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EuGH zur Rückführung unbegleiteter Minderjähriger

BLEIBEPERSPEKTIVE IN DER PRAXIS UNKLAR

Oriane Lafargue

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 14. Januar 2021 entschieden [1] , dass gegenüber unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen keine Rückkehrentscheidung getroffen werden darf, wenn die Abschiebung nicht möglich ist. Dies hat auch Auswirkungen auf die deutsche Abschiebepraxis. Im September 2021 stärkte er zudem die Rechte der Eltern minderjähriger Geflüchteter. [2] 

Der Fall TQ

Hintergrund der Vorlage war der abgelehnte Asylantrag eines 15-jährigen unbegleiteten Minderjährigen aus Guinea, TQ. Er hatte eine befristete Aufenthaltserlaubnis für Asylbewerber beantragt und vorgetragen, er sei in Amsterdam Opfer von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung geworden, weshalb er derzeit unter schwerwiegenden psychischen Störungen leide. Im März 2018 entschied das niederländische Ministerium für Sicherheit und Justiz (Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid), dass TQ keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden könne und er auch keinen Anspruch auf den Flüchtlingsstatus oder auf subsidiären Schutz habe. Nach niederländischem Recht gilt diese Entscheidung als Rückkehrentscheidung. Der Jugendliche galt sodann als vollziehbar ausreisepflichtig und hielt sich illegal in den Niederlanden auf.
Daraufhin erhob der Minderjährige Klage gegen diese Entscheidung und begründete dies u.a. damit, dass er nicht wisse, wo seine Eltern wohnten und er sie bei einer Rückkehr nicht wiedererkennen könne, da er weder Familienangehörige kenne, geschweige denn wisse, ob es überhaupt Familienangehörige gebe.
Das vorlegende Gericht erklärte, dass die niederländische Regelung nach dem Alter des unbegleiteten Minderjährigen unterscheidet. Bei einem unbegleiteten Minderjährigen, der zum Zeitpunkt der Beantragung von Asyl jünger als 15 Jahre sei, werde gemäß Art. 10 der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) vor Erlass einer Entscheidung untersucht, ob für ihn eine geeignete Aufnahmemöglichkeit im Rückkehrstaat besteht. Fehlt es daran, erhält er einen regulären Aufenthaltstitel. Bei unbegleiteten Minderjährigen, die zum Zeitpunkt des Asylantrags 15 Jahre oder älter sind, findet solche Untersuchung jedoch nicht statt. Das Gericht stellte fest, dass die niederländischen Behörden dann aber oftmals abzuwarten schienen, bis die Minderjährigen das Alter von 18 Jahren erreichten, um anschließend die Rückkehrentscheidung umzusetzen und die Minderjährigen abzuschieben.
Daher ist der Aufenthalt eines 15 Jahre alten oder älteren unbegleiteten Minderjährigen im Zeitraum zwischen seinem Asylantrag und dem Erreichen der Volljährigkeit in den Niederlanden illegal, aber geduldet.
In diesem Kontext hat das vorlegende Gericht beschlossen, den Gerichtshof nach der Vereinbarkeit der Unterscheidung zwischen unbegleiteten Minderjährigen über und unter 15 Jahren zu fragen.
Weiter wollte das vorlegende Gericht wissen, ob es nach Art. 8 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie unzulässig ist, wenn ein Mitgliedstaat nach Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem unbegleiteten Minderjährigen von dem Vollzug so lange absieht, bis er das Alter von 18 Jahren erreicht. Dies hat für die Behörde den Vorteil, dass die Beachtung des Kindeswohls bei der Abschiebung durch den Eintritt in die Volljährigkeit nicht mehr von Relevanz ist.

