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Interview mit der Journalistin Gilda Sahebi

Das Interview führten Anya Lean und Peer Stolle am 31. Oktober 2022

Gilda Sahebi ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Antisemitismus und Rassismus, Medizin, Frauenrechte, Naher Osten. Sie schreibt für die taz und arbeitet für die öffentlich-rechtlichen Medien.
F: Liebe Frau Sahebi, vielen Dank erstmal, dass Sie sich für uns die Zeit nehmen. Wir wissen, dass sie in den letzten Wochen sehr viel zu tun haben und freuen uns sehr, dass Sie dieses Interview ermöglichen.
Die Berichterstattung in Deutschland stand ja viel in der Kritik. Haben Sie den Eindruck, dass es besser geworden ist bzw. gibt es Aspekte, die nach Ihrer Sicht immer noch zu kurz kommen?

A: Man muss zwischen Qualität und Quantität der Berichterstattung unterscheiden. In den ersten Wochen lief die Berichterstattung aus meiner Sicht nur schleppend an, gemessen daran, dass das, was im Iran aktuell passiert, revolutionär ist. Die taz und der WDR waren da die ersten, die restlichen Medien berichteten dagegen sehr verhalten angesichts der Dimension, die die Proteste zu diesem Zeitpunkt schon hatten. Der Protestspruch »Jin, Jiyan Azadi« wurde ja schon am ersten Tag der Proteste gerufen. Wir sind jetzt in der siebten Woche der Proteste. Inzwischen ist das Thema in den großen Medien und den Talkshows angekommen.
Ich sehe aber auch problematische Aspekte der Berichterstattung. Das iranische Regime betreibt seit Jahrzehnten unbemerkt Propaganda im Westen. Es ist gut, dass dieser Fakt jetzt diskutiert wird. Manche Medien übernehmen aber diese Propaganda immer noch in ihre Berichterstattung, bspw. wenn geschrieben wird »Die Demonstranten widersetzen sich der Drohung des Regimes«, damit betreiben sie eine Täter-Opfer Umkehr.

F: In einem Interview, welches Sie für die taz mit der iranischen Juristin und Menschenrechtsaktivistin Shirin Ebadi geführt haben, sagte diese auf die Frage, was heute anders sei als während der Proteste 2009 oder 2019: »Heute wollen die Menschen den Staat stürzen.« Ist das auch Ihre Einschätzung, dass es nicht mehr um Reformen geht, sondern um eine Revolution?

A: Ja, dass es diesmal nicht mehr nur um Reformen geht, die Einschätzung teile ich. Bei den letzten Protesten spielte zwar immer auch eine generelle Unzufriedenheit eine Rolle. Trotzdem waren es Proteste innerhalb des Systems, die sich an konkreten Themen festmachten. Die Veränderung zeigt sich auch anhand der Wahlbeteiligung der letzten 20 Jahre.  Zwischen dem Regime und der Bevölkerung gab es eine Art unausgesprochenen Vertrag: Die Bevölkerung legitimiert die Regierung durch ihre Teilnahme an den Wahlen und die Regierung gesteht der Bevölkerung dafür gewisse Freiheiten und Reformen innerhalb dieses Systems zu. Viele glaubten daran und gingen an die Urnen, um das Schlimmste zu verhindern. Spätestens seit der letzten Präsidentschaftswahl, bei der die Beteiligung mit 49  % (davon waren noch 14  % ungültig abgegebene Stimmen) historisch niedrig war, ist dieser Glaube nicht mehr vorhanden.

F: Können Sie sich vorstellen, dass es dem Regime gelingen könnte, durch Zugeständnisse seine Macht zu erhalten?

