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Buchbesprechung: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich – Die neue Klassenjustiz

Einige Rezensionsanmerkungen von 
Fritz Sack

Nicht jeder Leser wird die Brisanz und den Bezug des schaufensterleserlichen Titels dieser empirischen Studie von Ronen Steinke auf den ersten und schnellen Blick und im Vorbeigehen in seiner vollen historischen und aktuellen Bedeutung erfassen.
Das Buch reizt zu einem kräftigen und erfreulichen Einerseits und einem nicht zu unterdrückenden Andererseits. Ich will das in wenigen Strichen darlegen.
Einerseits verdanken sich die Ergebnisse einer sorgfältigen Lektüre von zahlreichen justiziellen Dokumenten, Begehungen und Beobachtungen von öffentlich zugänglichen Stätten der Justiz, Diskussionen und Befragungen mit auf zwei Seiten namentlich ausgewiesenen Praktiker-Experten aus der Justiz, der Strafverteidigung sowie der Wissenschaft – davon zwei Professor*innen aus dem seit 1984 erprobten kriminologischen Studiengang der Universität Hamburg, dessen Schließung seit einiger Zeit von Seiten der Universität betrieben wird.
Die Befunde ebenso wie das kriminal- und rechtspolitische Votum dieses Buches erhalten ihr besonderes Gewicht, ja: ihre Legitimation aus der spezifischen Kompetenz seines Autors: Ronen Steinke ist als ausgewiesener und erfolgreicher SZ-Journalist auch promovierter Rechtswissenschaftler und damit gefeit gegen jeden Verdacht der rechtlichen Inkompetenz und des ›populistischen‹ Außenseiters der zu diskutierenden Sache.
In der Tat: manche Leser und Besucher der zahlreichen Lesungen des Autors mögen die unerhörten Befunde der Recherche nur mit dem Verweis auf ihre Unausgewogenheit, Übertreibung, fehlende Repräsentativität oder auch Ausnahme von der Regel etc. von sich fernhalten. Wie dieselben Hörer und Leser vielleicht weniger Unglauben gegen die lässige Spruch- und Volksweisheit ›die Kleinen fängt man und die Großen lässt man laufen‹ hegen mögen. Nachdem auch die Kriminologie diese soziale Schieflage der Strafjustiz durch zahlreiche Studien belegt hat.
Dies hat nicht nur, übrigens, der kriminologische Blick auf die Justiz der Bundesrepublik, sondern auch auf alle kapitalistischen Länder des Westens, vornehmlich dem der USA, die englischsprachige Studie der argentinischen Autorin Valeria Vegh Weis, die derzeit als Humboldt-Stipendiatin in Berlin lebt, erbracht. Diese Studie ist bereits vor fünf Jahren bei Haymarket (Chicago) und Brill (Leiden) erschienen, hat aber bisher keinen deutschen Verlag gefunden. Dafür mag der Titel des Buches verantwortlich sein: ›Marxism and Criminology‹, obwohl es wegen seiner historischen Perspektive über ein halbes Jahrtausend hinweg den besonders herausgestellten interdisziplinären Anspruch der Kriminologie in deutlicher Weise gerecht wird. Ronen Steinke schreibt jedoch in seinem fünfseitigen Vorwort sehr offen: »Das Wort ›Klasse‹ kommt mir dabei schwer über die Lippen«. – Verlag oder Autor haben sich allerdings nicht gescheut, auf dem Titelumschlag sowie auf der dritten Buchseite der Studie die vorgefundene deutsche Justiz als »Die neue Klassenjustiz« zu kennzeichnen.
Als Verdienst indessen hat der Verfasser seine empirische Sonde auf einen Aspekt strafrechtlicher Sozialkontrolle gerichtet, der nicht zum ›beliebtesten‹ kriminologischen Forschungsinteresse gehört: die systemischen sozialen und vor allem ökonomischen Unwuchten der Rechtsanwendung, teilweise auch des Rechts selbst – und damit der Kriminalisierung, nicht der Kriminalität, dem ureigensten und ältesten Gelände der Kriminologie. Nicht nur hier vermisst man das Stichwort des Symbolrechts, für das das Strafrecht in besonderer Weise anfällig ist.
