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Eine Welt ohne Titel

Vivian Kube

Akademische Titel anzugeben, ist in rein journalistischen Texten unüblich, anders in juristischen Fachpublikationen wie Legal Tribune Online oder dem Verfassungsblog. Da wir als Redaktion den InfoBrief sowohl als journalistisches als auch juristisches Fachblatt verstehen, haben wir uns gefragt, wie wir das handhaben wollen.

Mehr als 100 Jahre nach der Novemberrevolution, als in Deutschland die Adelstitel abgeschafft wurden, wird auf akademische Titel vielerorts noch großer Wert gelegt. Auch wir Jurist*innen schmücken unsere Schriftsätze und E-Mail-Signaturen gerne damit. Gerade in der konservativen Juristerei, aber auch in Wissenschaft und Politik sowie im Alltag wird einer Person mit Doktortitel mehr Fachwissen, Glaubwürdigkeit und Autorität zugeschrieben – sogar wenn wir wissen, dass die zur Titelführung berechtigende wissenschaftliche Auseinandersetzung gar nichts mit dem Streitgegenstand zu tun hat1. Das ist so ähnlich wie mit Brillenträger*innen, die von anderen, oft unbewusst, für intelligenter gehalten werden, als Menschen ohne Brille.

Während es recht einfach ist, eine Brille aufzusetzen, lässt sich ein Doktortitel nicht so schnell erlangen. Andererseits ist es auch nicht ganz so schwierig, wie zum Beispiel als Frau ein Mann zu werden. Auch letztere werden in unserer Gesellschaft als kompetenter wahrgenommen. Einen Doktortitel zu erlangen kann unter Umständen auch einfacher sein, als seinen arabisch klingenden Nachnamen gegen einen deutsch klingenden einzutauschen.

All das zeigt: Ein Doktortitel kann diskriminierende Zuschreibungen durchaus kompensieren, seien diese rassistisch, sexistisch oder aufgrund der vermuteten sozialen Herkunft. Mit einem Doktortitel öffnen sich – zum Beispiel für eine migrantische Frau – plötzlich Türen zu Räumen, zu denen sie sonst nie Zutritt gehabt hätte!

Zugleich ist es ein Privileg, den Titel nach Gusto ablegen zu können, etwa weil es in bestimmten Kreisen heutzutage wieder besser ankommt, ohne Dr. aufzutreten. Allein: Auf die Angabe der akademischen Titel zu verzichten, hebt die bewussten und unbewussten Vorteile nicht auf. Trotzdem kann es einen interessanten Effekt haben.

Bestimmt kennt die eine oder der andere den US-amerikanischen Philosophen John Rawls (1921-2002). Ein wichtiger Bestandteil seiner Gerechtigkeitstheorie ist das Gedankenexperiment »Schleier des Nichtwissens« (Englisch: veil of ignorance). Dabei sollen sich die Menschen vorstellen, dass sie über eine künftige Gesellschaftsordnung entscheiden sollen, ohne zu wissen, welchen Status sie selbst darin einnehmen würden.

Lasst uns den Schleier des Nichtwissens nun einmal über die akademischen Titel legen: Sehen wir sie nicht, sondern allein die Namen von Menschen, betrachten wir diese freier – ohne sie sofort (unbewusst) einer bestimmten Status-Gruppe zuzuordnen und ohne Zuschreibungen vorzunehmen.

Das ermöglicht uns, unserem Gegenüber ernsthaft und aufrichtig zuzuhören. Und zuzuhören lohnt sich immer, egal wem und egal, welchen Titel ein Mensch trägt. Denn es gibt viele unterschiedliche Erfahrungen, von denen wir lernen können. Und so beginnen wir diesen InfoBrief mit einer Utopie, die wir jetzt schon leben können: Wir verzichten auf die Nennung sämtlicher akademischer Titel.

Vivian Kube ist Rechtsanwältin in Berlin und arbeitet für FragDenStaat. Sie ist Mitglied im RAV und engagiert sich seit Neustem auch in der Redaktion des InfoBriefs.

1    vgl. Study on the Impact of Academic Titles on Credibility (2007), Studie von Köhler (2021)