A: Nein. In den ersten Wochen gab es zwar Versuche des Regimes, durch »Gesprächsangebote« an die Protestierenden, die Proteste zu schwächen. Es gab auch Stimmen von Hinterbänklern, die Ideen vorbrachten, Zugeständnisse bei der Kopftuchpflicht zu machen. Letztendlich waren diese Versuche aus zahlreichen Gründen ergebnislos. Heute fährt das Regime einen anderen Kurs. Am Samstag hat Hossein Salami, der Chef der Revolutionsgarden, gesagt: »Heute ist der letzte Tag der Proteste.« Das war eine klare Warnung. Bereits vor einigen Wochen wurden Revolutionsgerichte eingerichtet und aktuell sind mehr als 1.000 Protestierende angeklagt. Die Anklage lautet »Krieg gegen Gott«. Darauf stehen ganz lange Haftstrafen oder sogar die Todesstrafe. Trotz dieser Drohung gehen die Proteste weiter.

F: In einem Artikel mit dem Titel »Was im Iran geschieht, ist feministische Weltgeschichte«, den Sie Anfang Oktober für die Böll-Stiftung geschrieben haben[1], steht: »Die Zwangsverschleierung, um die es heute in der Diskussion um die Proteste im Iran so oft geht, war und ist nur die äußerliche Verkörperung der Demütigung und Entrechtung aller Frauen im Iran.« Wir haben in den letzten Jahren oft erlebt, dass feministische Kämpfe eine starke gesellschaftliche Triebkraft entfalten und erleben das aktuell im Iran, wo sich der Protest stark am Kampf gegen die Zwangsverschleierung festmacht. Es entsteht der Eindruck, dass sich ganz viele gesellschaftliche Gruppen um feministische Forderungen vereinen, und diese nicht nur als Vehikel für Regimekritik benutzen. Wie groß ist die Rolle, die feministische Forderungen bei den Protesten spielen?

A: Die feministischen Forderungen spielen die Hauptrolle in den Protesten. Und die Protestierenden finden immer neue Wege, um auf kreative Art gegen die Ungleichbehandlung zu protestieren. Z.B. setzen sich Frauen und Männer in der Universitätsmensa zusammen zum Essen, obwohl dies eigentlich verboten ist. Als die Mensa daraufhin verbarrikadiert wurde, haben sich die Studierenden einfach auf dem Gras vor der Uni gesetzt und gemeinsam gegessen. Ein anderes Video zeigt, wie Studierende mit dem Ruf »Azadi Azadi« die Wand zwischen der Frauen- und der Männermensa einreißen.  Oder es gibt Männer, die Blumen an Frauen verteilen, die ohne Hijab auf die Straße gehen. Sie sagen: »Danke, dass ihr die Stadt mit euren Haaren schöner macht.« In allen Städten sehen wir aktuell Frauen ohne Hijab, überall.
Abgesehen von der rechtlichen Unterdrückung der Frauen im Iran, gegen die sich die Proteste wenden, geht es darüber hinaus um den Kampf für eine freiere Gesellschaft, in der auch Männer freier leben können. Eine Gesellschaft, in der sie ihre Freundin auf der Straße umarmen und küssen oder mit ihr, ohne verheiratet zu sein, zusammenleben dürfen. Liebe und Sexualität ist ja ein ganz wichtiger Teil von unserer Identität. Die Einschränkungen in diesen Bereichen betrifft alle Iraner*innen, nicht nur die Frauen. Das Kopftuch ist zum Symbol dieser Unfreiheit geworden. Es geht dabei um den Zwang, das Kopftuch zu tragen. Der Zwang steht für die Entrechtung, nicht das Kopftuch selbst.

F: In Ihrem Artikel kritisieren Sie den Blick westlicher Medien auf Länder des Nahen Ostens als eine »rückständige und unmoderne« Gesellschaft. Die Bilder der Proteste zeigen ein anderes Iran. Werden diese Bilder die kolonialen Denkweisen westlicher Gesellschaften nachhaltig verändern?

