaatsanwalt Bauer bemühte sich, den Komplex Euthanasie ebenso wie den Komplex Auschwitz einer ganzheitlichen Aufklärung unter Einbeziehung der höchsten Juristen des Staates (Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte) zuzuführen. Die Einbeziehung der höchsten Juristen des NS-Staates war deshalb geboten, weil sie am 23. und 24. April 1941 bei einer Konferenz in Berlin den akribisch organisierten Tötungsaktionen nicht widersprochen hatten und später in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen dafür sorgten, dass die Aktionen nicht durch Strafanzeigen oder sonstige Eingaben behindert wurden. Ein Antrag auf gerichtliche Voruntersuchung gegen die noch lebenden Juristen ließ der zuständige Richter beim Landgericht Limburg zunächst ein Jahr und vier Monate unbearbeitet liegen, um ihn sodann unzulässigerweise abzulehnen, so dass er auf Beschwerde des Generalstaatsanwaltes nach Ablauf eines weiteren Zeitraumes durch die zuständige Strafkammer im Januar 1967 angewiesen werden musste, die Voruntersuchung zu eröffnen. Generalstaatsan-walt Bauer starb am 30. Juni 1968. Das eingeleitete Verfahren gegen die Justizrepräsentanten des NS-Staates schleppte sich noch bis zum 31. März 1970 hin. An diesem Tage beantragte der Leiter der Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main die Außerverfolgungsetzung der Angeschuldigten, der das Landgericht Limburg mit einem neun Zeilen umfassenden Beschluss am 27. Mai 1970 entsprach.5
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Zufallsprodukt Auschwitzprozess

