»Nutzen Sie Ihre juristischen Fähigkeiten und Rechtsfähigkeit«
Redebeitrag auf der Kundgebung zum Protest im Iran
Maryam Mosavi
Ich bin eine von Millionen Iraner*innen, die in der Iranischen Islamischen Republik aufgewachsen ist, in der religiöse Institutionen schon 1979 in das Machtzentrum gelangten, sodass die rechtlichen und demokratischen Institutionen marginalisiert wurden. Das, was heute existiert, ist eher ein religiöses Diktatur-System, genannt ›Islamische Republik‹.
Ich möchte zuerst über die systematische rechtliche und nicht-rechtliche Diskriminierung von Frauen aus religiösen Gründen sprechen, damit Sie besser verstehen können, warum diese Revolution eine feministische oder Frauenrevolution genannt wird.
Geschlechterdiskriminierung durch die Scharia
Im Iran ist die Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung verfassungsrechtlich verankert. Der Staat behandelt die Scharia also vorrangig gegenüber anderen Gesetzen und kann auch einzelne Rechtsakte aus der Scharia ableiten oder durch die Scharia rechtfertigen. Nur Religionsgelehrte, die natürlich ausschließlich männlich sind, sind befugt, islamisches Recht auszulegen. Das führt dazu, dass eine Vielzahl ungleicher Rechte für Frauen und Männer auf der Grundlage islamischen Rechts geschaffen werden.
Diese Art der Geschlechterdiskriminierung hat Einfluss auf verschiedene Aspekte von Frauenrechten in der Politik, in der Gesellschaft und im Privatleben. Und sie hat zwei Konsequenzen für Frauen.
Erstens: Frauen haben schwierige rechtliche Hürden zu bewältigen, die in den innerstaatlichen Gesetzen institutionalisiert sind. Es gibt also die Praxis der Diskriminierung bei gleichzeitiger Erhaltung der formalen Legalität.
Zweitens: Imame können durch die Manipulation traditioneller, kultureller und patriarchalischer Strukturen nicht-legale Geschlechterdiskriminierung fördern.
Deswegen wurden den iranischen Frauen ihre Grundrechte jahrelang geraubt, während sie sich nach Gleichheit und Freiheit sehnten.
Unbegrenzter Charakter und vage Bedeutung der Scharia
Auf der anderen Seite garantiert das iranische Verfassungsrecht auch Grundrechte, wie z.B. Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Informationsfreiheit usw., sofern sie nicht im Widerspruch zum islamischen Recht stehen. Problematisch sind dabei insbesondere der unbegrenzte Charakter und die vage Bedeutung der Scharia. Dieser Zustand bereitete den Boden für eine Marginalisierung des Reformprozesses und hat zur Frustration der jungen Generation geführt, die sich zu einer dynamischen und gebildeten Schicht der iranischen Gesellschaft entwickelt hat.
»Die Gesellschaft wird nicht frei sein, …
Mitte September wurde eine Frau, Mahsa Amini – 22 Jahren alt, Kurdin und Sunnitin – bei der Sittenpolizei wegen ihres angeblich ›unislamischen Outfits‹ getötet. Das brachte die Gesellschaft an einen Siedepunkt. Dieser wurde hervorgerufen durch vierzig Jahre systematischer geschlechtsspezifischer, ethnischer und religiöser Diskriminierung. Der Tod der Mahsa Amini aber weckte ein 40 Jahre andauerndes, latentes Unbehagen bei den Iranerinnen und Iranern, und es entstand diese Wut, die Frauen und Männer mobilisiert, mutig macht und auf die Straße bringt, sodass alle gemeinsam »Frau, Leben, Freiheit« rufen.
… solange die Frauen nicht befreit sind«
Die Botschaft dieser Rufe ist: Die Gesellschaft wird nicht frei sein, solange die Frauen nicht befreit sind. Diese Botschaft hat so rasant die iranischen Grenzen überschritten, dass heute jede Frau, jeder Mann, jeder Mensch – weltweit, mit jeder Kultur und Religion – sie versteht, und sich solidarisch fühlt.
Tausende Iranerinnen und Iraner demonstrieren landesweit von Groß- bis hin zu Kleinstädten; aber ihre Forderung beschränkt sich nun nicht mehr auf die Frage des Hijab, sondern zielt auf die Grundlage des islamischen Regimes, welches weder reformierbar noch kompromissfähig ist.
Die Straßen im Iran sind gerade in zwei Lager gespalten: Auf der einen Seite steht die Mehrheit der Gesellschaft – Frauen, Männer, alte Leute, Studenten, Schüler und religiöse und ethnische Minderheiten, deren Waffen ihre Fäuste und eine schreiende Stimme sind. Sie rufen: »Tod dem Diktator«, »Wir wollen keine Islamische Republik«, »Mullah muss weg«, und »Freiheit, Freiheit, Freiheit«.