Die Entscheidung des EuGH: 
Abwarten der Abschiebung ist unionsrechtswidrig

Der EuGH erteilte dieser Galgenfrist eine Absage und entschied, dass im Falle eines über 15 Jahre alten Asylbewerbers es unzulässig sei, nicht zu prüfen, ob im Rückführungsstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorhanden ist.
Die zuständige Behörde muss somit prüfen, ob die Übergabe an ein Mitglied seiner Familie, einen offiziellen Vormund oder eine geeignete Aufnahmeeinrichtung möglich ist. Sie hat den Minderjährigen deshalb auch zu den Umständen, die er im Falle der Rückführung im Herkunftsstaat antreffen würde, anzuhören.
Auch die Praxis des Abwartens befand der EuGH für unionsrechtswidrig. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist der Mitgliedstaat verpflichtet, alle Maßnahmen zu ergreifen, die zur Durchführung der Abschiebung des Betroffenen erforderlich sind, wenn eine Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen erlassen worden ist und dieser nicht innerhalb der gesetzten Frist freiwillig ausgereist ist. Diese in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG normierte Verpflichtung der Mitgliedstaaten soll die Effizienz von Rückkehrverfahren gewährleisten. Die Behörden sind also gehalten, grundsätzlich auch Minderjährige unverzüglich abzuschieben, wobei dann aber das Kindeswohl umfassend geprüft werden muss. Das Abwarten bis zum Eintritt der Volljährigkeit, allein um die Prüfung des Kindeswohls zu umgehen, wird dieser Verpflichtung somit nicht gerecht.

Die Situation in Deutschland

Auch in Deutschland wird die Ablehnung eines Asylantrages in aller Regel mit einer Rückkehrentscheidung in Gestalt einer Abschiebungsandrohung verbunden (vgl. § 34 Abs. 2 AsylG). Bis zur Abschiebung (also der zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht) [3]  leben die Betroffenen, auch unbegleitete Minderjährige, mit einer sogenannten Duldung in Deutschland. Die Duldung bescheinigt, dass der Inhaber ausreisepflichtig ist, aber aktuell nicht abgeschoben werden kann. Sie gibt der geduldeten Person jedoch explizit kein Aufenthaltsrecht. In der Regel wird die Duldung lediglich für eine kurze Dauer ausgestellt und muss regelmäßig verlängert werden. Das auf der Duldung angegebene Datum hat aber wenig Gewicht, da die Abschiebung gleichwohl jederzeit möglich ist, wenn das Abschiebehindernis wegfällt.
Einen besonderen Duldungsgrund für Minderjährige enthält § 58 Abs. 1a AufenthG. Danach setzt die Abschiebung für Minderjährige im Zielland die Übergabe an eine geeignete Einrichtung oder die Übergabe an eine sorgeberechtigte Person voraus; sonst wird eine Duldung erteilt. Die Anforderungen an diesen Nachweis sind sehr hoch. Allein die abstrakte Möglichkeit, den Minderjährigen an Verwandte zu übergeben, reicht nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dafür nicht aus. [4]  Die Behörden sollen sich vielmehr in jedem Einzelfall vergewissern, dass die Übergabe des unbegleiteten Minderjährigen an die geeignete Stelle oder sorgeberechtigte Person konkret möglich ist.
Auch Deutschland ist aufgrund der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU (AufnRL) und der Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU (VerfRL) verpflichtet, die besonderen Schutzbedürfnisse Schutzsuchender im Aufnahme- und Anerkennungsverfahren frühestmöglich zu identifizieren und eine bedarfsgerechte Behandlung während des gesamten Asylverfahrens sicherzustellen. [5] 

Grund- und menschenrechtliche Anforderungen an den Nachweis einer geeigneten Unterbringung

Aufgrund des fundamentalen Leitmotivs des Kindeswohls (Art. 6 GG, Art. 24 GrCh, Art. 3 UN-KRK) muss die Ausländerbehörde sich auch über die konkrete Eignung der Aufnahmeeinrichtung vergewissern. Hierzu sind Informationen über die grundsätzlichen Strukturen vor Ort und die auch tatsächliche Verfügbarkeit eines Platzes in einer für den jeweiligen Minderjährigen geeigneten Aufnahmeeinrichtung erforderlich. Die abstrakte Bereitschaft der Behörde im Zielstaat zur Unterbringung von Minderjährigen, beispielsweise aufgrund von Abkommen oder einer Aufnahmezusage, ist hier gänzlich irrelevant und entbindet die Ausländerbehörde explizit nicht von ihrer Nachweispflicht.
Der gesetzliche Vormund ist über das Ergebnis dieser Ermittlungen der Ausländerbehörde in Kenntnis zu setzen. Dies hat in einem Bescheid zu geschehen, der mit Rechtsmitteln angreifbar ist.

