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Strategische Prozessführung in der sozialen Krise

Mit Recht gegen die Ungleichheit

Sarah Lincoln

Unter #IchbinArmutsbetroffen schildern Menschen auf Twitter seit einigen Monaten ihre finanziellen Schwierigkeiten und fragen sich, wie sie angesichts von Inflation und Energiekrise über die Runden kommen sollen. Die Tafeln verzeichnen 2022 einen Anstieg um 50 Prozent. Dem Paritätischen Armutsbericht 2022 zufolge leben über 16 Prozent der Menschen in Deutschland in Armut, Tendenz steigend.

Doch existenzielle Sorgen sind längst nicht mehr denjenigen vorbehalten, die nach offiziellen Definitionen armutsgefährdet sind. Die sozialen Auswirkungen von Pandemie und Krieg sind weit in die Mittelschicht spürbar. Immer mehr Menschen in Deutschland machen sich Sorgen, ob sie ihre Rechnungen begleichen können. Denn die aktuellen Preissteigerungen treffen auf eine Gesellschaft, in der die ungleiche Verteilung von Einkommen und insbesondere Vermögen seit Jahren zunimmt, in der selbst vergleichsweise gutverdienende Menschen in den Großstädten keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden. Während der Pandemie ist vielen Menschen zudem zum ersten Mal bewusstgeworden, wie angeschlagen unser Gesundheitssystem ist und dass keineswegs Verlass auf eine angemessene Notfallversorgung ist, ganz zu schweigen vom maroden Pflegesystem.

Umverteilung von oben nach unten

Auf die soziale Krise braucht es politische Antworten: Eine Umverteilung von oben nach unten durch eine gerechte Besteuerung von Vermögen, eine zielgerichtete Entlastung für jene, die Unterstützung dringend brauchen, ein Moratorium für Strom- und Gassperren, eine deutliche Erhöhung der Grundsicherung und eine umfassende Pflege und Gesundheitsreform, um nur einige Ansätze zu nennen.
Gerade in der aktuellen Krise lohnt sich aber auch der Blick auf die sozialen Rechte – und wie wir sie für unsere Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit einsetzen können.
Denn wir sollten nicht vergessen, dass wir hier nicht über Almosen oder Geschenke sprechen. Soziale Sicherheit, Gesundheitsversorgung, Wohnraum – das sind soziale Menschenrechte, zu denen sich die Bundesregierung in den UN-Menschenrechtsverträgen verpflichtet hat und die als Teil der Menschenwürde und des Sozialstaatsprinzips auch im Grundgesetz verankert sind. Es ist nicht nur eine individuelle Tragödie, wenn Menschen aus ihren Wohnungen verdrängt werden, sie keine angemessene Gesundheitsversorgung oder weniger als das Existenzminimum an staatlicher Unterstützung erhalten. Es handelt sich dabei immer auch um Rechtsverletzungen.

CDU-Hetze gegen Bürgergeld

Derzeit wird etwa von konservativer Seite gegen das geplante Bürgergeld gehetzt. Arbeit lohne sich dann nicht mehr, so die Union. Wenig Beachtung findet in dieser Debatte, dass die geplante Erhöhung um 50 Euro zum 1. Januar gerade so die Inflation ausgleicht und Leistungsbezieher*innen im Jahr 2022 deutlich unterhalb des Existenzminimums gelebt haben. Denn trotz einer Inflation von derzeit zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr wurden die Sozialleistungen im laufenden Jahr nicht angepasst. Die Erhöhung um drei Euro im Januar 2022 war angesichts der enormen Inflation völlig unzureichend, die Fehlbeträge belaufen sich in diesem Jahr je nach Monat und Inflationsrate auf 20 bis 50 Euro, bei einem Regelsatz von 449 Euro keine unerhebliche Lücke. Mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben ist diese Unterdeckung nicht vereinbar. Das Bundesverfassungsgericht hat 2014 entschieden, dass die Grundleistungen bei stabiler Preisentwicklung gerade noch an der Grenze des verfassungsrechtlich Gebotenen sind und der Gesetzgeber auf Preissteigerungen zeitnah reagieren muss.

