Free Berlin – from cars!
Eine machbare Utopie
Philipp Schulte
Die Blechlawinen, Abgaswerte und Verkehrstoten im heutigen Berlin muten an wie eine real gewordene Dystopie. Dabei könnte die Stadt so schön sein. Und sie müsste dringend klimafreundlicher werden. Deshalb hat die Initiative »Volksentscheid Berlin autofrei!« schon 2021 einen Gesetzentwurf vorgelegt: Warum er nötig ist, wie er sich von Verkehrs-Projekten in London oder Paris unterscheidet und welche Chancen er hat.
Schwer vorzustellen, aber eine autofreie Stadt ist möglich. Um das zu erreichen, hat die Initiative »Volksentscheid Berlin autofrei!« bereits im Sommer 2021 einen Gesetzentwurf vorgelegt. Der Ansatz ist ein Beispiel dafür, wie Klimaschutz und ökologische Transformation ohne ungerechte Preis- und Marktmechanismen gelingen können. Nachdem die erste Unterschriftensammlung erfolgreich abgeschlossen wurde, liegt das Gesetz bei Redaktionsschluss des InfoBriefs zur Prüfung beim Berliner Verfassungsgerichtshof (VerfGH).
Endlich weniger Konflikte
Obwohl mit 43 Prozent nicht einmal die Hälfte der Berliner Haushalte ein Auto besitzt, ist es, wie in sämtlichen deutschen Städten, allgegenwärtig. Die meiste Zeit steht es herum und verbraucht wertvolle öffentliche Fläche. Allein innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings sind derzeit 286 Hektar für das Parken von Autos reserviert, also fast so viel wie das gesamte Tempelhofer Feld (300 Hektar). Hinzu kommen knapp 700 Hektar für Fahrbahnen.1
In fahrenden Autos sitzen durchschnittlich nur 1,4 Personen, das entspricht einem Belegungsgrad von weniger als 30 Prozent2. Trotzdem stauen sie sich regelmäßig und verursachen immer wieder gefährliche Unfälle, Lärm, Feinstaub sowie klima- und gesundheitsschädliche Abgase. Während nur 26 Prozent aller Fahrten von den Menschen in Berlin mit dem Auto unternommen werden, verbraucht das Auto 58 Prozent der Verkehrsfläche. Für Fußverkehr sind nur 33 Prozent, für Radfahrende nur drei Prozent der Fläche vorgesehen.
Wie enorm sich die An- oder Abwesenheit von Autos in der Stadt auswirkt, haben die Stadtwerke Münster schon 1990 mit Aufstellungen in der Altstadt demonstriert. Auf den Fotos von der Aktion wird der übermäßige Platzverbrauch von Autos gegenüber Fahrrädern oder dem ÖPNV unmittelbar sichtbar.3 Neben den Konflikten über die Fläche und deren Nutzung, den schädlichen Emissionen, den Gefahren für die Gesundheit und vielen Unfällen, die Autos Tag für Tag verursachen, benachteiligen sie vor allem alle anderen Verkehrsteilnehmende. Hinter dem Produkt Auto, von dem weltweit rund 1,5 Milliarden existieren, stehen zudem zwei globale Konflikte: der um Ressourcen und der um Klimaschutz.
Wenn es um Rohstoffabbau geht, verläuft der Konflikt vielfach entlang (neo)kolonialer Ausbeutungsverhältnisse: Die Wertschöpfung und Nutzung der Produkte findet im globalen Norden statt, der Süden liefert, nach wie vor, die unverzichtbaren Rohstoffe für Verbrenner oder E-Autobatterien – ohne entsprechend an den Gewinnen beteiligt zu werden. Stattdessen landen dort die alten Autos, wenn sie im Norden aussortiert werden.
Die verheerenden ökologischen Folgen der Rohstoffgewinnung für immer mehr Neuwagen – pro Jahr weltweit circa 50 Millionen4 – und der immer stärker fortschreitende Klimawandel zerstören die Lebensgrundlagen und die Gesundheit der Menschen im globalen Süden, während die Verursacher in Europa und Nordamerika sich immer stärker gegen Flüchtende abschotten. Viele Menschen fliehen heute nicht nur vor Krieg und Verfolgung, sondern auch deshalb, weil es in ihren Herkunftsländern nicht mehr ausreichend Wasser gibt.
