Mehr als 140 Morddrohungen mit Polizeibeteiligung?
UNVOLLSTÄNDIGE AUFKLÄRUNG IM NSU 2.0-KOMPLEX
Volker Eick
Seit August 2018 versenden deutsche Neonazis unter dem Kürzel ›NSU 2.0‹ Morddrohungen per Fax, E-Mail, SMS oder mit Kontaktformularen an bestimmte Empfänger*innen. Bisher sind mehr als 140 Morddrohungen an rund 70 Einzelpersonen und 60 Institutionen versandt worden, zuerst an unsere Frankfurter Kollegin Seda Başay-Yıldız, sodann an weitere öffentlich engagierte Menschen aus Politik, Kunst, Medien und Justiz. Schwerpunkt: Frauen*, häufig Frauen* mit Migrationsbiografie.
Regelmäßig bezogen sich die Schreiben auf rechte Terroranschläge der jüngeren Vergangenheit und enthielten persönliche, zum Teil bei Behörden gesperrte Empfänger*innendaten. In drei Fällen konnte nachgewiesen werden, dass Beamt*innen der hessischen, der Berliner und der Hamburger Polizei vorher solche Daten abgefragt hatten; insgesamt gab es mindestens 180 Verdachtsfälle zu rechtsradikalen Polizeikräften. Zu reden ist über Tausende illegale Datenabfragen durch deutsche Polizeibehörden.
Insgesamt lässt sich von einem ernsthaften Aufklärungswillen, inwieweit rechtsradikale Polizeikräfte als Urheber*innen oder Helfer*innen bei zumindest einigen Drohschreiben beteiligt waren, nicht sprechen. So auch in dem jüngsten Fall: Am 3. Mai 2021 wurde zwar der Berliner Alexander Horst M. als damals noch »mutmaßlicher« Verfasser und Absender von insgesamt 116 Drohmails mit dem Kürzel ›NSU 2.0‹ festgenommen. Am 28. Oktober 2021 wurde er wegen 67 damit in Zusammenhang stehenden Delikten angeklagt; am 16. Februar 2022 begann sein Strafprozess. Neun Monate später, am 17. November 2022 wurde er wegen 81 ihm zugeordneten Drohbriefen zu fünf Jahren und zehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Wir dokumentieren nachfolgend die vor dem Urteil veröffentlichte Erklärung von fünf der Betroffenen.
GEMEINSAME ERKLÄRUNG VOR URTEIL
»Anlässlich der Urteilsverkündung im Prozess gegen den Angeklagten A. M. am 17. November 2022 vor dem Landgericht Frankfurt am Main und viereinhalb Jahre nach Beginn des NSU2.0-Komplexes: Ein wichtiges Urteil, aber weiter keine vollständige Aufklärung und sicher kein Freispruch für rechte Netzwerke in der hessischen Polizei.
Wir erhoffen uns von dem Gericht ein wichtiges Urteil mit einer starken Signalwirkung – an den Angeklagten A. M. und alle Nachahmer*innen, die mit rechtsextremen, rassistischen und misogynen Drohschreiben ein Klima der Angst und Einschüchterung weit über den unmittelbaren Kreis der Betroffenen schüren wollten und wollen.[1]
Ebenso erhoffen wir uns von dem Gericht ein Signal, dass die Drohserie nicht vollständig aufgeklärt und die hessische Polizei durch die Verurteilung des M. auch nicht entlastet ist. Deshalb hat die Nebenklage einen Freispruch für den Angeklagten M. in Bezug auf das erste Drohschreiben beantragt.
ROLLE DER POLIZEI WEITERHIN UNKLAR
Nach der umfangreichen Beweisaufnahme ist weiterhin die Rolle von mindestens einem Polizeibeamten und einer Polizeibeamtin des 1. Frankfurter Polizeireviers ungeklärt. Am 2. August 2018 wurden durch eine fünf Minuten dauernde Abfrage mit 17 verschiedenen Abfragemodalitäten die privaten Daten von Seda Başay-Yıldız und ihrer Familie in polizeilichen Datenbanken abgerufen. Bereits 90 Minuten später wurde das erste mit NSU 2.0 unterschriebene Drohfax an sie versandt.
Wir gehen nach der Beweisaufnahme davon aus, dass der Angeklagte M. die Daten von Seda Başay-Yıldız nicht durch einen Anruf auf dem Revier erhalten haben kann und dass er nicht die technischen Mittel zum Versenden dieses ersten Drohfaxes hatte. Hingegen hat die Beweisaufnahme für den Datenabruf und das Verschicken des Drohfaxes einen plausiblen Alternativtäter ergeben: Den Beamten des 1. Polizeireviers Johannes S. [vgl. Schwarz 2022]. Die als Zeugen geladenen Polizeibeamt*innen des 1. Polizeireviers haben in ihren Aussagen vor dem Landgericht nichts zur Aufklärung dieses Sachverhalts beigetragen und sich schützend vor den verdächtigen Beamten Johannes S. gestellt.
KEIN FREISPRUCH FÜR DIE POLIZEI
Für uns ist es ein Skandal, dass die Staatsanwaltschaft Frankfurt sich auf den vermeintlichen Einzeltäter, den Angeklagten M. festgelegt und versucht hat, die Frage zu der Rolle von hessischen Polizeibeamt*innen und einer verfestigten Gruppe rechter Polizeibeamt*innen im 1. Polizeirevier zu Beginn der Drohserie NSU 2.0 aus dem Verfahren herauszuhalten. Mit dem Urteil – so viel steht schon jetzt fest – ist kein Freispruch für rechte Netzwerke in der Polizei verbunden.
Wir fordern die Ermittlungen in Hinblick auf die polizeilichen Datenabrufe weiter nachdrücklich zu betreiben, dies gilt insbesondere für die noch offenen Ermittlungsverfahren gegen in diesem Zusammenhang beschuldigte und namentlich bekannte Polizeibeamt*innen.
Seda Başay-Yıldız, İdil Baydar, Anne Helm, Martina Renner, Janine Wissler und Hengameh Yaghoobifarah (Frankfurt und Berlin, den 15. November 2022)«
Seda Başay-Yıldız ist eine der vom NSU 2.0-Terror Betroffenen, Rechtsanwältin in Frankfurt/M. und RAV-Mitglied. Unter anderen auch betroffen sind die Kabarettistin İdil Baydar sowie die LINKEN-Politikerinnen Anne Helm, Martina Renner und Janine Wissler; ebenso Hengameh Yaghoobifarah, journalistisch und schriftstellerisch tätig.
Volker Eick ist Politikwissenschaftler und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.
Die Zwischenüberschriften in der Dokumentation wurden von der Redaktion eingeführt.
[1] Vgl. K. Schwarz, Kurzgutachten zur Serie von Drohschreiben des sogenannten NSU 2.0. Berlin 2022, https://verband-brg.de/wp-content/uploads/2022/08/Kurzgutachten_NSU_2.0_.pdf.