A: Das hoffe ich. Natürlich sind der Iran und der Nahe Osten ganz anders, als uns hier in Europa durch die Medien vermittelt wird. Es gibt Hochhäuser, moderne Einkaufszentren, Frauen, die als Ärztinnen, als Rechtsanwältinnen arbeiten. Das wird aber nicht gezeigt. Auf den Bildern sehen wir meist nur den vollen Bazar und die Frau, die unterdrückt wird. Das ist bei dem Blick auf Afghanistan genauso. Vor dem Hintergrund dieser Bilder wundern sich die Menschen in Deutschland dann, warum die iranischen Männer die Forderungen der Frauen unterstützen und übernehmen. Mich wundert das nicht. Wir kennen die Männer schon lange. Es sind die Männer in unseren Familien – unsere Partner, Brüder, Väter. Auch sie wollen eine gerechte und freie Gesellschaft und haben ein ganz normales modernes Frauenbild. Feminismus ist also kein Wert, den wir aus dem Westen importieren müssen. Die Ideen sind vorhanden. Jetzt geht es im Iran darum, die autoritären Strukturen zu beenden. Das können die Menschen im Iran nur selbst.

F: Der Artikel schließt mit einer hoffnungsvollen Perspektive darauf, dass die Proteste im Iran der »Beginn eines Umbruchs in der Geschichte der ganzen Region« sein könnten. Gibt es schon Diskussionen, konkrete Überlegungen über eine Zeit nach dem islamistischen Regime?

A: Das ist eine Diskussion, die im Westen geführt wird, sowohl von Politiker*innen als auch von Exil-Iraner*innen. Aber im Iran kämpfen die Leute aktuell darum, zu überleben. Weiter können sie momentan nicht denken. Ich habe einen Freund gefragt: »Was machst du am ersten Morgen, wenn Iran frei ist?«. Er antwortete: »Ich werde mich ins Gras legen und dann kann ich endlich in Ruhe sterben, weil dann der Schmerz und das Leid endlich vorbei sind.«

F: Für uns als Anwält*innenorganisation ist es auch von Interesse, wie es unseren Kolleg*innen vor Ort geht. Auch sie protestieren wie wir wissen. Können Sie etwas zur Rolle der Anwält*innenschaft bei den Protesten sagen? Gibt es aus deren Reihen konkrete Forderungen?

A: Es gibt einen Comic, der sehr bekannt geworden ist. Der Comic zeigt zwei Fenster eines Gefängnisses: Aus dem einen Fenster kommt eine Sprechblase: »I want my lawyer«. Die andere Sprechblase aus dem zweiten Fenster antwortet: »I am here.« Das ist Realität. Anwält*innen sind im Iran besonders von Repression betroffen. Es gibt nur noch ein paar Dutzende, die arbeiten, und von denen sind dreiviertel im Gefängnis. Die Arbeit, die sie seit Jahren leisten, ist sehr wichtig und sie werden, wo es geht, daran gehindert, z.B. indem ihnen der Kontakt mit inhaftierten Mandant*innen verweigert wird. Trotzdem haben sie natürlich Einblicke in das Unrechtssystem, die andere nicht haben. Deswegen sind ihre Berichte so wichtig. Sie sind auch die ersten, die verhaftet werden. Denn das Regime unterdrückt diejenigen, die kritische Stimmen hochhalten und auf sich vereinen. Das sind vor allem Schriftsteller*innen, Journalist*innen, Künstler*innen und eben auch Anwält*innen.

F: Es gibt im Iran ein Gesetz – das ›Gesetz über die Voraussetzungen zur Erlangung der Anwaltszulassung‹ - welches festlegt, dass von insgesamt 20.000 Anwält*innen im Iran lediglich 20 Kolleg*innen die Erlaubnis erteilt wird, auch bei politischen Ermittlungen und Verfahren aktiv zu werden. Für die heutige Situation bedeutet das ja, dass kaum Verteidiger*innen zur Verfügung stehen bei einer Vielzahl politischer Verfahren!