Die industrielle Fertigung und der Verkauf von Neuwagen sind für den globalen Norden zugleich systemrelevant, sie erscheinen unverzichtbar für Arbeitsmarkt und öffentlichen Haushalt. Die Sozialforscher Ulrich Brand und Markus Wissen bezeichnen diesen ausbeuterischen Zusammenhang als »imperiale Lebensweise« – mit katastrophalen Folgen für weite Teile der Welt.5
Es gibt also viele Gründe, Autos in Städten zu reduzieren – und zwar durch verbindliche Vorgaben. Dies wird sich allein schon wegen der gut vernetzten deutschen Autolobby nur mit einem direktdemokratischen Impuls aus der Bevölkerung durchsetzen lassen. Denn in den Ministerien und Parlamenten sitzen einfach zu viele Lakaien, die der Autolobby jeden Wunsch von den Lippen ablesen und die Versuche verbindlicher effektiver Regulierung sofort im Keim ersticken.
Verbindliche Vorgaben durch Verkehrswendegesetz
Schon im Sommer 2016 hat es in Berlin mit dem »Volksentscheid Fahrrad« einen direktdemokratischen Anlauf für eine Verkehrswende gegeben. Diese Initiative für mehr klima- und menschenfreundliche Mobilität war äußerst erfolgreich, sie hat damals in weniger als einem Monat mehr als 100.000 Unterschriften (bei einem Quorum von 20.000 in sechs Monaten) gesammelt und an den Senat des damaligen Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD) übergeben.
Er und sein Senat haben die Kraft der Initiative offenbar erkannt und sie dadurch entschärft, indem mit ihren Vertreter*innen über ein Berliner Mobilitätsgesetz verhandelt wurde, das das Parlament schließlich auch beschlossen hat. Der Volksentscheid wurde nicht fortgesetzt. Das Versprechen der Politik lautete, mehr öffentlichen Raum für den Umweltverbund, also Fuß-, Rad- und öffentlichen Nahverkehr, zur Verfügung zu stellen und Berlin auf diese Weise unattraktiver für die Autonutzung zu machen.
Allerdings enthält das Gesetz entscheidende Defizite. Es fehlt darin zum Beispiel an verbindlichen Vorgaben für die planende Verwaltung und an einer effektiven Kontrolle durch die Gerichte. Darüber hinaus verankert es keine (subjektiven) Klagerechte für Straßennutzer*innen und begrenzt die Zahl der platzraubenden Autos nicht. Für den Grundkonflikt von Autos versus Fuß-, Rad- und Nahverkehr enthält das Mobilitätsgesetz keine Lösung. Somit war absehbar, dass es die erhoffte Verkehrswende nicht bringen würde. Sieben Jahre später, im Sommer 2023, war von den versprochenen Radwegen gerade einmal ein Prozent (!) umgesetzt. Viele Pläne scheiterten am Unwillen der Verwaltung und am Platzbedarf der vielen Autos.
Mit diesen Erfahrungen haben wir, fünf klimainteressierte Jurist*innen, im Februar 2020 kurz vor Beginn der Corona-Pandemie begonnen, einen Gesetzentwurf für die Initiative »Volksentscheid Berlin autofrei!« zu erarbeiten. Schnell stand für uns fest, dass sich die Verkehrswende nur mit einer Abstimmung über ein konkretes Gesetz durchsetzen lässt. Anders als zuletzt etwa beim Volksentscheid von »Deutsche Wohnen & Co enteignen«, der als Entschließungsantrag nur einen Auftrag an den Senat zur Ausarbeitung eines Gesetzes formuliert, haben wir direkt ein Landesgesetz für einen Volksentscheid erarbeitet, das bei Zustimmung automatisch gültig würde, ganz ohne dass der Senat tätig werden müsste.
Genau ein Jahr später war der Entwurf unseres Gesetzes für gemeinwohlorientierte Straßennutzung, das heute Gegenstand des Volksentscheids ist, fertig. Er adressiert den durch die Autonutzung resultierenden Konflikt innerhalb des Berliner S-Bahnrings. Die angestrebte Reduktion der Autonutzung um etwa zwei Drittel würde den öffentlichen Raum befreien, der dann für andere, weniger platzraubende und immissionsintensive Nutzungen, zur Verfügung stünde. So kann das Vorhaben Flächen für genau die klimagerechte Infrastruktur und inklusive Stadtgestaltung freiräumen, die schon 2016 im Mobilitätsgesetz versprochen wurden.