Klagen für soziale Rechte

Die Sozialverbände VdK und SoVD klagen daher gemeinsam mit Betroffenen gegen die niedrige Grundsicherung und wollen eine grundsätzliche Klärung erreichen, dass Sozialleistungen zeitnah an die Inflation angepasst werden müssen.[1]
Auch der Gesellschaft für Freiheitsrechte ist strategische Prozessführung für soziale Rechte ein zentrales Anliegen. Denn für uns ist klar: Bürgerlich-politische Rechte und soziale Rechte sind unteilbar. Ohne soziale Sicherheit können individuelle Freiheiten häufig gar nicht wahrgenommen werden. Soziale Rechte ermöglichen die Teilhabe an Gesellschaft, Kultur und Politik. Von Armut betroffene Menschen haben häufig weder Kraft noch Zeit, ihre bürgerlich-politischen Rechte zu leben. Oder um es mit Hannah Arendt zu sagen: »Frei ist erst, wer als Gleicher unter Gleichen am öffentlichen politischen Leben teilnehmen kann«. Auch für uns ist Freiheit keine Freiheit, wenn sie nicht gleiche Freiheit ist, die auch tatsächlich für alle verfügbar ist.

Geflüchtete…

Eine Gruppe, um deren sozialen Rechte es in Deutschland besonders schlecht steht, sind Geflüchtete. Die Sozialhilfe für Asylsuchende liegt deutlich unter dem Hartz IV-Regelsatz, der in Deutschland das Existenzminimum sichern soll. Die aktuellen Preissteigerungen verschärfen die Notlage noch. Wer in einer Sammelunterkunft für Geflüchtete lebt, bekommt die ohnehin niedrigen Leistungen seit 2019 um weitere zehn Prozent gekürzt. Denn die große Koalition war der Überzeugung, dass Geflüchtete in Sammelunterkünften wie Eheleute zusammen wirtschaften und dabei Einspareffekte erzielen. Zur Verfassungswidrigkeit dieser Kürzung hat die Gesellschaft für Freiheitsrechte einen Mustervorlagebeschluss für Sozialgerichte veröffentlicht. Das Sozialgericht Düsseldorf hat diese Vorlage aufgegriffen und dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt.[2]
Über diesen Vorlagebeschluss und einen weiteren Vorlagebeschluss des Landessozialgerichts NRW zu den niedrigen Grundleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz will das Bundesverfassungsgericht noch in diesem Jahr entscheiden.

… ohne Aufenthaltstitel

Gänzlich ohne soziale Absicherung sind Menschen, die ohne Aufenthaltstitel oder Duldung in Deutschland leben. Das betrifft hunderttausende Menschen, die nicht einmal Zugang zu einer elementaren Gesundheitsversorgung haben. Auf dem Papier besteht zwar auch für Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus ein Anspruch auf eine gesundheitliche Mindestversorgung (§ 1 Absatz 1 Nr. 5 i.V.m. §§ 4, 6  AsylbLG). Doch wenn sie sich an das Sozialamt wenden, um den dafür erforderlichen Behandlungsschein zu erhalten, droht ihnen die Abschiebung. Das Sozialamt ist, wie andere staatliche Stellen auch, nach § 87 Absatz 2 Satz 1 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz dazu verpflichtet, Menschen ohne Papiere an die zuständige Ausländerbehörde zu melden. Die Ausländerbehörde leitet dann in Zusammenarbeit mit der Polizei die Abschiebung in die Wege. Aus Angst um ihre Existenz meiden die Betroffenen den Gang zu Ärzt*innen, auch bei lebensbedrohlichen Erkrankungen. Auch hier aufwachsende Kinder von Menschen ohne Aufenthaltstitel sind von der medizinischen Versorgung ausgeschlossen. Gemeinsam mit einem herzkranken Kosovaren klagen wir vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die aufenthaltsrechtliche Meldepflicht, denn sie verletzt das Recht auf ein gesundheitliches Existenzminimum.