Schließlich nicht nur eine weitere, ja: die aus meiner Sicht sogar grundsätzlichste Frage, die sich mir bei der Lektüre der Studie gestellt hat, von der ich allerdings nicht weiß, ob sie dem Inhalt der Studie oder ›lediglich‹ ihrem Marketing zu verdanken ist. Der Umschlag des Buches bedient sich zwei drucktechnischer Heraushebungen: die grundgesetzliche deskriptive Aussage des Art. 3 Abs. 1 – »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich« – entlarvt der Studieninhalt durch ein gleichsam trotzig in Fettdruck gesetztes nicht als eine Art fake news. Dieser Eindruck findet eine typografische Steigerung durch den in Petit gesetzten Untertitel: »Die neue Klassenjustiz«. Diese die Aufmerksamkeit steigernden typografischen Merkmale finden sich auch auf der dritten Seite des Buches selbst, was wohl gegen eine verkaufsfördernde Eigenmächtigkeit des Verlags spricht.
Dennoch: Kaum finden in den einzelnen materialen Kapiteln des Buches klassenjustizielle Argumentationen Eingang in den Text. Allerdings gibt Ronen Steinke im fünfseitigen Vorwort auch seine Erklärung dafür, warum das so ist. Zwar spricht er analogisch und unwidersprochen von der »gelegentlich« beklagten »Zweiklassenmedizin« sowie »Zweiklassenbildung«, zwei Sätze später aber von dem »bösen alten Wort ›Klassenjustiz‹ auf der Titelseite«, obwohl er etwas später die Justiz wie die Schule als »Orte« gleichsetzt, »… an denen der Staat alle Menschen gleichbehandeln muss«.
Dass der Staat dies nun gerade nicht tut, ist die vielfache empirische Quintessenz des zahlreichen Besuchs des Verfassers von Gerichtsentscheidungen, der Analyse von den daraus resultierten Entscheidungen, der vielen Gespräche mit Entscheidern und deren Adressaten … und schließlich bekennt Ronen Steinke: »Das Wort ›Klasse‹ kommt mir dabei schwer über die Lippen« – nachdem er bereits eine Seite davor von einem »simplen Klassenstandpunkt« gesprochen hatte – gegenüber Begriffen wie »Mentalitäten«, »Vorverständnisse«, über deren Herkunft freilich nicht weiter sinniert wird. Und natürlich darf nicht der Vorwurf der »Vereinfachung eines Problems, das viel komplexer ist«, fehlen, jener berühmte Vorwurf fehlender Differenzierung. Da hat Steinke offensichtlich nicht hingehört, als kein Geringerer als der frühere oberste Strafrichter am BGH, Thomas Fischer, in einem Interview von der Strafjustiz als »Unterschichtsprojekt« gesprochen hat.
Ein Schlüssel der Position des promovierten Juristen Steinke findet sich schließlich ebenfalls im Vorwort des Buches, allerdings verwiesen in die Anmerkung 8 des Textes. Dort bezieht sich der Verfasser affirmativ auf eine Feststellung der Rechtssoziologin Susanne Baer, wonach »Wissen über das Sozialprofil von Berufen […] noch kein Wissen darüber [ist], warum Menschen wie entscheiden«. – Diese Aussage ist nicht weit entfernt von einer höchstrichterlichen Feststellung zur Frage der strafrechtlichen Schuld und Verantwortung eines Verurteilten, »dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl […] er sich für das Recht hätte entscheiden können« (BGH St 2, 194). Eine Feststellung, die schlicht als eine Absage an die eigentliche Ursache und Erklärung der vom Verfasser unbestrittenen Missstände der Justiz zu werten ist.
Den Erscheinungsort dieser Rezension in einem Organ des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein, an dessen Gründung in Hannover während der siebziger Jahre ich selbst mitbeteiligt war, möchte ich als Legitimation für einen Hinweis an den Autor des rezensierten Buches auf eine rechtssoziologische Studie des berühmten französischen Soziologen des vergangenen Jahrhunderts, Pierre Bourdieu, nehmen: Dieser hat unter dem Titel »Die Juristen – Türhüter der kollektiven Heuchelei« eine ideologie-kritische Skizze des Rechts und seiner Anwender gestellt.

Prof. Dr. Dr. h.c. em. Fritz Sack ist Kriminologe und Soziologe sowie ›Urgestein‹ des RAV.

>> Ronen Steinke, Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz. Berlin 2022 <<