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In the Year 2025

Strafrecht ohne Mauern

Helmut Pollähne

Die Mandantin befand sich – kurz vor ihrem 15. Geburtstag – in einer für sie ausweglosen Lage, familiär, persönlich, seelisch. Nach einem gescheiterten Suizidversuch nahm sie ein Messer mit in die Schule und stach es einem vor ihr sitzenden Mitschüler ohne erkennbaren Anlass in den Rücken. Dieser überlebte schwer verletzt. Von der Jugendkammer wurde sie schließlich der heil- und sozialpädagogischen Behandlung durch eine sachverständige Person unterstellt! Wie bitte?

Ein Ermittlungsverfahren zum Vorwurf des versuchten Mordes wurde eröffnet. Zunächst steuerte alles auf Jugendstrafvollzug zu, die 15-Jährige landete in U-Haft. Dass sie selbst genau dorthin wollte, in den Jugendknast, und deshalb die Tat begangen habe, ließ aufhorchen und an ihrem seelischen Zustand zweifeln. Danach wurden die Weichen auf Maßregelvollzug gestellt, wo sie bis auf Weiteres untergebracht war. Weil es in der forensischen Psychiatrie keinen Platz für ein junges Mädchen gab, war sie im Vollzug für Erwachsene. Das war, nebenbei gesagt, rechtswidrig. Die Jugendhilfe hielt sich nicht (mehr) für zuständig, die Kinder- und Jugendpsychiatrie ebenso wenig.

Das Urteil schien wie vorbestimmt: drei Jahre Jugendstrafe und Unterbringung gem. § 7 JGG i. V. m. § 63 StGB in der forensischen Psychiatrie. Die Verteidigung hatte gefordert, ihr gem. § 10 Abs. 2 JGG aufzuerlegen, sich »einer heilerzieherischen Behandlung durch einen Sachverständigen … zu unterziehen«. Diese Forderung löste bei allen anderen Verfahrensbeteiligten Kopfschütteln aus.

Das Urteil wurde vom BGH aufgehoben, weil ein Rücktritt vom Tötungsversuch nicht geprüft worden war. Bevor es in der neuen Verhandlung abermals zur Verurteilung – diesmal wegen gefährlicher Körperverletzung – kommen konnte, kam es zu zwei erstaunlichen kriminalpolitischen Wendungen, und hier beginnt die Utopie:

Erstens wurde die Jugendstrafe für bzw. gegen Jugendliche abgeschafft, die Bestrafungsmündigkeit also auf 18 Jahre angehoben. Zweitens wurde § 63 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Dem Landgericht waren nun beide stationären Sanktionen verschlossen: Weder kam der Jugendstrafvollzug gegen die inzwischen 16-Jährige in Betracht, noch eine zusätzliche oder alternative Unterbringung im geschlossenen Maßregelvollzug.

Die Verteidigung wies erneut auf die Option des § 10 Abs. 2 JGG hin, die im Zuge jener Wendungen lediglich zeitgemäß umformuliert wurde. Und abermals war Kopfschütteln zu verbuchen, nun aber in Richtung des Gesetzgebers, der mit seinen negativen Reformen Ratlosigkeit, wenn nicht Fassungslosigkeit ausgelöst habe: Dass der Jugendstrafjustiz nun die Hände gebunden seien, man in solchen Fällen nichts mehr tun könne, stimmte nicht – und hatte schon vorher nicht gestimmt, aber wie dem auch sei: Tatsächlich wurde der Mandantin nun die Weisung erteilt, sich der heil- und sozialpädagogischen Behandlung durch eine sachverständige Person zu unterziehen. Und noch etwas Gutes hatten die Reformen: Erstens nahm sich die Jugendhilfe wieder des ‚Falles‘ an, zweitens duckte sich die allgemeine Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht länger weg.

