Demonstration als Sabotage in Lüneberg-Dannenberg

Dieter Magsam Die eingleisige Bahnstrecke von Lüneburg nach Dannenberg hätte schon längst das gleiche Schicksal wie die von Uelzen nach Dannenberg ereilt, wenn nicht das sog. Zwischenlager Gorleben - der Sache nach das gegenwärtige Endlager - mit Castorbehältern gefüllt werden müsste. Diese Gleisstrecke verdient verfassungsrechtliche Beachtung, seitdem Teile des Landkreises Lüneburg und der Landkreis Lüchow-Dannenberg alle Jahre wieder einmal jährlich zur grundrechtsfreien Zone - jedenfalls im Hinblick auf Art. 8 GG - verkommen. Gesichert durch Bundespolizei (vgl. § 3 Bundesgrenzschutz-Gesetz) und weitere 10.000 bis 15.000 Landespolizeibeamte aus der gesamten Bundesrepublik, die formal dem niedersächsischen Innenministerium unterstellt sind, um den Anschein vertikaler Gewaltenteilung zu wahren, wird bezogen auf den Bevölkerungsanteil des Wendlandes eine Polizeidichte entwickelt, die umgerechnet auf Städte wie Hamburg oder Berlin dem Einsatz von etwa 500.000 Polizeibeamten entspräche. Längst stellt der Castortransport mit seinen gesamtgesellschaftlichen Implikationen ein politisches Verhältnis dar, welches - auf den ökonomischen Kern reduziert - doch nichts anderes ist als der mit dem gesamten staatlichen Machtapparat durchgesetzte Werksverkehr von privaten Atomfirmen und privater Bahn auf einem einzigen Gleis zwischen Lüneburg und Dannenberg.
Atomkraftgegnern, die dieses geballte staatliche Machtaufgebot austanzen und denen es trotz allem gelingt, auf der Schienentransportstrecke zu demonstrieren, zeigen die Strafverfolgungsbehörden jetzt die Instrumente. Vier Atomkraftgegner, die sich ohne Beschädigung der Bahnanlagen auf dieser niedergelassen und ihre Handgelenke unterirdisch angekettet und dadurch den Transport um mehr als 12 Stunden verzögert hatten, hat das Amtsgericht Lüneburg mit Urteil vom 22. Mai 2002 (15 Ds 133/01) wegen gemeinschaftlicher Störung öffentlicher Betriebe zu Geldstrafen von 35 Tagessätzen verurteilt. Eine Verurteilung wegen Nötigung des Lokführers erfolgte im Hinblick auf die bekannte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht, da das Handeln der Angeklagten den Gewaltbegriff des § 240 StGB nicht erfüllt habe. Abgesehen davon hatte der Lokführer in der Hauptverhandlung erklärt, dass er jetzt zum ersten Mal davon erführe, genötigt worden zu sein.
Dabei verniedlicht die geringe Geldstrafe - die Staatsanwaltschaft hatte 9 Monate Freiheitsstrafe gefordert - einen politischen Skandal erheblichen Ausmaßes. Nach § 316 b StGB macht sich u.a. strafbar, wer eine Anklage, die dem öffentlichen Verkehr dient, "unbrauchbar" macht und dadurch den Betrieb stört. In der erheblichen Dauer der Anwesenheit von Menschen auf dieser Bahnstrecke sehen die Abteilungen des Amtsgerichts Lüneburg ein solches "Unbrauchbarmachen". Dieses Kochrezept, bei dem der "juristische Braten so lange hin- und hergewendet wird, bis das Urteil heraus tropft" (Heine) ist schon wegen seines tautologischen Inhaltes ungenießbar (Wer stört, macht unbrauchbar. Wer unbrauchbar macht, stört) und deswegen nicht zu empfehlen. Aber hier stößt auch unverdaute Geschichte wieder auf; ganz abgesehen davon, dass die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung, die um den § 240 StGB geführt wurde, vom Tatbestand des § 316 b StGB her wieder aufgerollt wird.
Während das RG StGB von 1871 eine Sabotagevorschrift nicht kannte, normiert erstmals die Verordnung vom 10.11.1920 (Reichsgesetzblatt S. 865) folgendes:
"§ 1 In Betrieben, welche die Bevölkerung mit Gas, Wasser und Elektrizität versorgen, sind Aussperrungen und Arbeitsniederlegungen (Streiks) erst zulässig, wenn der zuständige Schlichtungsausschuss einen Schiedsspruch gefällt hat und seit der Verkündung des Schiedsspruchs mindestens 3 Tage vergangen sind.
