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Kursbestimmung in Europa: Migration und Flucht = illegal

Editorial zum Sonderbrief

BERENICE BÖHLO

2016 sind in den ersten sechs Wochen über 80.000 Personen auf dem Seeweg nach Europa gekommen, über 400 Geflüchtete sind dabei ertrunken. 2016 haben damit bereits so viele Flüchtlinge Europa erreicht, wie in den ersten vier Monaten des Jahres 2015. Tagtäglich riskieren über 2.000 Menschen auf diesem Weg ihr Leben.(1) Über die Hälfte von ihnen sind Syrerinnen und Syrer und damit Personen, die nach jeder Betrachtungsweise rechtlich zwingend als schutzbedürftig anzuerkennen sind. Letzteres kann allerdings morgen bereits anders sein. Dies nicht etwa, weil der Krieg in Syrien zu einem Ende gekommen, sondern weil die Türkei über Nacht ein ›sicherer Drittstaat‹ geworden sein wird.
2015 gab es heftige Diskussionen in der EU und Deutschland, wie mit den Flüchtlingen umzugehen sei. 2016 soll nun auf europäischer wie auf nationaler Ebene das Jahr der ›Lösungen‹ werden. Es sind drei grundlegende Beobachtungen auf dem Feld Migration und Flucht in Europa, die über Einzelfragen hinaus die gegenwärtige politische Debatte sowie Rechtsänderungen beschreiben und in die nachfolgenden Beiträge einführen sollen. 

I. RECHT UND LEBENSWIRKLICHKEIT KLAFFEN FUNDAMENTAL UND SYSTEMATISCH AUSEINANDER 

Diese Feststellung ist nicht neu. 2015 wurde dieses Auseinanderklaffen aber radikaler sichtbar als je zuvor und zieht sich als Thema konsequenterweise wie ein roter Faden durch diesen SonderBrief (vgl. z.B. Hermanns und Rusche, in diesem Heft). Ein Blick auf die Dublin-Verordnung verdeutlicht dies. Dieser Rechtstext basiert als eine conditio sine qua non auf der Annahme eines existierenden, gemeinsamen europäischen Asylsystems. Nur weil es für Flüchtlinge angeblich unerheblich sei, wo in Europa sie ihr Asylverfahren durchlaufen, da Verfahren und Ergebnisse im Kernbereich in allen Mitgliedsstaaten vergleichbar seien, werden innereuropäische Überstellungen (Abschiebungen) als rechtmäßig angesehen. Die Realität des Dublin-Systems war aber stets – und ist es noch immer – eine komplett andere. Erst als die Flüchtlinge entschlossen waren, die innereuropäischen Grenzen trotz Widerstand zu überqueren und sie damit das nicht-existente europäische Asylsystem als nicht vorhandene Grundlage und Voraussetzung folglich fehlerhafter europäischer Rechtstexte sichtbar machten und entlarvten, entstand aus Sicht der Deutschen ein Problem. Erst jetzt sagte Angela Merkel, dass die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems eine der Kernaufgaben europäischer Politik sei. Zum ersten Mal scheint die deutsche Politik, die noch 2013, als über 500 Menschen vor Lampedusa ertranken, lauthals verkündete, Lampedusa liege in Italien, tatsächlich eine europäische Perspektive wahrzunehmen. 