Negative Reformen positive Wendungen

Im Laufe der 2020er Jahre machte sich zunehmend die Auffassung breit, im Strafrecht im Allgemeinen und in der Sanktionspolitik im Besonderen sei eine Zeitenwende überfällig. Eine rationale liberale und menschenrechtsorientierte Kriminalpolitik dürfe nicht länger danach fragen, was gegen die bestehenden stationären Strafrechtsfolgen (Justiz- und Maßregelvollzug) spreche: Auf Grundlage empirischer Evaluation müsse belegt werden, was für jene Mauern spreche und ob sie anderes zu leisten imstande seien außer Exklusion. Andernfalls seien sogenannte negative Reformen alternativlos, mit dem Ziel, untaugliche, unangemessene und schädliche Strafrechtsfolgen – insbesondere solche, die mit Freiheitsentziehung verbunden sind – abzuschaffen. Erst danach sei zu prüfen, ob es neuer Reaktionsformen bedarf und gegebenenfalls welcher.

Der Abolitionismus nahm nach einer ersten Blütezeit in den 1970er und 80er Jahren wieder Fahrt auf. Und es blieb nicht bei akademischen Debatten, sondern es wurde nach konkreten Schritten gesucht, um dem Ziel eines Strafrechts ohne Mauern realpolitisch näher zu kommen. Eine dieser Strategien war die Ausarbeitung praktikabler Vorschläge im Zuge eines sektoralen Abolitionismus: anfangen in Teilbereichen, um zu sehen, wohin man käme, wenn man ginge; also zum Beispiel im Frauenstrafvollzug oder eben: im Jugend­strafvollzug.

Ein erster Schritt war bereits erfolgt: Nachdem die Reform der Geldstrafenvollstreckung und der Ersatzfreiheitsstrafe von 2023 im Wege der Evaluation als »nichts Halbes und nichts Ganzes« befunden wurde, besann sich der Gesetzgeber eines Besseren und ging den Weg zu Ende: Die Ersatzfreiheitsstrafe – ein kriminal- und sozialpolitisches Ärgernis ersten Ranges – wurde mit Wirkung vom 1.1.2025 abgeschafft.

Parallel dazu setzte sich die besorgniserregende Entwicklung im psychiatrischen Maßregelvollzug fort, der – trotz gesetzgeberischer Intentionen und Interventionen – weiterhin Zuwachsraten verbuchte und es nicht schaffte, die horrenden Aufenthaltsdauern zu verringern. Zunächst waren es engagierte Psychiatrieerfahrene, dann die DGSP und schließlich die Bundesländer, nicht zuletzt wegen der völlig aus dem Ruder laufenden Kosten: Der Forderung nach Abschaffung der forensischen Psychiatrie wurde nachgegeben.

Auch das hatte ein Vorspiel gehabt: Die Reform der Unterbringung gem. § 64 StGB in einer sog. Entziehungsanstalt (ebenfalls 2023) führte – billigend in Kauf genommen – dazu, dass die Maßregel immer seltener angeordnet und vollstreckt wurde, während gleichzeitig immer mehr bereits angeordnete Unterbringungen gem. § 67d Abs. 5 StGB für erledigt erklärt wurden. Die Einrichtungen leerten sich rasant, während – absehbar (und nach entsprechenden Vorwarnungen) – der Justizvollzug immer größere Probleme bekam, drogenabhängige Gefangene angemessen zu versorgen. Auch keine Lösung, aber jedenfalls war es konsequent, diese Maßregel mit Wirkung vom 1.1.2025 gleich ganz abzuschaffen.

Die Abschaffung des Jugendstrafvollzuges war eine alte Forderung, angefangen mit der Heraufsetzung der Bestrafungsmündigkeit auf 18 Jahre: Keine Freiheitsstrafen mehr gegen Kinder! Ernst gemacht mit dem Subsidiaritätsprinzip, das bereits in § 5 JGG angelegt war. Ausschöpfung von Alternativen, ohne am Ende doch wieder auf den Jugendknast zu verfallen.