»Angst, Wut, aber auch Hoffnung...«
Auf der anderen Seite steht eine Minderheit von Sicherheitskräften mit Schrotflinten, Sturmgewehren und Handfeuerwaffen; und sie gehen rücksichtslos, exzessiv und mit tödlicher Gewalt gegen Menschen vor, insbesondere gegen Kinder und Jugendliche.
Das ist ein aktuelles Bild der Straßen im Iran: viele Tote, viele Widerstandskämpfer, Angst, die keine mehr ist, sondern Wut auf die Regierung, aber auch Hoffnung.
Der Protest gegen das Regime beschränkt sich nun nicht mehr nur auf den Iran, auch die Iraner*innen im Exil haben in einer kohärenten Bewegung einmal am 1. Oktober von Toronto bis Jakarta in fast zweihundert Städten der Welt, und danach am 22. Oktober mit fast 100.000 Iranerinnen und Iranern in Berlin ihr entschiedenes »NEIN« zur Islamischen Republik zum Ausdruck gebracht.
Die Illegitimität der Islamischen Republik ist klargeworden, es gibt ein klares »NEIN« zur Islamischen Republik im Land selbst und im Ausland. Daher ist der Klang einer Revolution, einer Frauenrevolution gegen die Struktur des religiösen Patriarchates, eine Frauenrevolution für Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Demokratie, Säkularismus mit kultureller, religiöser und geschlechtlicher Vielfalt.
»Dieses Regime…«
Dieses Regime, hat eine Frau (22 Jahre) wegen ihrer Haare getötet.
Dieses Regime, hat einen Sänger (25 Jahre) wegen eines Protestliedes verhaftet.
Dieses Regime hat aus Angst vor dem Volk den geschändeten Leichnam eines sechzehnjährigen Mädchens entwendet.
Dieses Regime betrachtet ein sechzehnjähriges Mädchen als Feind und gestattet seinen, mit Schlagstöcken bewaffneten Sicherheitskräften, sie zu verprügeln bis sie stirbt.
Dieses Regime erlaubt seinen Sicherheitskräften ein fünfzehnjähriges Mädchen im Klassenzimmer zu Tode zu prügeln, weil es sich weigerte, die regimetreue Hymne zu singen.
Todesurteile ohne Gerichtsverfahren
Eine andere Facette der Gewalt des Regimes sind Todesurteile ohne Gerichtsverfahren, z.B. gegen Mohammad Ghobadloo, einen Demonstranten, 22 Jahre alt, dem das Gericht »Korruption auf Erden« vorwarf; er wurde infolge einer regimekritischen Kundgebung nach nur einer einzigen Anhörung zum Tode verurteilt. Sie haben ihm keinen Anwalt zur Seite gestellt und erlaubten Anwälten nicht, das Gericht zu betreten.
Ja: Sie werden ihn und andere politische Gefangenen bald hinrichten, und es wird weiter gehen mit Massakern. Aus den Anwaltskammern in Teheran, in Mashhad und in Shiraz, die die mangelhaften Rechtsberatungsmöglichkeiten für verhaftete Demonstrant*innen scharf kritisierten, wurden manche von ihnen festgenommen.
Gelder des iranischen Regimes in Deutschland
Während das Regime Demonstrierende prügelt, tötet, entführt, verhaftet und Todesurteile verhängt, sind seine Kinder und seine Gelder hier in Deutschland und in der EU. Dieses Geld riecht nach Blut und Korruption. Am schmerzlichsten ist, dass sie legal nach Deutschland und in die EU einreisen konnten und immer noch legal einreisen. Ihren Aufenthalt nutzen sie für subtile politische Lobbyarbeit; auch haben sie ihr Geld in das Finance Network geschleust. Damit nutzen sie die demokratischen Prinzipien und fördern undemokratische Werte. Das ist, meiner Meinung nach, der Höhepunkt der Ungerechtigkeit in einem demokratischen Land.
»Stifte der Gerechtigkeit«
Daher bitte ich Sie, Richterinnen und Richter, Anwältinnen und Anwälte, Juristinnen und Juristen, zücken Sie Ihre juristischen Stifte und ziehen Sie die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft, inwieweit sie mit den Angehörigen dieses korrupten Regimes in Deutschland verbunden sind bzw. waren.
Nutzen Sie Ihre juristischen Fähigkeiten und Rechtsfähigkeit für demokratische Werte und für die Menschenrechte im Iran. Ihre Stifte sind die Gerechtigkeit und hoffentlich bald auch das Ende der Beschwichtigungspolitik gegenüber dem iranischen Terrorregime.
Seit fast zwei Monaten kämpfen junge, mutige Iranerinnen und Iraner fast jeden Tag gegen dieses unmenschliche Regime ›für ein normales Leben‹. Schicken Sie in Gedanken ihre Solidarität und Hoffnung in den Iran für »Frau, Leben, Freiheit!«
Dr. Maryam Mosavi hat Jura im Iran und Deutschland studiert; sie ist Rechtsanwältin und lebt in Berlin.
Die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.