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#unteilbar hat sich aufgelöst

Zeit für einen neuen Aufbruch

Franziska Nedelmann & Ulrich von Klinggräff

Im Sommer 2018 entstand in einem kleinen Kreis von im RAV organisierten Anwält*innen die Idee, dem gesellschaftlichen Rechtsruck mit einer Groß-demonstration etwas entgegenzusetzen. Es war die Zeit, in der viele von uns wahrnahmen, wie sich der gesellschaftliche Diskurs dramatisch nach rechts verschoben hat, wie rechtsradikale Positionen plötzlich in der Mitte der Gesellschaft aufgenommen wurden und rassistische und menschenfeindliche Hetze immer weiter zunahmen. Es war die Zeit, in der Politiker*innen von der »Anti-Abschiebe-Industrie« und einem »Asyl-Tourismus« schwafelten oder eine »konservative Revolution« herbeiredeten.
Wir nahmen wahr, wie in dieser Gesellschaft etwas fundamental ins Rutschen geraten ist und wie hilflos und erstarrt die Zivilgesellschaft hierauf reagierte. Die Gefahr, die wir für die Demokratie und den Rechtsstaat gesehen haben, betraf in spezieller Weise auch unsere Arbeit als Rechtsanwält*innen.
Kolleg*innen wurden in der Öffentlichkeit angegriffen und beschimpft, die Rechte unserer Mandant*innen – insbesondere im Migrationsrecht – wurden von führenden Politiker*innen aus den Reihen der CDU/CSU immer weiter zur Disposition gestellt.
Es ging uns von Anfang an darum, diesem Angriff mit einem neuen Bündnis, einer breiten zivilgesellschaftlichen Allianz entgegenzutreten: im Augenblick der Gefahr das Gemeinsame zu suchen und über alle Unterscheide hinweg gemeinsam handlungsfähig zu werden.
Die Dynamik, die sich dann in diesen Wochen im Sommer 2018 entwickelte, war beispiellos und auch für den RAV als Teil des Bündnisses ein einzigartiges Erlebnis.
Aus unserem kleinen Kreis entwickelte sich in kurzer Zeit ein Bündnis von hunderten Initiativen, Vereinen und Organisationen, die schließlich für den 13. Oktober 2018 unter dem Namen #unteilbar zur Großdemonstration unter dem Slogan: »Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung« aufriefen.

Viele von uns waren damals wochenlang daran beteiligt, den komplizierten Bündnisprozess zu begleiten, an einem gemeinsamen Aufruftext zu schreiben, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben und ein fulminantes Bühnenprogramm für die Abschlusskundgebung zu organisieren. Wir können uns nicht daran erinnern, dass im RAV jemals gleichzeitig so viele Mitglieder an einem gemeinsamen Projekt beteiligt waren.
Das Ergebnis war die Berliner Demonstration mit 242.000 Teilnehmer*innen. Die Gesellschaft der Vielen hat sich an diesem Tag in ihrer ganzen Diversität und ihren Gemeinsamkeiten eindrucksvoll auf der Straße gezeigt, in einem Bühnenprogramm einen Ausdruck dieser solidarischen Vielfalt gefunden und leise Stimmen lauter werden lassen.
Oder wie die taz am nächsten Tag schrieb: »Die #unteilbar-Demo hat den Raum geweitet – von der Migrationssolidarität auf die soziale Frage, auf Gender, auf Grundrechte, auf Fragen demokratischer Teilhabe. Das war klug«.
Das war, wenn man so will, das Herzstück des #unteilbar-Gedankens: Wir lassen uns nicht gegeneinander ausspielen. Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden.
Die Kraft dieser Demonstration führte uns dazu, das Bündnis über diesen Tag im Oktober 2018 hinauszuführen und die Strukturen von #unteilbar zu verstetigen. Der RAV entschied sich, sich weiterhin an dem Projekt zu beteiligen.