Ist der Volksentscheid erfolgreich, verändert § 4 Abs. 1 unseres Gesetzes nach einer Übergangsfrist von vier Jahren unmittelbar die Widmung der Landesstraßen innerhalb der Berliner Umweltzone (entspricht dem S-Bahnring) und beschränkt ab dann den straßenrechtlich zulässigen Gemeingebrauch auf den Fuß-, Rad- und Nahverkehr, Taxen iSd. Personenbeförderungsgesetzes sowie auf den Verkehr zu öffentlichen Zwecken (»autoreduzierte Straße«). Wer dort ein Auto nutzen will, braucht einen Grund, wie etwa den gewerblichen Transport von Personen oder Gütern oder eine persönliche Mobilitätseinschränkung. Da es sich um eine rein straßenrechtliche (nicht straßenverkehrsrechtliche) Regelung handelt, gilt diese gleichermaßen für den fließenden wie für den ruhenden Verkehr.
Wenn ein gesetzlicher Erlaubnisgrund (§§ 7 bis 13) vorliegt, wird die Autonutzung durch ein Genehmigungsverfahren (§ 5 Abs. 2) oder durch ein Anzeigeverfahren für Kurzentschlossene, bei dem keine Entscheidung der Erlaubnisbehörde abgewartet werden muss (§ 5 Abs. 3), legalisiert. Zur schnellen und einfachen Bearbeitung soll besonders auf die digitalen Verwaltungsschnittstellen gemäß dem Onlinezugangsgesetz zurückgegriffen werden.
Gleiche Vorgaben für alle, statt Freifahrtschein für Reiche
In anderen Städten wie Paris und London gibt es bereits seit Jahren hohe Einfahrt- oder Parkgebühren in zentralen Innenstadtbereichen, um dort die Autonutzung zu reduzieren. Diese unterscheiden sich aber enorm von unserer Idee. Anders als beim Londoner citytax-Modell oder der Parkraumbewirtschaftung in Paris sollen für die Autonutzung in Berlin keine zusätzlichen Gebühren anfallen. Entscheidend ist hier allein, ob ein Erlaubnisgrund vorliegt oder nicht. Für die Fahrt kann dann das eigene oder ein geliehenes Auto verwendet werden.
Dieser regelbasierte Ansatz bildet eine Alternative zu markt- oder preisbasierten Instrumenten (wie CO₂-Zertifikate/Steuer mit Klimadividende). Er liefert ein Beispiel dafür, wie umweltschädliche Verhaltensweisen ohne den üblichen Freifahrtschein für Reiche, reguliert werden können. Dahinter steht die Beobachtung, dass, wenn sich alle gleichermaßen einschränken, dies vielfach die Akzeptanz in der Gesellschaft erhöht.
Problematisch ist der heute vorherrschende Eindruck, dass sich viele Menschen durch die Preis- und Kostensteigerungen einschränken müssen, während andere genug Geld haben, um sich weiter mit schweren Autos oder gar Privatjets fortzubewegen. Die Rechten nutzen diese Ungerechtigkeit, um Stimmung gegen Klimaschutz und Ressourcenschonung zu machen.
Mit dem Volksentscheid soll die Grundentscheidung über die Verkehrswende den Abstimmungsberechtigten übertragen werden. Dazu wurden im Sommer 2021 mehr als 50.000 Unterstützungsunterschriften vorgelegt. Seitdem prüfen Berliner Senat und VerfGH den Gesetzentwurf auf die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht.
Der Gutachter des Senats, Rechtsanwalt Klinger, hat keine Rechtsverstöße ermittelt. Dennoch glaubt der Berliner Senat, der Gesetzentwurf sei ein unverhältnismäßiger Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit und hat ihn dem Berliner VerfGH zur Prüfung vorgelegt.6 Wenn der VerfGH die Zulässigkeit des Volksbegehrens feststellt, wird das Verfahren mit einer Befassung durch das Parlament und der zweiten Unterschriftensammlung fortgesetzt. Dies wäre der nächste Schritt auf dem weiten aber machbaren Weg zu einem autofreien Berlin.
Mehr Infos unter: https://volksentscheid-berlin-autofrei.de
Philipp Schulte arbeitet als Rechtsanwalt für Umweltrecht in Berlin und hat das »Gesetz für gemeinwohlorientierte Straßennutzung« der Initiative mitentwickelt. Heute vertritt er die dahinter stehende Initiative im Vorlageverfahren des Senats vor dem Berliner Verfassungsgerichtshof. Er ist Mitglied im RAV.