II. UNTERORDNUNG DER MENSCHENRECHTE UNTER EINE POLITIK DER OBERGRENZE 

Der manipulative Umgang mit dem »Thema Flüchtlinge« seitens der Regierungen und der EU ist Tenor sämtlicher Beiträge in diesem Heft. Ausgangspunkt unseres Rechtsverständnisses ist, dass das Recht, sein Land zu verlassen und ein Leben in Sicherheit und Freiheit zu suchen, das Recht eines jeden Menschen ist. Die Prämisse der europäischen Flüchtlingspolitik ist klar und unverrückbar eine andere: Die EU will nur äußerst begrenzt Schutzsuchenden Aufnahme gewähren. Recht hat nach diesem Verständnis zweifelsohne eine Obergrenze. Unter der gegenwärtigen niederländischen Ratspräsidentschaft wird vorgeschlagen, sich auf die Aufnahme von europaweit maximal 250.000 Flüchtlingen pro Jahr festzulegen. Dies würde die endgültige Abkehr von einem humanitären Ansatz in der Flüchtlingspolitik bedeuten. Die Aufnahme von Geflüchteten erfolgte dann nur noch als gewillkürtes Recht. Subjektive Rechte der Geflüchteten spielen keine Rolle. Um die Obergrenze auf europäischer Ebene zu etablieren, wie auch immer diese dann betitelt werden wird, wird endgültig die sogenannte externe Dimension der Migration Geflüchteter ins Zentrum der Flüchtlingspolitik der EU gerückt (vgl. Kasparek, in diesem Heft). Zum ›Eindämmen‹ der Flüchtlingszahlen wird dann auch ein EU-Türkei-Aktionsplan möglich. 

III. RECHTSDISKURS VERSCHLEIERT REALITÄT 

Auch dieses Thema räsoniert durch alle Beiträge. Nicht eine EU-Grenzschutzagentur, die nicht alle Kapazitäten auf die Seenotrettung verlegt, ist rechtlich für das Sterben auf dem Mittelmeer haftbar zu machen, sondern der Rettungsschwimmer. Dieser erhält, weil er einen Flüchtling vor Lesbos aus dem Wasser zieht, ein Verfahren wegen Schleusung. Das Retten der Flüchtlinge ist rechtlich zu bearbeiten, nicht ihr lebensgefährliches Überqueren der Hohen See. NATO-Schiffe beobachten die Schleuser. Nicht etwa um die Flüchtlinge schnell retten zu können, sondern um die Routen und Techniken der Schleuser auszuspionieren. Diese Militarisierung der Flüchtlingspolitik kann argumentativ nur gerechtfertigt werden, wenn zuvor die Gefährlichkeit der Schlepper als die Hauptgefahr für die Flüchtlinge – und nicht etwa der fehlende legale Zugang nach Europa – diskursiv eingeführt wurde (vgl. Eick und Glöde, in diesem Heft).
Neben restriktiveren Rechtsrahmen sind diese intensiven ideologischen Debatten ein wesentliches Instrument in dem Kampf um die Deutungshoheit der aktuellen Krise der EU, nach anderer Lesart, der ›Flüchtlingskrise‹. Die Reaktion der Bundesrepublik auf die steigenden Zugangszahlen im Bereich Asyl pendelt zwischen der Aussage der Kanzlerin ›Wir schaffen das‹ und hektischen Gesetzesverabschiedungen, die sich im Wesentlichen als ›Symbolpolitik‹ qualifizieren lassen, wenngleich sie zu dramatischen Ausschlüssen an sozialer Teilhabe führen und eine massive Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz und des Grundsatzes der Verfahrensgerechtigkeit bedeuten. Ihr proklamier­tes Ziel, eine Verringerung der Zugangszahlen oder schnellere Asylverfahren, erreichen diese Gesetzesverschärfungen indes nicht. Die öffentliche Debatte von einem Parteichef zum anderen mündet umgehend in einem Gesetzesentwurf, der sodann im Hauruck-Verfahren durch das Parlament gejagt wird. Die intensive mediale Begleitung dieser Debatte schafft indes wiederum eigene Dynamiken. Die Politik sieht sich ihrerseits umso mehr genötigt, ›Handlungsfähigkeit‹ und ›Lösungen‹ zu präsentieren. Folge ist ein im Wesentlichen symbolisches Handeln. Mit immer neuen Gesetzesverschärfungen wird suggeriert, Flucht sei zu verhindern, indem in Deutschland Rechte von Flüchtlingen weitgehend abgebaut werden. Dieser Rechtsabbau soll exemplarisch an den folgenden zwei Beispielen dargestellt werden.

