Ein Rest vom Anschein des Rechtsstaates
Das ÇHD-Verfahren endet nach zehn Jahren
Miriam Frieding
Ein Prozessbeobachtungsbericht in der Zeit vom 7.-11. November 2022 in den Gerichtssälen der Strafvollzugsanstalten Silivri (Türkei) betreffend das Strafverfahren gegen den Rechtsanwalt und Vorsitzenden des ÇHD (Progressive Anwaltsvereinigung) Selçuk Kozağaçlı und 20 weitere Rechtsanwält*innen und Vereinsmitglieder.
Mit einer Delegation von über 60 internationalen Prozessbeobachter*innen, Anwält*innen aus neun europäischen Ländern, sowie den USA, die mehr als 30 Anwaltskammern, NGOs und Berufsverbände der Anwält*innen, sowie der Richter*innen und Staatsanwält*innen vertreten, begleiteten wir die Schlussverhandlungen in dem 2013 begonnenen Massenprozess gegen ehemals 22 Anwält*innen der ÇHD (Progressive Anwaltsvereinigung) und der HHB (Volksanwaltschaft), jetzt noch 21. Denn am 27. August 2020 verstarb Ebru Timtik im Zuge dieses Verfahrens – im Hungerstreik für ein faires Verfahren. Den Kolleg*innen wird die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und die Beteiligung an der Verbreitung von Propaganda vorgeworfen. Sie wurden angeklagt und verurteilt, da sie ihren Beruf wählten und ausübten, um für die Rechte von Arbeiter*innen, von politisch Verfolgten und einfachen Menschen einzustehen und dadurch unbequem wurden.
Nicht erst seit dem Putsch 2016 stehen in der Türkei Menschenrechtsanwält*innen, Strafverteidiger*innen, politische Aktivist*innen, Akademiker*innen sowie unabhängige Journalist*innen unter dem beständigen und tiefgreifenden Risiko ihrer Festnahme und langjährigen Inhaftierung. So befinden sich der in diesem Verfahren angeklagte Vorsitzende des ÇHD, Selçuk Kozağaçlı, und Barkın Timtik bereits seit etwa sechs Jahren in Untersuchungshaft in Silivri. Es handelt sich, dabei um ein Hochsicherheitsgefängnis in dem derzeit etwa 25.000 Menschen inhaftiert sind, die ganz überwiegende Mehrheit aus politischen Gründen. Der Gerichtssaal befindet sich gleichfalls auf dem dortigen Gelände.
KEIN RECHT AUF FAIRES VERFAHREN
Das von uns dort beobachtete Strafverfahren verstößt umfassend gegen das Recht auf ein faires Verfahren und die UN-Grundprinzipien der Rechte von Rechtsanwält*innen sowie gegen das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Die wesentlichen Tatsachen, die dem Gericht zur Entscheidung vorlagen, stehen in engem unmittelbarem Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit der Angeklagten als Rechtsanwält*innen im Bereich der Menschenrechte: Teilnahme an einer Pressekonferenz, Anwesenheit bei oder in der Nähe einer Demonstration, Belehrung von Mandantschaft über ihr Recht zu schweigen, Verteidigung von Verdächtigen, die des Terrorismus angeklagt sind usw.. Während der Ermittlungen wurden einige der beschuldigten Anwält*innen über ein Jahr lang abgehört, was eine offensichtliche Verletzung des Anwaltsgeheimnisses darstellt. Die UN-Grundprinzipien garantieren ausdrücklich das Recht von Anwält*innen, an öffentlichen Debatten teilzunehmen, sich miteinander in Anwaltsvereinigungen zusammenzuschließen und besagen, dass Anwält*innen niemals mit ihrer Mandantschaft oder deren Anliegen identifiziert werden und für Handlungen in Übereinstimmung mit ihren beruflichen Aufgaben nicht strafrechtlich verfolgt werden dürfen. Den Kolleg*innen wird und wurde das Recht auf ein faires Verfahren vorenthalten. Es handelt sich um ein Strafverfahren ohne echte Beweismittel und ohne Zeug*innen.