Die persönliche Minderheitenaktivität, die den Frankfurter Auschwitz-Prozess zu einem einigermaßen den Belangen des Rechts entsprechenden Ereignis werden ließ, geht primär darauf zurück, dass die 1958 von einem ehemaligen Häftling erstattete Strafanzeige von dem früheren Sekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees Hermann Langbein aufgegriffen, angereichert und ergänzt wurde und er zugleich die zögernden Institutionen der Strafverfolgung wiederholt durch persönliche Vorsprache mit Nachdruck zur Fortsetzung der Ermittlungen veranlasste. Von eben solcher Bedeutung war die Tatsache, dass der Hessische Generalstaatsanwalt Bauer durch ein Großverfahren die Struktur eines deutschen Vernichtungslagers mit den individuellen verbrecherischen Anteilen der dort tätig Gewesenen nach dem Maß ihrer Dienststellung aufzeigen wollte. Es ist davon auszugehen, dass ohne die Strafanzeige des früheren Häftlings Adolf Rögner, die wichtige Einflussnahme des Hermann Langbein und die Initiative des Hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer in einer Zeit, als man sich anschickte, der Strafverfolgung von NS-Tätern und auch der Wiedergutmachung ein möglichst täter- und staatskassenbegünstigendes Ende zu bereiten, es zu einer umfassenden Untersuchung der in Auschwitz begangenen Verbrechen nicht gekommen wäre.
Aber nicht nur rein zufällig wirksam werdende persönliche Konstellationen wie Langbein/Bauer bewahrten die Strafverfolgung von NS-Tätern und die Entschädigung der Opfer vor einer mehrheitlich gewünschten totalen Einstellung. Auch eine gesellschaftliche Minderheitengruppe wurde bei der Verhinderung des so genannten Schlussstrich-Denkens wirksam, zumindest soweit es die Opferentschädigung anbetrifft. Die so genannte 68er-Bewegung führte dazu, dass die vielfältigen Kontinuitäten zwischen den Strukturen des NS-Regimes und den Verhältnissen der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft in das öffentliche Bewusstsein gerückt wurden. Die Defizite bei der Aufarbeitung der NS-Zeit durch Schonung der Täter und mangelnde Entschädigung der Opfer wurden dem mehrheitlich erstrebten totalen Totschweigen entrissen. Es kommt nicht von ungefähr, dass durch die Aktivitäten einiger aus der 68er-Bewegung hervorgegangener Abgeordneter die mangelhafte Entschädigung der Opfer noch einmal in den achtziger Jahren auf die Ta-gesordnung gesetzt wurde, ein Vorgang, den man Mitte der sechziger Jahre wegen der damals herrschenden, die Verbrechen des deutschen Faschismus totschweigen wollenden Verhältnisse nicht für möglich gehalten hätte. In den Jahren 1987, 1989 und 1995 fanden im Bundestag zum Thema der Entschädigung der vergessenen Verbrechensopfer noch einmal Sachverständigenanhörungen statt, die zwar nicht zur Schadensersatzleistung im zivilrechtlichen Sinne führten, aber doch zur Bewilligung von Härteleistungen an die Opfer. Allerdings war die Mehrheit der Opfer circa fünfzig Jahre nach Verfolgungsende bereits verstorben, so dass der wirtschaftliche Nutzen für den Schuldner durch die jahrzehntelange Hinhaltetaktik offenkundig ist.
Zusammenfassend kann ich nach einer 1947 begonnenen beruflichen Befassung mit den Folgen der NS-Herrschaft feststellen: Strafverfolgung der Täter und Entschädigung der Opfer sind Stückwerk geblieben. Zuweilen erzielte einigermaßen angemessene Ergebnisse, wie zum Beispiel der Frankfurter Auschwitz-Prozess, waren durch besondere Konstellationen bedingte Zufallsprodukte. Generell stand die Mehrheit der deutschen Gesellschaft der Folgebeseitigung der NS-Herrschaft ablehnend und teils auch feindlich gegenüber. Diese Haltung entsprach dem gesellschaftlichen Verhalten während des NS-Regimes, das man als Aktivist oder Mitläufer unterstützt hatte. Die oft angenommene Kontinuität ist also keine unbewiesene Behauptung, sondern Realität.
Die personelle Konstellation in der Justiz war zumindest bis in die siebziger Jahre ein Spiegelbild dieser Realität. Die milde Behandlung von NS-Tätern ist unter dem Gesichtspunkt der Rechtsbeugung zu sehen, ebenso wie die Verhängung von drakonischen Strafen durch Richter, die während der NS-Zeit an Sondergerichten oder am Volksgerichtshof tätig waren. Keiner dieser Richter an Sondergerichten und Volksgerichtshof ist Skandalöserweise trotz einiger eingeleiteter Verfahren wegen Rechtsbeugung bestraft worden. Der Bundesgerichtshof hat schließlich in den neunziger Jahren festgestellt, dass diese Verschonung der NS-Richter einen Rechtsfehler darstelle und dass eine Bestrafung wegen Rechtsbeugung notwendig gewesen sei. Dieser späten Einsicht lag jedoch nur die Erkenntnis zugrunde, dass man nach der Verschonung der NS-Richter dann auch keinen DDR-Richter wegen Rechtsbeugung zur Verantwortung hätte ziehen können. Für die NS-Richter war die späte Erkenntnis des Bundesgerichtshofes ohne Folgen, weil in den neunziger Jahren bereits alle in Betracht kommenden Täter verstorben waren. Abschließend kann man nur sagen: Der deutsche Umgang mit den NS-Tätern und deren Opfern ist geprägt von irreparablen Mängeln, die der deutschen Geschichte als permanenter Makel anhaften.

Fussnoten

1 Bei diesem Aufsatz handelt es sich um den gekürzten, durchgesehenen und mit Fußnoten versehenen Text meines Vortrages im Rahmen des Forschungskolloquiums "Täter- und Opferbiografien im NS-Regime" des Fritz Bauer Institutes am 21. Oktober 2002.
2 1935 Herausgeber eines Kommentars der NS-Rassegesetze, 1953 bis 1963 leitete er unter Bundeskanzler Adenauer zunächst als Ministerialdirektor, dann als Staatssekretär die Verwaltung des Bundeskanzleramtes.
3 Seit 1933 NSDAP-Mitglied, 1939 bis 1945 Reichsführer des "Bundes Deutscher Osten", 1953-1960 Bundesminister in der Regierung Adenauer.
4 Vgl. Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozess. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main 1965, Bd. 2, S. 1003f.; Die Auschwitz-Hefte: Texte der polnischen Zeitschrift Przeglad Lekovski über historische, psychologische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz. Hg. v. Hamburger Institut für Sozialforschung 1987. Aus dem Polnischen übersetzt von Jochen August., Bd. 1, S. 19.
5 Abgedruckt in: Loewy, Winter, NS-"Euthanasie" , S. 180f.