Ein Iran ohne Mullahs
Utopie als Weigerung, die Hoffnung aufzugeben
Daniela Sepehri
Für die Mehrheit der Menschen in Iran gibt es nur eine einzige Utopie. Aktuell leiden sie unter dem Regime der Islamischen Republik. Wer nicht in die Schablone der Mullahs passt, darf nicht sprechen, singen, zur Schule gehen – darf nicht sein. Wer das trotzdem wagt, wird ermordet. Dafür trägt der Westen eine Mitverantwortung – statt die Zivilbevölkerung zu unterstützen. Doch diese weigert sich, ihre Hoffnung auf Leben und Freiheit aufzugeben.
Stellen Sie sich eine Welt vor, in der es ganz normal ist, zu leben. Sie kräuseln bei diesem Satz vielleicht die Stirn, sind verwirrt. Ich lebe noch. Viele leben. Es ist doch normal, zu leben. Oder?
In der Islamischen Republik Iran ist es nicht normal, am Leben zu sein. Nicht, wenn du Kurd*in oder Belutsch*in bist, also zu den ethnisch marginalisierten Gruppen gehörst. Nicht, wenn du queer bist. Nicht, wenn du Bahá’í oder Christ*in bist. Nicht, wenn du eine Frau bist. Nicht, wenn du Menschlichkeit verspürst.
Wer in Iran Kurd*in, Belutsch*in, Bahá’í, queer ist oder anders vom faschistischen Weltbild der Mullahs abweicht, ist von Geburt an kriminalisiert. Das geht so weit, dass Belutsch*innen – eine ethnisch und religiös marginalisierte Gruppe, die vorwiegend im Südosten des Landes lebt – teilweise nicht einmal Geburtsurkunden ausgestellt bekommen und offiziell einfach nicht existieren. Deswegen ist es für das Regime auch so einfach, sie zu ermorden. Täglich wird in den Gefängnissen Belutschistans hingerichtet und teilweise kennen wir nicht mal die Namen derer, die vom Staat ermordet werden – weil es sie offiziell eben gar nicht gibt. Auch Afghan*innen müssen ein ähnliches Schicksal in Iran erdulden. Sie bekommen keine Ausweisdokumente, in Iran geborene Kinder von afghanischen Eltern bekommen keine Geburtsurkunde, sie können nicht in die Schule gehen, nicht studieren, sind »illegal«.
Auch Bahá’ís dürfen nicht studieren. Die religiöse Minderheit wird seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert in ihrem Ursprungssland Iran verfolgt. Seit dem Bestehen der Islamischen Republik Iran wurde diese Verfolgung weiter verschärft. Angehörige der Religionsgemeinschaft werden enteignet, festgenommen und zu langen Haftstrafen verurteilt. Mahvash Sabet und Fariba Kamalabadi saßen beide jeweils zehn Jahre in Haft, weil sie Bahá’ís sind. Vier Jahre nach ihrer Freilassung wurden sie erneut festgenommen und für dasselbe »Verbrechen« nochmal zu jeweils zehn Jahren Haft verurteilt. Während des Verhörs wurden der 70-jährigen Mahvash Sabet die Kniescheiben gebrochen.
Auch als Frau bist du aus Sicht des Mullah-Regimes kriminell. Vor allem, wenn du es wagst, über deinen Körper, über dein Leben selbst entscheiden zu wollen. Es ist ein Krieg gegen Frauen, den das Regime führt. Das betonen Betroffene immer wieder. Nach dem Angriff der Islamischen Republik auf Israel im April 2024 hat sich dieser Krieg im Inland weiter verschärft.
Die Islamische Republik Iran ist ein Gender-Apartheid-Staat. Um das zu wissen, reicht es schon, einen Blick in die Gesetze des Landes zu werfen, in denen ganz eindeutig festgehalten ist, dass Frauen in diesem Staat Bürgerinnen zweiter Klasse sind. Diese Gender-Apartheid gehört zum Fundament des Regimes.
Die Islamische Republik Iran verfolgt zwei Ziele, hat quasi eine doppelte Staatsräson: die Auslöschung Israels und die Unterdrückung von Frauen. Beide sind eng miteinander verknüpft. Sobald es für das Regime außenpolitisch nicht gut läuft, agiert es innenpolitisch strenger – und umgekehrt. Daraus ist zu schließen: Es geht die Weltgemeinschaft sehr wohl etwas an, wenn Menschen in Iran unterdrückt und ermordet werden.