SÄMTLICHE BEWEISANTRÄGE WURDEN IN DEM VERFAHREN ABGELEHNT
Mit den abschließend anberaumten (nur) fünf Verhandlungstagen bei 21 Angeklagten und über 60 Verteidiger*innen wurde von Anbeginn an eine sachgerechte Überprüfung und Befassung mit Beweismitteln unterbunden, insbesondere bei den elektronischen Dokumenten, die seinerzeit in Belgien sichergestellt wurden und deren Echtheit und Vollständigkeit von Beginn an fraglich war. Die Tatsachen, die der Echtheit widersprechen wurden (erfolglos) detailliert und begründet vorgetragen. Auch Anträge, die Verhandlung zu verschieben, um die elektronischen Beweismittel überprüfen zu können, wurden abgelehnt. Zu Recht rügte die Verteidigung einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK.
ZEHN JAHRE UNRECHT
Über die mehrjährige Dauer des Verfahrens wurden sowohl die Staatsanwält*innen als auch die Richter*innen mehrfach ausgewechselt. Insgesamt 42 Staatsanwält*innen und Richter*innen gingen im Verlaufe des Verfahrens oder wurden gegangen. Der Vorsitzende, der die Angeklagten 2018 zunächst frei ließ, wurde ausgetauscht.
Der Prozess fand in einem Gerichtssaal auf dem Gelände des Silivri-Gefängnisses unter starkem Militärpolizeiaufgebot statt. Die Angeklagten wurden von ihren Rechtsanwält*innen nicht nur räumlich (Sitzplätze in unterschiedlichen Bereichen des Gerichtssaals), sondern durch zwei Reihen von ›Jandarma‹ getrennt. Eine vertrauliche Kommunikation der Angeklagten und ihrer Anwaltschaft war somit nicht möglich.
Die Rechte der Angeklagten sind mit Blick auf eine überlange Verfahrensdauer verletzt, der Prozess findet seit zehn Jahren statt, ohne dass eine angemessene Begründung für das langwierige Verfahren (insbesondere der langen Unterbrechungen zwischen den einzelnen Verhandlungen und nur wenigen Verhandlungstage im Verlaufe eines Jahres) vorliegt.
Die etwa sechsjährige Untersuchungshaft von Selçuk Kozağaçlı und Barkın Timtik wurde mit Fluchtgefahr begründet, obgleich diese die bereits seit der Anklage gegebenen Möglichkeiten zur Flucht nicht wahrnahmen.
Darüber hinaus stützt sich dieser Prozess für acht der Angeklagten auf Fakten und Beweise, die bereits im Prozess von 2017-2019 gegen sie verwendet wurden, was gegen den Grundsatz verstößt, dass niemand wegen derselben Straftat zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft werden darf (Art. 50 EMRK).
DER SAAL, DAS GERICHT, DIE ANGEKLAGTEN
Der Gerichtssaal befindet sich zwei Stockwerke unter der Erde, ohne Tageslicht. Scharfschütz*innen auf dem Dach des Gebäudes. Wir waren viele Anwält*innen, um die 350. Nicht alle wurden am ersten der fünf Verhandlungstage in den Saal gelassen, zu wenig Platz, wie es hieß. Die Gänge im Saal waren gefüllt mit stark bewaffneter Militärpolizei. Der Prozessbeginn verzögerte sich erheblich, wegen Tumulten, da nicht alle hereingelassen wurden. Schreien, Diskutieren, Schubsen, Drängeln. Anwält*innen gegen Militärpolizei. Der Protest zeigte Früchte, alle möglichen Sitzplätze wurden gefüllt und schließlich blieben nur noch wenige vor der Tür und die Türen wurden offen gelassen, so dass auch draußen mitgehört werden konnte. Dennoch gab es kaum Sauerstoff und es war höllisch heiß. Zwei riesen Screens. Drei Richter, der Staatsanwalt saß mit ihnen auf einer Ebene. Er wird in den fünf Tagen kein einziges Wort sagen, genauso wie zwei der Richter, die nur im Internet zu surfen scheinen. Auch der Vorsitzende scheint selten zuzuhören.
Der Platz der Angeklagten befindet sich inmitten des Saales. Ca. 40 Plätze. Nach außen abgetrennt, durch eine hüfthohe Balllustrade aus Holz. In diesem abgegrenzten Bereich sitzen vorne zur Richterbank hin die Inhaftierten und im hinteren (nochmals abgetrennten) Bereich, die nicht-inhaftierten Angeklagten. Um die Angeklagten herum sitzen in größerer Anzahl Wachtmeister. Der gesamte Bereich, in dem die Angeklagten sitzen, liegt deutlich tiefer, als die Richterbank, etwa 1,5 Meter. Nicht alle Angeklagten nahmen noch am Verfahren teil. Manche sitzen bei uns, den Beobachter*innen.