›SICHERE HERKUNFTSLÄNDER‹

Flüchtlinge, die aus ›sicheren Herkunftsländern‹ kommen und hier in angeblich unberechtigter Weise Asylanträge stellen – zunächst Westbalkan, zukünftig wohl Afghanistan sowie weitere Länder (vgl. Rusche und Hermanns, in diesem Heft) –, werden als eine der wesentlichen Ursachen der steigenden Flüchtlingszahlen definiert. In der Analyse der ›Flüchtlingskrise‹ werden unterschiedliche Sachverhalte ohne jede Hemmung – teilweise auch offensichtlich falsch – verknüpft. ›Bekämpfung der Schleuser‹ und ›Westbalkan‹ werden in einem Atemzug genannt. Dabei kommen die Flüchtlinge aus dem Westbalkan nun gerade ohne Schleuser, sie reisen visafrei ein. Diejenigen, die mit Schleusern reisen, kommen wiederum gerade aus den Ländern, die in Deutschland weit überdurchschnittliche Anerkennungsquoten haben, die also ›berechtigt‹ hier einen Asylantrag stellen. Bevor hierüber nachgedacht wird, hat die schnelllebige Debatte schon eine weitere Ursache der aktuellen ›Flüchtlingskrise‹ identifiziert: Asylsuchende aus Nordafrika. Es wird auch sogleich die Lösung präsentiert: Der Maghreb kommt auf die Liste der ›sicheren Herkunftsstaaten‹. Noch schnell das entsprechende Gesetzespaket auf den Weg bringen und ab zum nächsten Thema. Über den Westbalkan, der noch bis Herbst 2015 angeblich eines der entscheidenden Probleme in der ›Flüchtlingskrise‹ war, spricht 2016 niemand mehr. Hatte die Einstufung als ›sicheres Herkunftsland‹ eine Auswirkung auf die Fluchtbewegungen oder Migration aus diesem Land? Unwichtig! Bleiben wird das scheinbar mächtige Instrument der ›sicheren Herkunftsstaaten‹, über das die Politik angebliche Handlungs- und Lösungskompetenz unter Beweis stellen kann. Die Ironie des letzten Absatzes darf allerdings nicht vergessen lassen, dass es für die Betroffenen einen dramatischen Rechtsverlust bedeutet, aus einem ›sicheren Herkunftsstaat‹ zu stammen (vgl. Rusche, in diesem Heft). 

ASYLSCHNELLVERFAHREN

Europaweit gibt es Bemühungen ›beschleunigte Asylverfahren‹ einzuführen. Vorreiter waren die Niederlande, gefolgt von der Schweiz (vgl. Busch und Oomen, in diesem Heft). Beschleunigung an sich ist nicht problematisch. Dies ist sie nur dann, wenn über das Verfahren die materielle Rechtsausübung erschwert oder verunmöglicht wird. So hat das BVerfG 1996 in engen Grenzen ein Asylschnellverfahren wie das deutsche Flughafenverfahren für noch verfassungskonform erklärt, zugleich aber darauf hingewiesen, dass das Asylrecht in besonderer Weise ein verfahrensabhängiges Recht ist. Im Asylpaket II vom Februar 2016 will der Gesetzgeber dieses Asylschnellverfahren nun nicht mehr nur für Personen im Transitbereich anwenden, sondern es soll potentiell auf alle Flüchtlinge angewendet werden können, u.a. verbunden mit verheerenden Rechtswegverkürzungen. 