Nach dem Angriff auf Israel wurden in den letzten zwei Aprilwochen des Jahres 2024 mindestens 63 Personen hingerichtet. Das macht durchschnittlich eine Hinrichtung alle fünf Stunden. Am Morgen des 19. Mai 2024 wurden allein im Urmia-Gefängnis mindestens fünf Personen, darunter eine 53-jährige krebskranke Frau, hingerichtet. In derselben Region stürzte wenig später der Helikopter des Präsidenten Ebrahim Raisi ab, wo dieser schließlich verstarb. Welch Ironie des Schicksals!
Raisi war nicht nur irgendein Präsident. Er war ein Massenmörder, der in den 1980er Jahren als stellvertretender Generalstaatsanwalt von Teheran an außergerichtlichen Massenexekutionen von politischen Gefangenen beteiligt war. Für diese Verbrechen wurde er nie vor ein Gericht gestellt; im Gegenteil: 2019 wurde er zum Justizchef befördert und 2021 – auf Wunsch des obersten Führers Ali Khamenei – Präsident des Landes.
Auch Außenminister Hossein Amir-Abdollahian, der mit Raisi verunglückte, klebte Blut an den Händen. Als Außenminister von Iran hat er aktiv Terrororganisationen in der Region unterstützt, wie die Hamas, die Hisbollah und die Huthis. Es gibt keinen Krieg auf der Welt, in dem die Islamische Republik Iran nicht auf die eine oder andere Weise ihre Finger mit im Spiel hat.
Die Islamische Republik Iran ist nicht nur eine Gefahr für die Bevölkerung von Iran, sondern für die ganze Welt. Wo auch immer das Regime aktiv ist, sorgt es für Elend und Tod. Das wissen die Menschen in Iran sehr genau. Während sie für »Frau Leben Freiheit« auf die Straße gehen und für Frieden und Demokratie kämpfen, kämpfen sie auch für das Leben von Israelis, Palästinenser*innen, Ukrainer*innen, Afghan*innen, Syrer*innen und allen anderen, die unter der Islamischen Republik Iran leiden.
Von Europa werden sie dabei aber im Stich gelassen. Durch Handel und Gespräche legitimiert Europa dieses Regime immer weiter. Man müsse »einen Zugang« zum Regime haben, um »Veränderungen« zu erreichen, heißt es von Verteidiger*innen dieser Appeasement-Politik. Dass dieser »Zugang« in den letzten Jahrzehnten keine »Veränderung« gebracht hat, will scheinbar niemand einsehen.
Statt die Zivilbevölkerung in Iran ernst zu nehmen, hören wir scheinbar lieber auf Apologet*innen des Regimes, die uns flüstern, dass die Mullahs »Stabilität« brächten. Sie behaupten, wenn das Regime stürzte, herrschten »Chaos und Instabilität«. Was für ein Hohn! Was für ein Schlag ins Gesicht der abertausenden Toten! Es ist nicht zu leugnen, dass es die Islamische Republik selbst ist, die für Instabilität und Chaos sowie Krieg und Terror in der Region verantwortlich ist.
Solange das Regime in Iran sich hält, kann es keinen Frieden, keine Stabilität in der Region geben. Denn das ist nicht im Interesse der Mullahs. Frieden und Stabilität kann es nur durch den Sturz der Islamischen Republik geben. Und dafür braucht es Unterstützung für die iranische Zivilgesellschaft.
Eine Welt ohne Mullahs – das wäre eine Welt, in der der Nahe und Mittlere Osten die Chance bekäme, aufzuatmen. Es wäre eine Welt, in der niemand in Iran mehr Angst haben müsste, seine oder ihre Meinung zu sagen, seine oder ihre Religion zu praktizieren, seine oder ihre Sprache zu sprechen, seinem oder ihrem Beruf nachzugehen, seine oder ihre Identität zu umarmen, seine oder ihre Lieder zu singen, seine oder ihre Tänze zu tanzen, seine oder ihre Freude zu verbreiten – sein und ihr Leben zu leben. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der das alles normal ist. In der es normal ist, zu leben.
Daniela Sepehri ist Aktivistin und Journalistin mit Fokus auf Iran. Sie lebt und arbeitet in Berlin.