Als die Angeklagten hereingeführt wurden, applaudierte der ganze Saal lautstark. Den Angeklagten wurde zugewunken und zugerufen. Wir in der Delegation waren ab diesem Moment dankbar für die Übersetzer*innen, die bei uns saßen und uns durch die Tage simultan begleiteten.
In den ersten dreieinhalb Tagen sprachen die Angeklagten. Sie verteidigten sich selbst. Sie erklärten, was ihre Arbeit war, ihre Motivation, erklärten die Absurdität des Verfahrens.
Mit Haltung, Anekdoten, einigen Abschweifungen und Humor, den sich Selçuk Kozağacli nicht nehmen ließ, versuchte er auch, die Jahre der Haft sich nicht anmerken zu lassen, obgleich es offensichtlich war, wie sehr er und auch die anderen inhaftierten Angeklagten körperlich unter der Haft litten.
MIT STRAHLENDEN AUGEN WURDE DEN BEFREUNDETEN KOLLEG*INNEN ZUGEWUNKEN
Mit großer Trauer wurde auch immer wieder an die Kollegin Ebru Timtik (deren Schwester Barkın Timtik sich auch unter den noch inhaftierten Angeklagten befindet) gedacht – dass sie, die das Verfahren nicht überlebt hat, als sehr junge Anwältin vom Staat ermordet wurde –, wie es die Angeklagten immer wieder benannt hatten; sie wurde für nichts angeklagt und inhaftiert und starb im Hungerstreik, während die Justiz tatenlos zuschaute.
Der Höhepunkt des ersten Tages lag in einer sehr differenzierten langen Stellungnahme von Selçuk Kozağagcli, als er die neusten Beweise der Verteidigung vortrug: Sämtliche Quellen zu Dokumenten über angebliche Kommunikation zwischen den Angeklagten und der DHKPC sind nachweislich konstruiert, in Belgien und Niederlanden hergestellt. Keine der vermeintlichen Quellen ist echt oder existent, es wurde sich nicht einmal die Mühe der Konstruktion einer Hintergrundgeschichte gemacht, wie es nun detailliert bewiesen werden kann.
Nach dem ersten Prozesstag fragte ich türkische Kolleg*innen, ob sie aufgrund der neuen Erkenntnisse reale neue Chancen sehen? Nein, es gebe bald Wahlen, die Regierung werde sich eine solche Niederlage nicht leisten, es gebe daher nicht die Möglichkeit des Freispruchs oder der Haftentlassung. Auch zuvor seien die Beweisanträge ja stets abgelehnt worden. Ich höre aber auch, dass es dennoch sehr bedeutend sei, dass internationale Beobachter*innen anwesend sind, sonst wäre das Verfahren vermutlich bereits nach dem ersten Tag mit den Verurteilungen abgeschlossen worden und auch die türkischen Kolleg*innen hätten wohl nur in geringen Maßen Zugang zum Saal erhalten.
ANWALTSCHAFT VERDEUTLICHT BEWEISMITTELMANIPULATION
In den darauffolgenden Tagen lernten wir von den Angeklagten viele der unrechtmäßigen Details des Verfahrens kennen. Wir lernten aber auch die Angeklagten selbst kennen. Und wir erfuhren, wer die ermordete Kollegin Ebru Timtik war. Und immer wieder Details zu den Verflechtungen von korrupten (ehemaligen) Regierungsmitgliedern in diesem Verfahren. Aber auch immer wieder kommt der Hinweis auf die Bedeutung des Berufes der Rechtsanwält*innen für den Rechtsstaat. Der zweite Prozesstag musste vorzeitig abgebrochen werden, da die angeklagte und inhaftierte Kollegin Oya Aslan auch nach mehreren Anläufen nicht in der körperlichen Verfassung war, zu sprechen. Am nächsten Tag konnte sie jedoch nichts von der Verlesung ihrer Verteidigung abhalten.
