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›Fretterode-Verfahren‹ endet wie häufig

Milde für Neonazis

Sven Adam und Rasmus Kahlen

Am Mittag des 28. April 2018 befanden sich zwei Journalisten zu Recherchezwecken in Fretterode vor dem Anwesen des langjährigen Neonaziaktivisten Thorsten Heise. Die Journalisten wurden von mehreren auf dem Grundstück anwesenden Neonazis entdeckt. Einem ersten Überfallversuch konnten sich die Journalisten durch Flucht mit ihrem Fahrzeug entziehen. Die Journalisten konnten den Angriff mit einer Digitalkamera dokumentieren. Es kam zu einer Verfolgungsjagd über die Landstraße. An einer Baustellenampel mussten die Journalisten ihr Fahrzeug stoppen. Die Verfolger holten das Fahrzeug ein, und es kam zu einem überaus brutalen Übergriff auf die Betroffenen.

Die Angreifer zertrümmerten die Scheiben des Fahrzeuges, sprühten Pfefferspray in den Innenraum und zerstachen die Reifen. Einer der Journalisten erlitt durch einen frontalen Schlag mit einem schweren Radschlüssel einen Schädelbruch, dem weiteren Betroffenen wurde mit einem Messer in den Oberschenkel gestochen. Die Kameraausrüstung der Journalisten wurde entwendet. Am Fahrzeug entstand Totalschaden. Da einer der Journalisten vor dem Angriff geistesgegenwärtig die Speicherkarte aus der Digitalkamera entnommen hatte, existieren Fotos der Angreifer.
Die Täter waren schnell bekannt, es handelte sich um den langjährigen NPD-Aktivisten Gianluca B., sowie Nordulf H., den ältesten Sohn von Thorsten Heise. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Mühlhausen lautete auf schweren Raub nach §§ 249, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB sowie tateinheitlich begangene gefährliche Körperverletzung gem. §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 und 4 StGB. Keiner der Täter wurde in Untersuchungshaft genommen. Für uns Strafverteidiger*innen, die häufig mit der großzügigen Annahme von Haftgründen zu kämpfen haben, ein sonderbarer Umstand, zumal Nordulf H. kurz nach der Tat eine Ausbildung in der Schweiz aufnahm. Der Prozess startete erst mehr als drei Jahre nach der Tat im Sommer 2021 vor dem Landgericht Mühlhausen nach einer Verzögerungsrüge der Nebenklage nach § 198 GVG.

TÄTER-OPFER-UMKEHR DURCH NAZI-ANWÄLTE

Die durch die einschlägig bekannten Szeneverteidiger Wolfram Nahrath und Klaus Kunze geführte Verteidigung betrieb von Beginn an eine Mischung aus Täter-Opfer-Umkehr und Verharmlosung der Tat. Die Angeklagten ließen über ihre Verteidiger Erklärungen zur Sache abgeben. Danach hätten diese die Betroffenen lediglich verfolgt, weil einer der Angeklagten vorher von diesen fast überfahren worden sei und man sich lediglich das Nummernschild habe notieren wollen. Eine Verfolgungsjagd habe es nicht gegeben, man habe sich verkehrsregelkonform verhalten. Den Betroffenen wurde unterstellt, das Anwesen der Familie Heise zur Planung militanter Aktionen ausspioniert zu haben. Es wurde wiederholt versucht, Parallelen zum derzeit beim OLG Dresden laufenden Antifa-Ost-Verfahren zu konstruieren. Die Wegnahme und sogar die Existenz der entwendeten Kamera wurde durch die Angeklagten trotz der vorliegenden Fotos in Abrede gestellt. 