Soziale Rechte weiter ausbauen

Alle Menschen haben ein Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, Unterkunft und Gesundheitsversorgung. Gerade weil soziale Rechte nicht explizit im Grundgesetz enthalten sind, sind Gerichtsentscheidungen in diesem Themenfeld so wichtig: Sie unterfüttern das Sozialstaatsprinzip mit individuellen und einklagbaren Rechten.
Wir möchten unsere Arbeit in dem Bereich der sozialen Rechte deshalb weiter ausbauen. Im Strafrecht prüfen wir strategische Klagen gegen die überzogenen Tagessätze bei Leistungsbezieher*innen und Geringverdiener*innen, die Betroffene unter das Existenzminimum zwingen. Wir wollen gegen Wohnraumkündigungen trotz Nachzahlung der säumigen Miete klagen. Wir prüfen, ob wir mit strategischen Klagen gegen die flächendeckende und strukturelle Unterversorgung mit kassenärztlich zugelassenen Psychotherapeut*innen vorgehen können. Im Asylbewerberleistungsgesetz finden sich über die genannten Defizite hinaus zahlreiche weitere verfassungswidrige Regelungen, die wir gerne nach Karlsruhe bringen würden. So etwa die Sanktionsregelungen in § 1a Asylbewerberleistungsgesetz, nach der Asylsuchenden unter bestimmten Voraussetzungen alle Sozialleistungen bis auf Ernährung und Unterkunft gestrichen werden oder die eingeschränkte Gesundheitsversorgung nach §§ 4, 6 Asylbewerberleistungsgesetz. Auch im Bereich des allgemeinen Sozialrechts sind wir an strategischen Verfahren interessiert und freuen uns, wenn engagierte Anwält*innen mit Ideen auf uns zukommen. Jetzt wo der Bundestag der Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum UN-Sozialpakt zugestimmt hat, eröffnet sich bei Verletzungen sozialer Rechte künftig noch die Möglichkeit einer Individualbeschwerde zum WSK-Ausschuss der Vereinten Nationen – auch diese Option wollen wir nutzen.

Bei allen Härten auch Chancen

Gleichzeitig ist es uns wichtig, dass wir denjenigen etwas entgegensetzen, die die soziale Krise nutzen, um zu spalten, die gegen Geflüchtete und andere Migrant*innen, gegen Jüdinnen und Juden, gegen LSBTI oder gegen Frauen hetzen. In der Marie Munk-Initiative haben wir uns dem Schutz derjenigen verschrieben, die von digitaler Gewalt betroffen sind. Um Hass im Netz schneller zu unterbinden, entwickeln wir einen Gesetzesvorschlag für ein digitales Gewaltschutzgesetz. Es soll die Sperrung von verbal gewalttätigen Inhalten im Netz ermöglichen, ohne dass eine Identifizierung der Personen hinter den Accounts erforderlich ist.[3]
Die aktuelle Krise birgt bei allen Härten auch Chancen für einen solidarischen und rechtebasierten Wandel, der allen Menschen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht – ohne Hass und Hetze.
Die GFF erhält keine staatliche Unterstützung und finanziert sich über Spenden und Fördermitglieder. Wenn Sie uns dabei unterstützen wollen, unsere Arbeit im Bereich soziale Rechte weiterzuentwickeln, werden Sie Fördermitglied.

Sarah Lincoln ist Juristin und Verfahrenskoordinatorin in der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. Die Unter- und Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.

[1]  Vgl. https://www.vdk.de/deutschland/pages/presse/musterstreitverfahren/85212/sozialverbaende_klagen_gegen_grundsicherung.
[2]  https://freiheitsrechte.org/themen/soziale-teilhabe/existenzminimum.
[3]  https://freiheitsrechte.org/themen/demokratie/marie-munk-initiative.