IV. ANTAGONISTISCHE RECHTSKOLLISION 

2015 hat gezeigt, dass das europäische Flüchtlingsregime nicht nur die Geschichte des Widerspruchs von Recht und Realität, von Theorie und Praxis ist. Es ist vielmehr durch einen Widerspruch geprägt, der unweigerlich und permanent zu einer Rechtskollision führt: Hier das subjektive, unveräußerliche Recht des Individuums resultierend aus der Menschenwürde, ein Leben in Sicherheit und Freiheit zu suchen. Dort ein Rechtsrahmen, der genau dieses Recht nicht anerkennt, sondern per se ohne Einschränkung von einem letztlich übergeordneten Recht der Staaten auf Grenzsicherung ausgeht. Nicht alle Vertreter dieser Auffassung sagen das so deutlich wie der ehemalige Verfassungsrichter Di Fabio,(2) in der Konsequenz läuft es auch bei moderateren Formulierungen darauf hinaus. Solange diese Kollision nicht übermächtig sichtbar wurde, konnte sie in das europäische Flüchtlingsregime integriert werden. Die Europäische Union konnte sogar den Friedensnobelpreis erhalten. Würde das Komitee heute den Kandidaten wählen müssen, käme es wohl nicht mehr auf die EU. Interessant ist dabei, dass sich die EU von 2012 in keiner Weise von der EU 2015 unterscheidet. Auch 2012 sind Menschen auf dem Weg nach Europa ertrunken, hat der ungarische Grenzschutz brutal geschlagen und Flüchtlinge nach Serbien ohne Verfahren abgeschoben etc. 

V. AUSBLICK 

Fluchtursachen lassen sich nicht durch Gesetzes­verschärfungen bekämpfen, auch wenn der Gesetzgeber nicht müde wird, diesen kausalen Nexus zu statuieren. Hätte er Recht, wäre die Welt sehr viel überschaubarer und einfacher. Bekannterweise gehen die Prognosen aber davon aus, dass es weltweit nicht weniger, sondern mehr Flüchtlinge geben wird. Logische Konsequenz müsste also die verstärkte Aufnahme von Flüchtlingen sein. Dem staatlichen Ziel der Begrenzung des Zugangs stehen existentielle Interessen der Betroffenen entgegen. Eine nachhaltige Bekämpfung von Fluchtursachen, massive Investitionen zum Aufbau echter außereuropäischer Fluchtalternativen wird es nicht geben. Beides wird weiter als Thema für Sonntagsreden reserviert werden. So kann die Begrenzung der Zahl der Schutzsuchenden, die Europa erreichen, letztlich nur über ein massives Zwangsregime umgesetzt werden. Dieses System wird konsequenter Weise auch vor aktiver Gewalt als Mittel der Politik nicht zurückschrecken. Folglich werden auch die gegenwärtigen Instrumente des europäischen Asyl- d.h. Grenzregimes dementsprechend entwickelt, was hier nur schlaglichtartig dargestellt werden kann. 

AUFBAU EINES HOTSPOT-SYSTEMS

Es geht um die Idee, dass Flüchtlinge über zentrale Eintrittspforten in die EU kommen. An diesen weisen sie sich mit Pässen aus. Sodann wird entschieden, wer in die EU darf und wer nicht und welches Land Europas sie aufnimmt (relocation). Was ist mit denen, die sich daran nicht halten? Deutschland hat bisher im Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz vom 23. Oktober 2015 vorgesehen, ihnen die Sozialleistungen weitestgehend zu entziehen und sie speziellen Aufnahmeeinrichtungen, sog. Registrierungszentren zuzuweisen. Anscheinend sind inzwischen vier dieser Zentren auf Lesbos, Samos, Leros und Chios in Betrieb. Das screening gehe sehr viel langsamer voran, da laut Aussage eines BMI-Vertreters im Rahmen einer Tagung im Februar 2016, dieses aufgrund der Unterstützung durch FRONTEX-Beamte ›gründlicher‹ erfolge. Aus Sicht der Kommission stellen die Mitgliedstaaten bisher allerdings nicht ausreichend Expertinnen und Experten zur Verfügung, die für FRONTEX und das EASO in den hotspots eingesetzt werden können. Auch seien nicht so viele Aufnahmeplätze geschaffen worden, wie geplant. In Italien sei die Situation ähnlich. Statt geplanter sechs, seien bisher nur die hotspots Lampedusa und Pozzallo in Betrieb. Von hier aus werden Personen bereits u.a. nach Tunesien, Ägypten und Nigeria zurückgeschoben; mit anderen afrikanischen Staaten laufen Gespräche über mögliche Rückübernahmeabkommen. Die Kommission verlangt von Italien, die Abschiebungen effektiver zu machen, mehr Menschen zur freiwilligen Rückreise zu bewegen und die Dauer der Abschiebehaft auszuweiten.(3)