OBERFLÄCHLICHE POLIZEIARBEIT

Im Rahmen der mehr als ein Jahr andauernden Beweisaufnahme wurden eklatante Ermittlungsfehler der ermittelnden Polizeibeamt*innen offenbar. Sowohl die Wohnung von Gianluca B. wurde, obwohl bekannt war, dass eine Kamera geraubt worden war, nicht durchsucht. Selbiges galt für das Anwesen der Familie Heise, auf dem nur eine ›Begehung‹ durch die eintreffenden Beamt*innen stattfand. Das von den Tätern genutzte Fahrzeug wurde auf dem Grundstück der Familie Heise zwar festgestellt, unter den Augen der Polizei konnten jedoch Gegenstände aus dem Fahrzeug entnommen und damit ggf. Beweise beseitigt werden. Ein im Fahrzeug festgestelltes Messer wurde durch die mit der Untersuchung beauftragten Beamt*innen nicht sichergestellt und zusammen mit dem Fahrzeug an die Besitzer herausgegeben. Ohnehin machten die vernommenen Polizeibeamt*innen keinen Hehl daraus, dass sie Linke eher als Störfaktoren in Fretterode wahrnehmen als Thorsten Heise und seine Strukturen. Dies, obwohl in der Beweisaufnahme herausgearbeitet wurde, dass seit 2010 keine Demonstrationen oder Kundgebungen aus antifaschistischen Zusammenhängen organsiert worden oder andere ›Vorfälle‹ zu verzeichnen waren.
Unabhängig davon zeichnete sich am Ende der Beweisaufnahme insbesondere durch unabhängige Zeug*innen ein eindeutiges Bild. Der Angriff erfolgte äußerst planvoll und arbeitsteilig. Alle Zeug*innen bestätigten die Aussagen der Betroffenen. Die von der Verteidigung in Zweifel gezogene Authentizität der durch die Betroffenen gefertigten Fotos wurde durch einen Gutachter des BKA zweifelsfrei bestätigt. 

NACH 30 VERHANDLUNGSTAGEN SANFTE URTEILE

Nach mehr als 30 Verhandlungstagen endete die mehr als ein Jahr dauernde Hauptverhandlung gleichwohl mit einem Skandalurteil. Zwar wurden beide Angeklagte verurteilt. Der zum Tatzeitpunkt Heranwachsende Nordulf H. wurde wegen gefährlicher Körperverletzung lediglich zur Ableistung von 200 Arbeitsstunden verurteilt, der zum Tatzeitpunkt Erwachsene Gianluca B. erhielt ebenfalls wegen gefährlicher Körperverletzung eine Freiheitsstrafe von einem Jahr, ausgesetzt auf zwei Jahre zur Bewährung. Den angeklagten schweren Raub sah das Gericht nicht als erwiesen an. Trotz des durch die Nebenklage geführten Beweises der Authentizität des Bildmaterials ließ das Gericht in der mündlichen Urteilsbegründung den Verbleib der Kamera offen. In weiten Teilen folgte das Gericht dafür den Einlassungen der Angeklagten. So habe sich nach Auffassung des Gerichts in der Hauptverhandlung nicht klar ergeben, dass die Angeklagten die beiden Angegriffenen als Presse-Vertreter erkannt hätten. Vielmehr ging das Gericht davon aus, dass die Angeklagten diese als Angehörige der linken Szene identifiziert hätten und das Anwesen der Familie Heise bzw. ihre Persönlichkeitsrechte hätten schützen wollen.

ALLE PARTEIEN LEGEN REVISION EIN

Die Vorsitzende Richterin am Landgericht, Andrea Kortus, sprach in der mündlichen Urteilsbegründung von »zwei ideologischen Lagern«, die »weit auseinander liegen«. Die Angeklagten hätten die Betroffenen als »Zecken« betitelt, womit Angehörige der linken Szene bezeichnet würden. Das Vorgehen der Neonazis sei dem Grunde nach nachvollziehbar, um die ›Zecken‹ aus ihrem Dorf wegschicken zu wollen. Das Urteil des LG Mühlhausen reiht sich damit ein in eine Reihe von äußerst milden Urteilen in Prozessen, bei denen in Thüringen Gewalttaten rechtsextremistischer Täter*innen verhandelt wurden, wie beispielsweise im sog. ›Ballstädt-Verfahren‹. Die schriftlichen Urteilsgründe liegen noch nicht vor. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Durch Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung wurde Revision eingelegt.

Sven Adam und Rasmus Kahlen sind Rechtsanwälte in Göttingen und RAV-Mitglieder.