Für einen gesellschaftlichen Antifaschismus

Mit einer weiteren Großdemonstration mit 40.000 Teilnehmer*innen in Dresden im August 2019, mit der Demonstration »Kein Fußbreit – Antisemitismus und Rassismus töten« nach dem Anschlag in Halle 2019, und auf der »Nicht mit uns!«-Demo in Erfurt nach der mit den Stimmen der AfD erfolgten Wahl Kemmerichs (FDP) zum thüringischen Ministerpräsidenten 2020 sowie mit vielen kleineren Aktionen und Veranstaltungen haben wir in der Folgezeit den politischen Diskurs als solidarische Gesellschaft mit geprägt und insbesondere auch im Osten versucht, den gesellschaftlichen Antifaschismus zu stärken. Vor allem Erfurt hat gezeigt, dass #unteilbar durch die verbindlichen Strukturen und das gewachsene Vertrauen innerhalb der Bündnisorganisationen in der Lage war, innerhalb von nur wenigen Tagen eine gemeinsame politische Antwort auf die Straße zu tragen.

Die Pandemie – nur ein Aspekt…

Mit Beginn der Pandemie aber geriet #unteilbar zunehmend in Schwierigkeiten. Große Veranstaltungen waren verantwortungsbewusst nicht mehr durchzuführen. Andere Aktionen, wie etwa eine Menschenkette durch Berlin – das »Band der Solidarität« – konnten keine Dynamik und Kraft mehr entwickeln.
Gleichzeitig ist es aber zu einfach, die beginnenden Schwierigkeiten allein mit der Pandemie zu begründen. Denn auch die Verstetigung der Strukturen bei #unteilbar und die Professionalisierung erwiesen sich zunehmend als Problem, als bewegungshemmendes Moment.
Die Einbindung auch großer Organisationen wie Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften war einerseits immer das Ziel unserer Bündnispolitik. Gleichzeitig aber führte dies zu einer Unbeweglich- und Schwerfälligkeit bei der Entscheidungsfindung. Die Notwendigkeit einer Konsensfindung bedeutet eben auch, keine schnellen Entscheidungen mehr treffen zu können. Und es bedeutet, viele Abstriche bei den eigenen Forderungen machen zu müssen. So ist etwa sehr schnell deutlich geworden, dass es bei dem Thema der Polizeigewalt nicht möglich war, sich auf eine gemeinsame Position zu verständigen, obwohl es so wichtig gewesen wäre, die Black Lives Matter-Bewegung zu unterstützen.

Der Verlust von Dynamik

Der Wunsch, einerseits die große Bündnisbreite erhalten zu wollen und gleichzeitig zu gemeinsamen politischen Interventionen zu gelangen, ließ sich oftmals in den langwierigen und ermüdenden Diskussionen nicht mehr umsetzen. Und wenn es dann doch zu einer Verständigung kam, so waren die gefundenen Formulierungen im Laufe der Diskussionen oft floskelhaft und allgemein. Eine Kraft und Dynamik ließ sich immer weniger herstellen.
Zudem war das Phänomen zu beobachten, dass gleichzeitig von außen sehr große Erwartungshaltungen an #unteilbar herangetragen wurden, gleichzeitig aber die Zahl der Aktivist*innen kontinuierlich abnahm. Es entwickelte sich bei vielen Organisationen eine Art von Dienstleistungsmentalität: Einerseits wurde die Wichtigkeit des Bündnisses sehr wortreich betont, andererseits aber bestand das Engagement vieler Organisationen zunehmend allein darin, den jeweiligen Aufruf zu zeichnen, ohne aber auch eigene Ressourcen in die Bündnisarbeit zu stecken. Für den kleinen Kern der Aktivist*innen, zu dem auch der RAV gehörte, bedeutete dies eine auf Dauer nicht zu leistende Arbeitsbelastung.
Kleinere aktivistische Gruppen, etwa aus dem linksradikalen, dem feministischen und migrantischen Bereich und unorganisierte Einzelpersonen, die in der Anfangszeit von #unteilbar ganz wesentlich die Ausrichtung des Bündnisses bestimmt hatten, haben sich nach und nach zurückgezogen. Auch die Beteiligung aus dem RAV hat kontinuierlich nachgelassen.