EXTERNALISIERUNG

Die Türkei soll ›sicherer Drittstaat‹ werden und im Rahmen des Aktionsplans EU-Türkei  keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland lassen.(4) Alle Geflüchteten, die Griechenland dennoch erreichen, sollen umgehend zurückgesandt werden. Es soll für sie keinen Sinn mehr machen, Griechenland überhaupt zu erreichen. Bekämpfung des ›Schleuserunwesens‹ statt Seenotrettung ist oberste Priorität. Das hat u.a. dazu geführt, dass mittlerweile auch die NATO zur Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer zum Einsatz kommt (vgl. Eick, in diesem Heft). Ansonsten soll Druck vor allem auf die nord- und zentralafrikanischen Staaten (aber auch auf Asien), bezeichnet als ›Ausbau der bi- und multilateralen Beziehungen‹, ausgeübt werden mit dem Ziel, Migrationsbewegungen bereits dort zu unter­binden; verstärkte Abschottung der EU-Außengrenzen und/oder Schengen-Außengrenzen, ohne den ›freien‹ Handel zu behindern. 

AUFNAHME VON RUND 250.000 FLÜCHTLINGEN IN DIE EU-MITGLIEDSSTAATEN

Jede dieser ›Ideen‹ ist zum Zeitpunkt ihrer Geburt bereits zu ihrem endgültigen Scheitern verurteilt. Flüchtlinge werden versuchen, jenseits des hotspot-Systems Zugang nach Europa zu erhalten. Sie werden sich auch von immer riskanteren Fluchtwegen nicht aufhalten lassen. Auch die Idee der relocation ist offensichtlich gescheitert. Von den 160.000 Flüchtlingen, die laut Beschluss des EU-Rates Ende 2015 innerhalb der EU umverteilt werden sollten, wurden bisher knapp 600 verteilt. Dabei sollte dies ein wichtiger Baustein im Lösungskonzept der EU in der ›Flüchtlingskrise‹ sein. Deutschland sagt ganz offen, es habe bereits genug Menschen aufgenommen, jetzt seien die anderen dran. Aus Sicht der EU-Kommission ist die geringe Zahl der bisher verteilten Flüchtlinge nicht Ausdruck eines nicht vorhandenen gemeinsamen europäischen Asylsystems, sondern lediglich ein – wenn auch ernstes – Implementierungsproblem. Die Kommission bleibt somit Fürsprecher und Motor einer verfehlten Politik, in der ›die Flüchtlinge‹ das Problem sind.