A: Oft haben die Betroffenen keinen Beistand. Oder einen Pseudo-Rechtsbeistand, der gar nicht daran interessiert ist, seine Mandant*innen und deren Rechte zu schützen.

F: Mindestens in den letzten fünf Jahren haben die iranischen Behörden viele Rechtsanwält*innen, darunter die Anwältin Nasrin Sotoudeh, wegen ihres friedlichen Widerstands gegen die Hidschab-Pflicht verfolgt, verurteilt und inhaftiert. Mindestens vier Anwält*innen – Mahsa Gholamalizadeh, Saeid Jalilian, Milad Panahipour und Babak Paknia – wurden bereits Mitte September 2022 verhaftet. Der Anwalt Hossein Ronaghi wurde am 24.  September 2022 in Gewahrsam genommen und benötigt wegen der Gefahr eines Nierenversagens dringend medizinische Hilfe. Berichten zufolge haben Agenten des Geheimdienstministeriums ihm zudem seine beiden Füße gebrochen. Am 12. Oktober 2022 wurden mindestens drei weitere Anwält*innen festgenommen und in getrennten Fahrzeugen abtransportiert (Mohammad Reza Faqihi, Saeed Sheikh und eine bisher nicht identifizierte weitere Anwältin.) Haben Sie Informationen, was mit den Kolleg*innen passiert ist?

A: Es ist momentan sehr schwierig, an Informationen über die inhaftierten Personen zu kommen. Ich kann bestätigen, dass es eine Methode des iranischen Regimes ist, Inhaftierten die lebensnotwendige medizinische Behandlung zu verweigern. Das ist dann eine Todesstrafe ohne Urteil. Wie andere politische Gefangene auch, kommen die Anwält*innen in das berüchtigte Evin-Gefängnis. Die Zustände dort sind unvorstellbar. Bei dem Brand in dem Gefängnis vor einigen Wochen sollen zahlreiche Inhaftierte getötet und verschleppt worden sein. Wo sie sind, wissen wir nicht.

F: Aus Ihrer Erfahrung, was können wir hier tun, um den Protest insgesamt und unsere Kolleg*innen im Iran zu unterstützen?

A: Es ist sinnvoll, iranische Anwält*innen im Exil zu kontaktieren. Sie wissen am besten, was sinnvoll ist und haben Kontakt zu den Kolleg*innen vor Ort.

F: Zum Schluss, gibt es noch etwas, das Sie unserer Mitgliedschaft sagen möchten?

A: Der juristische Aspekt in diesem ganzen Geschehen ist extrem wichtig. Das muss auch auf politischer Ebene ankommen. Die Täter müssen weltweit zur Rechenschaft gezogen werden. In Schweden wurde z.B. ein Mann verurteilt (namens Hamid Noury), der an den Massenexekutionen 1988 beteiligt war. Das muss viel konsequenter passieren. Wenn diese Leute ins Ausland reisen, dann müssen sie verhaftet und vor Gericht gestellt werden. Anwält*innen können auch iranische Menschenrechtsorganisationen dabei unterstützen, die Verbrechen des Regimes so zu dokumentieren, dass die Berichte juristisch verwertbar sind. Die Täter müssen irgendwann zur Rechenschaft gezogen werden und dafür muss jetzt das Fundament gelegt werden.

Vielen herzlichen Dank für das Interview!

Nachbemerkung am 03.11.22: Inzwischen sind die ersten Anklagen erhoben worden, an deren Ende die Todesstrafe droht.
Einer der Angeklagten, Soheil Khoshdel, soll 17 Jahre alt sein.

Anya Lean ist Rechtsanwältin in Berlin und RAV-Mitglied. Dr. Peer Stolle ist Rechtsanwalt in Berlin und Vorstandsvorsitzender des RAV.

[1]   https://www.boell.de/de/2022/10/12/was-im-iran-geschieht-ist-feministische-weltgeschichte