Nicht so einfach: Neue Allianzen

Beispielhaft lassen sich die Probleme, vor denen #unteilbar ab 2020 stand, an der letzten großen Demonstration am 4. September 2022 in Berlin festmachen. Zwar gelang es noch einmal, unter dem Motto »#unteilbar – für eine solidarische und gerechte Gesellschaft« in einem großen Bündnis an die 30.000 Menschen auf die Straße zu bringen. Gleichzeitig aber mussten wir feststellen, dass von dieser Demonstration keine politische Kraft mehr ausging. Es hatte, wie die Süddeutsche Zeitung zutreffend schrieb, den Charakter eines »Familientreffens«, also einer traditionellen Zusammenkunft mit ritualisierten Zeremonien. Eine Spontaneität, ein Gefühl eines Aufbruchs von unten konnte diese Demonstration nicht mehr entwickeln.
Festzustellen war insgesamt, dass der Bewegungszyklus, der 2018 nicht nur bei #unteilbar viele Menschen auf die Straße gebracht hatte, zu Ende ging. In diesem Jahr war es nicht nur die #unteilbar-Demonstration: es gab #Ausgehetzt und die Proteste gegen das neue Polizeigesetz in München mit vielen 10.000 Teilnehmerinnen, es gab die beeindruckende antirassistische We‘ll Come United-Parade in Hamburg und das »Wir sind mehr!«-Festival in Chemnitz.

Die Pandemie, die Inflation und der Krieg in der Ukraine haben neue gesellschaftliche, vor allem soziale Fragen aufgeworfen, auf die keine gemeinsame politische Antwort mehr gefunden worden ist. Das liegt vielleicht auch daran, dass viele von denen, die sich von #unteilbar angesprochen gefühlt haben und sich mobilisieren ließen, mit der Wahl der Ampelkoalition Hoffnungen auf eine positive Entwicklung der Politik verbanden und außerdem weniger von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Oder anders formuliert: Es ist mit #unteilbar phasenweise gelungen, die progressive und demokratische Mittelschicht und die Betroffenen von kultureller und identitätspolitischer Ausgrenzung zu mobilisieren. Das ist in Zeiten, in denen insbesondere die bürgerliche Mitte bedenklich ins Rutschen gerät, nicht wenig. Eine Verbindung diskriminierter Minderheiten und bürgerrechtlicher Bewegungen aber mit der Klasse, die den sozialen Verwerfungen in erster Linie ausgesetzt ist, hat über den Versuch der Erzeugung einiger symbolischer Bilder letztlich nicht funktioniert. Letztlich müssen wir uns eingestehen, dass es uns trotz unseres Versuches, die Vision einer solidarischen und sozial gerechten Gesellschaft in den Vordergrund zu stellen, nicht gelungen ist, in den sozialen Fragen tatsächlich eine Bewegungsdynamik zu entwickeln.

Weiter geht‘s!

Angesichts der so dringend erforderlichen klima- und sozialpolitischen Veränderungen hatten wir den Eindruck, dass wir mit den an uns gerichteten Erwartungen überfordert sind und Gefahr laufen, einen neuen Aufbruch eher zu bremsen als diesen unterstützen zu können.
Wir alle haben uns trotzdem mit der Auflösungsentscheidung schwergetan und diese lange herausgezögert. Wir werden die gute Diskussionskultur bei #unteilbar, den respekt- und vertrauensvollen Umgang miteinander vermissen. Es war für uns alle eine wichtige Erfahrung, über den eigenen politischen Tellerrand hinauszuschauen.

Der RAV hat über die gemeinsame politische Arbeit bei #unteilbar nicht zuletzt wichtige Kontakte knüpfen können, die wir auch in Zukunft nutzen werden und wollen.
Die Wege zu anderen Organisationen und zu Bündnissen sind kürzer geworden – dies haben wir z.B. feststellen können bei unserer Kundgebung am 23. April 2020 vor dem Brandenburger Tor für die Evakuierung der Menschen aus den Lagern in Griechenland oder bei der gemeinsamen Kundgebung von acht Jurist*innenorganisationen am 7. November 2022 gegen die Todesstrafen und die Menschenrechtsverletzungen im Iran.

Und wir wissen, dass es in Zukunft wichtiger denn je sein wird, neue große Allianzen gegen den Angriff von Rechts, für Klimagerechtigkeit und ein solidarisches Miteinander zu schmieden. Der RAV wird sich hieran mit Sicherheit wieder beteiligen. Es wird dabei dann auch darum gehen, die Erfahrungen, die wir gemeinsam bei #unteilbar gemacht haben, zu nutzen.

Franziska Nedelmann ist Rechtsanwältin in Berlin und stellvertretende Vorsitzende des RAV. Ulrich von Klinggräff ist Rechtsanwalt in Berlin und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV; beide waren maßgeblich am Aufbau des #unteilbar-Bündnis beteiligt.
Die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.