VI. GRENZSICHERUNG STATT FLÜCHTLINGSRECHT? 

Ist damit die einzige Alternative vorgezeichnet, die Flüchtlinge – und zwar alle Flüchtlinge, unabhängig davon, ob sie nun aus ›sicheren Herkunftsländern‹ kommen oder nicht – effektiv, gegebenenfalls auch robust daran zu hindern, europäischen Boden zu betreten? Oder können wir darauf vertrauen, dass die EU-Staaten sich auch künftig nicht einigen können und sie so selbst eine noch effektivere Abschottungspolitik unterminieren? Aus genau diesem Grund hatte ja bereits das Dublin-System nie funktioniert. Es ist zu befürchten, dass dies eine zu optimistische Betrachtungsweise wäre – abgesehen davon, dass die EU-Staaten bereits jetzt effektiv für Leid und Tod von Tausenden von Menschen Verantwortung tragen. Die wöchentlichen Berichte des Alarmtelefons von Watch the Med berichten von den verzweifelten Überfahrten auf Hoher See.(5)
Im Flüchtlingsrecht geht es begriffsnotwendig um die individuelle Prüfung des Antrags auf Schutz. Es geht um den Einzelfall. Diesen in den Blick zu nehmen ist nicht Ausdruck eines ›naiven Gutmenschentums‹, sondern folgt aus dem Kerngehalt des Asylrechts an sich. Das Flüchtlingsrecht ist weiter zu entwickeln, Klimaflüchtlinge haben ebenso das Recht zu gehen und zu bleiben (vgl. Kreck, in diesem Heft), wie Menschen, die in ihren Ländern zu einem Leben ohne jede wirtschaftliche und soziale Teilhabe verurteilt sind, ohne Perspektive auf Veränderung, ohne Hoffnung auf Besserung.
Die gegenwärtige Entwicklung in Deutschland und Europa stützt sich im Bereich Asyl immer mehr auf standardisierte und rein prozedurale Entscheidungswege. Die materiellrechtliche Schutzverpflichtung, basierend auf internationalem, europäischem und nationalem Recht wird wegdefiniert. Es ist insofern konsequent, wenn Flucht nach Europa per se als ›illegal‹ deklariert wird.(6) Der entsprechende Diskurs läuft dann so: Schutz werde ja gewährt, nur eben nicht bei uns in Europa, sondern in der Türkei, die wir dann auch gerne solidarisch unterstützen, indem wir ihr ein paar Flüchtlinge freiwillig abnehmen. Und im Übrigen kämen viele, wenn nicht die meisten Flüchtlinge, eh aus sicheren Herkunftsländern. Schließlich würden die Flüchtlinge vor brutalen Schleppern geschützt, in dem die Fluchtrouten geschlossen würden. Da der Schutzpflicht gegenüber den Geflüchteten in dieser Sichtweise somit entweder Genüge getan ist oder diese gar nicht besteht, kann das eigentliche politische Ziel der radikalen Grenzsicherung ungebremst in den Vordergrund treten, welche letztlich nur mit Gewalt durchgesetzt werden kann. Denn alle, die die Grenze dennoch überqueren, tun dies nach dieser Lesart aus moralischer wie rechtlicher Sicht unrechtmäßig. Die gegenwärtige Politik definiert ein absolutes Recht auf Grenzsicherung und erhebt dieses über die Menschenrechte der Flüchtlinge. Diese Politik geschieht nicht nur in unserem Namen, sie betrifft uns alle, sie trifft uns im Kern unseres Selbstverständnisses, wonach alle Menschen gleiche Rechte haben. Aus diesem Konzept kann niemand per definition ausgeschlossen werden. 2015 hat gezeigt, dass es ein wie auch immer geartetes humanitäres Grenzregime in Europa nicht gibt und auch nicht geben kann. 

Berenice Böhlo ist Rechtsanwältin in Berlin und Vorstandsmitglied des RAV.

Fußnoten
(1) Vgl. Préoccupé par les mesures restrictives croissantes et plaide pour une intervention européenne efficace (12.02.2016), vgl. http://www.unhcr.fr/56bdeee6c.html.
(2) http://www.bayern.de/wp-content/uploads/2016/01/Gutachten_Bay_DiFabio_formatiert.pdf.
(3) http://bordermonitoring.eu/analyse/2016/02/eu-unter-zeitdruck/.
(4) http://ec.europa.eu/dgs/home-affairs/what-we-do/policies/european-agenda-migration/proposal-implementation-package/docs/managing_the_refugee_crisis_state_of_play_20160210_annex_01_en.pdf.
(5) http://www.watchthemed.net/.
(6) European Council Conclusions on Migration (18.02.2016): »In response to the migration crisis facing the EU, the objective must be to rapidly stem the flows, protect our external borders, reduce illegal migration and safeguard the integrity of the Schengen area«, vgl. http://www.consilium.europa.eu/en/press/press-releases/2016/02/18-euco-conclusions-migration/.