Am vierten und fünften Tag sprachen einzelnen Verteidiger*innen der Angeklagten. Sie machten erneut deutlich, dass es keine Beweismittel und keine Zeug*innen gibt, dass es sich bei den vorgeworfenen Tathandlungen um durch die Berufsausübung geschützte rechtsanwaltliche Tätigkeiten handelt. Einer erklärte sehr genau, woraus sich die Unechtheit der digitalen Beweismittel im Einzelnen belegt, und wie sie dies feststellen konnten. Eine Präsentation mit dem Beamer veranschaulichte seine Argumentation. Sie deckten die politischen Verstrickungen auf, die hinter den Anklagen und dem zehnjährigen Verfahren stehen. Auch sie erinnerten mit Trauer an Ebru Timtik. Und sie erinnerten auch daran, was der Anwaltsberuf für den Rechtsstaat und die Demokratie bedeutet. Ein wichtiges Element und Korrektiv in einer Demokratie, der sich der türkische Staat entledigt. Und sie erklärten deutlich, dass ihnen bewusst ist, dass sie wohl die nächsten sein werden, gegen die der Staat ein Strafverfahren konstruieren wird.
RICHTER: MORGEN »SCHICKE« VEURTEILUNGEN
Am Ende des vierten Tages reichte es dem Vorsitzenden offenbar, er meinte, nun genug gehört zu haben. Er sagte, er werde keine weiteren Verteidiger*innen mehr anhören und am nächsten Tag das Urteil sprechen. Es sei ›schicker‹, die Verurteilungen nicht am nächsten Tag direkt im Anschluss an die letzten Verteidigungsreden zu verkünden, wie er es formulierte. Es geht also nur um den Schein des ›schicken‹ Verfahrens? Besser hätte er es wohl nicht zugeben können. Es hatten nicht einmal von allen Angeklagten jeweils ein*e Verteidiger*in gesprochen. Die Verteidiger*innen und der ganze Saal protestierten. Der Vorsitzende wies die Militärpolizei an, den Saal zu räumen. Diese widersetzte sich jedoch und weigerte sich, in Anwesenheit einer internationalen Delegation eine derartige Maßnahme durchzuführen.
Schließlich durften auch am fünften Tage noch einige, aber nicht alle der Verteidiger*innen sprechen (13 Verteidiger*innen jeweils 10 Minuten). Dann wurde das Strafmaß verlesen:
insgesamt 13 Jahre für Selçuk Kozağagclı, 16 Jahre 6 Monate für Oya Aslan, 20 Jahre 6 Monate für Barkın Timtik, 11 Jahre 3 Monate für Taylan Tanay, 7 Jahre 11 Monate für Nazan Betül Vangölü Kozağaçlı, 7 Jahr 1 Monat für Avni Güçlü Sevimli und Gülvin Aydın, 6 Jahre 3 Monate für 7 Güray Dağ, Efkan Bolaç, Serhan Arıkanoğlu, Mümin Özgür Gider, Metin Narin, Sevgi Sönmez, Alper Tunga Saral, Rahim Yılmaz und Selda Yılmaz, 4 Jahre 2 Monate für Naciye Demir, 1 Jahr für Özgür Yılmaz, 3 Jahre 4 Monate für Şükriye Erden.
Soweit manche der Angeklagten bereits in dem Verfahren 2019 für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt worden waren, wurden sie nun ›nur‹ noch wegen Verbreitung von Propaganda verurteilt, und die verurteilen Haftstrafen waren in diesem Verfahren entsprechend kürzer.
Die Anwesenden im Saal protestierte lautstark: »Savunma susmadı, susmayacak!« (Die Verteidigung hat nicht geschwiegen, sie wird nicht schweigen!). Die Verurteilten verließen in großer Würde den Saal. Ein letztes Mal Winken. Den Beobachter*innen standen die Tränen und die Wut in den Augen. Wir verabschiedeten uns voneinander mit »Bis bald!«.
Die Verurteilten werden gegen das Urteil Berufung einlegen. Ob das Berufungsverfahren ebenfalls nur ein Scheinverfahren sein wird, wird wohl auch davon abhängen, wie die Wahlen im kommenden Frühjahr ausgehen werden und sich die politische Situation in der Türkei insgesamt entwickeln wird.
Miriam Frieding ist Rechtsanwältin in Berlin und RAV-Mitglied.
Einige Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.