Wer zu einer nach Abs. 1 unzulässigen Aussperrung oder Arbeitsniederlegung auffordert oder zur Durchführung eines solches Streiks an Maschinen, Anlagen oder Einrichtungen Handlungen vornimmt, durch die die ordnungsgemäße Fortführung des Werkes unmöglich gemacht oder erschwert wird ... wird bestraft."
Eine Ausdehnung über die Gas-, Wasser- und Elektrizitätsunternehmen hinaus, nahmen dann die Nationalsozialisten durch § 2 der Wehrkraftschutzverordnung vom 25.11.1939 vor (Reichsgesetzblatt I, 2. Halbjahr, S. 2319). Dort heißt es:
"... § 2 Störung eines wichtigen Betriebs
1. Wer das ordnungsgemäße Arbeiten eines für die Reichsverteidigung oder die Versorgung der Bevölkerung wichtigen Betriebs dadurch stört oder gefährdet, dass er eine dem Betrieb dienende Sache ganz oder teilweise unbrauchbar macht oder außer Tätigkeit setzt, wird mit Zuchthaus, in besonders schweren Fällen mit dem Tode bestraft ..." 1951 im Klima des Kalten Krieges wurde diese Vorschrift der Sache nach wieder ins Strafgesetzbuch als § 316 b aufgenommen. 1986 wurde sie Katalogtat im Sinne des § 129 a StGB. Wollte man akzeptieren, dass friedlicher Protest auf den Schienen als Verstoß nach § 316 b StGB verurteilt wird, liefe dies darauf hinaus, die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg ebenso wie Robin Wood, Greenpeace oder andere Vereinigungen, die sich für einen intelligenten Protest gegen die Atomtransporte unter den Öffentlichkeitsbedingungen des Wendlandes einsetzen, dem besonderen Straf- und Strafprozessrecht (erweiterte Überwachungsmaßnahmen, V-Leute etc.) des § 129 a StGB auszusetzen. Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass dies auch tatsächlich so geschieht. Dabei hatte der Strafgesetzgeber bei dem "offenen" politischen Strafrecht mit § 88 StGB ("verfassungsfeindliche Sabotage") schon eine tatbestandlich sehr weitgehende Vorschrift eingeführt, die an die faschistische Wehrkraftschutzverordnung anknüpft. Danach sind Störhandlungen an Anlagen, die dem öffentlichen Verkehr dienen, dann strafbar, wenn dies im Rahmen von Bestrebungen gegen Bestand oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland geschieht. Selbst Strafrechtskommentatoren, denen der Ruch der Fortschrittlichkeit kaum anhaftet, führen aus, dass Störhandlungen im Sinne des § 88 StGB solche des § 316 b zum anderen - "weitergehend" - auch nicht in die Sachsubstanz eingreifende Handlungen oder Unterlassungen wie z.B. das Blockieren des Betriebes durch Menschenansammlungen sind (etwa Tröndle / Fischer, Rd.-Nr. 4 zu § 88 StGB). Mit anderen Worten: Menschen, die auf Schienen öffentlich demonstrieren, sind keine Saboteure im Sinne des § 316 b StGB. Sie stellen keinen quasi technischen Defekt dar, den man mit den technischen Mitteln des Strafrechts beheben könnte oder dürfte. Die Diskussion und der öffentliche Meinungsstreit über den Unsinn der Atomtransporte gehört in einen repressionsfreien öffentlichen Raum.
In einem Vermerk des Bundesgrenzschutzes im Zusammenhang mit diesen Aktionen heißt es:
"Aus den Erfahrungen der letzten Jahre lässt sich ableiten, dass ein erheblicher Teil der Protestaktion gegen Atomtransporte und die Nutzung der Atomenergie von Umweltschutzgruppierungen sowie Bürgerinitiativen getragen wurde bzw. wird. Insbesondere Aktivisten von Umweltschutzgruppen konnten sich mit spektakulären Aktionen wiederholt medienwirksam in Szene setzen und auf diese Weise zum Teil erhebliche Verzögerungen bei Atomtransporten erreichen. Im Gegensatz zu Personen aus dem linksextremistischen Spektrum handeln diese Personen ohne linksideologischen Hintergrund, lassen eine weitaus niedrigere Gewaltbereitschaft erkennen und übernehmen ausdrücklich die Verantwortung für ordnungs- oder strafrechtliche Konsequenzen ihrer Aktion."
Umgekehrt ist es richtig: Gerade weil die Aktivisten ihre Aktion als öffentliche medienwirksame und niemanden gefährdende Demonstrationsform begreifen, können sie nicht bestraft werden und schon gar nicht nach Vorschriften, die ihre Geburtsstunde dunkelsten Kapiteln deutscher Geschichte verdanken.