Blick zurück nach vorn

Soweit der Blick zurück auf abolitionistische Erfolge »in the year 2025«. Alsdann nach vorne geschaut: Als nächstes gehört der Frauenstrafvollzug auf den Prüfstand. Er befindet sich schon lange in einer Legitimationskrise. Für den Großteil der Gefangenen erweist er sich als geschlossenes ‚Sanatorium‘. Betroffenen in ihren jeweiligen besonders prekären Lebenslagen die erforderlichen Hilfen zur Verfügung zu stellen, bedarf wahrlich keines Strafvollzuges in einem Gefängnis.

Die lebenslange Freiheitsstrafe gehört seit Langem und aus vielfältigen Gründen abgeschafft; die Argumente dafür gälte es, wieder und wieder in Erinnerung zu rufen. Seit Jahren wird über eine »Reform der Tötungsdelikte« gestritten – bisher scheiterte sie notorisch daran, dass verbissen an der »Leitwährung LL« festgehalten wird.

Die Sicherungsverwahrung ist der totalitäre Zugriff des Kriminaljustizsystems schlechthin – seit 1933! Auf der Basis fragwürdiger Prognose-Gutachten werden Menschen über ihr Strafende hinaus eingesperrt, unbefristet! In der Theorie kann sich jeder Individuen vorstellen, die man besser nicht frei herumlaufen sollte – sie im Einzelfall treffsicher zu identifizieren, ist jedoch notorisch zum Scheitern verurteilt: Auf Kosten der Freiheit, rechtsstaatlich inakzeptabel und menschenrechtlich unwürdig.

Und zu guter Letzt?!‚
Strafvollzug esse delendam!

Wo kämen wir hin
wenn keiner ginge
um zu sehen
wohin wir kämen
wenn wir gingen …

(frei nach Kurt Marti)

 

Helmut Pollähne ist Rechtsanwalt in Bremen und RAV-Mitglied, Honorarprofessor an der Universität Bremen und Redakteur der Fachzeitschrift Strafverteidiger sowie Autor bzw. Herausgeber zahlreicher Kommentare, Bücher und Aufsätze zu Strafverteidigung, Kriminologie, Menschenrechten, Vollstreckungs- und Vollzugsrecht sowie Forensischer Psychiatrie.

Zum Weiterlesen:
Hubertus Becker, Ritual Knast. Die Niederlage des Gefängnisses, 2008
Michael J. Coyle / David Scott (Hg.), The Routledge International Handbook of Penal Abolition, 2021
Angela Y. Davis, Are Prisons Obsolete? 2003
Angela Y. Davis u.a., Abolitionismus. Feminismus. Jetzt, 2023
Johannes Feest, Definitionsmacht, Renitenz und Abolitionismus, 2020
Thomas Galli, Weggesperrt: Warum Gefängnisse niemandem nützen, 2020
Ulrich Lewe, Vorbeugende Anhaltung. Der Maßregel­vollzug, 2022
Daniel Loick / Vanessa E. Thompson (Hg.), Abolitionismus, 2022
Knut Papendorf / Karl F. Schumann (Hg.), Kein schärfer Schwert, denn das für Freiheit streitet! (FS Thomas Mathiesen), 1993
Helmut Pollähne, Wider den (Kriminal-)Schuldturm für Arme nebst neun Thesen gegen die Ersatzfreiheitsstrafe, in: FS Cornelius Prittwitz, 2023, 723
Helmut Pollähne, Ausbruch aus dem Gefängnis des Knastsystems. 40 Jahre republikanischer Abolitionismus?! in: Volker Eick / Jörn Arnold (Hg.), 40 Jahre RAV, 2019, 171
Britta Rabe, Zwischen Praxis und Utopie: Alternativen zu Knast und Strafe, cilip 125 (4/2021) S. 23
Strafverteidigervereinigungen/Organisationsbüro (Thomas Uwer / Jasper v. Schlieffen), Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe (PolicyPaper), 2016
vorgänge 79 (1/1986), Schwerpunktthema »Das überholte Gefängnis«
vorgänge 243 (3/2023) Schwerpunktthema »Kritische Kriminalpolitik«