Unionsrechtliche Anforderungen
an die deutsche Praxis

Noch bedeutsamer ist die Einschätzung des EuGH zur Duldungserteilung bzw. zum tatsächlichen Vollzug der Abschiebung.

Rückkehrentscheidung
Der EuGH weist in Bezug auf die Rückkehrentscheidung sehr deutlich auf seine bisherige Rechtsprechung hin. Aus der Rückführungsrichtlinie ergibt sich ein zwingendes Programm für die Mitgliedstaaten. Wenn einem Drittstaatsangehörigen kein Aufenthaltstitel erteilt wird und er sich deshalb illegal in einem Mitgliedstaat aufhält, muss die mitgliedstaatliche Behörde eine Rückkehrentscheidung erlassen und diese auch vollziehen.
Damit sind jedenfalls die Duldungen, die wie die Ausbildungsduldung (§ 60c AufenthG) und die Beschäftigungsduldung (§ 60d AufenthG) einen längerfristigen illegalen Aufenthalt ermöglichen sollen, nicht vereinbar. Von der sich aus der Rückführungsrichtlinie ergebenden Pflicht zum Vollzug der Abschiebung unbegleiteter Minderjähriger kann aber abgesehen werden, wenn den Minderjährigen eine qualifizierte Berufsausbildung oder Assistenz- oder Helferausbildung erlaubt wurde, die sie nach erfolglosem Asylverfahren fortsetzen können [6], und deswegen geduldet werden. Denn in diesen Fällen liegt, trotz Abschiebungsandrohung des BAMF und bestehender Bindungswirkung, noch keine vollstreckbare Rückkehrentscheidung vor, da unter diesen Umständen die Ausreisefrist unterbrochen ist. [7]  Bei erfolgreichem Ausbildungsabschluss kann der Ausländer einen legalen Aufenthalt zum Zwecke der Beschäftigung erlangen.

Duldung
Bei Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG, die ebenfalls zu einer Duldung führen, muss differenziert werden. Unproblematisch wäre es, wenn sich an den Duldungsgrund die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG anschließt. Nicht mit Unionsrecht vereinbar ist es dagegen, wenn die Erteilung eines Aufenthaltstitels verweigert wird, ohne dass eine Rückkehrentscheidung ergeht oder die Absicht besteht, diese zu vollziehen.
Doch auch aufgrund der Grund- und Menschenrechte gibt es Einwände gegen die bisherige Praxis: Wird ein unbegleiteter Minderjähriger nicht abgeschoben, obwohl eine verbindliche und vollstreckbare Rückkehrentscheidung vorliegt, so steht das der in Art. 6 GG geschützten Familieneinheit entgegen. Ist es jedoch für das Kindeswohl notwendig, dass der Minderjährige im Bundesgebiet bleibt (vgl. § 6 Abs. 5 Satz 2 FreizügG/EU), besteht ein Duldungsgrund aus verfassungs- und völkerrechtlichen Gründen (Art. 24 GRCh; Art. 8 EMRK; Art. 6 GG). [8] 

Folgen des EuGH-Urteils für die Abschiebepraxis in Deutschland

Die Entscheidung des EuGHs beruht zwar auf einer niederländischen Vorlage, sie zwingt aber gleichwohl die Bundesrepublik Deutschland, ihre Verwaltungspraxis zu ändern und gesetzliche Regelungen zu überdenken.

Rückkehrentscheidung nur nach Prüfung
Zwar hat sich an den Voraussetzungen für die Abschiebung selbst unter Berücksichtigung des Minderjährigenschutzes nichts geändert. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird allerdings bei Ablehnung des Asylantrags eines unbegleiteten Minderjährigen nun nicht mehr direkt eine Rückkehrentscheidung treffen können, ohne konkret die Möglichkeit der tatsächlichen Abschiebung geprüft zu haben.
Die zuständige Behörde muss nun also vor Erlass der Abschiebungsandrohung prüfen, ob die Übergabe an ein Mitglied seiner Familie, einen offiziellen Vormund oder eine geeignete Aufnahmeeinrichtung möglich ist. Sie hat den Minderjährigen auch zu den Umständen, die er im Falle der Rückführung im Herkunftsstaat antreffen würde, anzuhören. Dabei hat der Minderjährige Anspruch auf Unterstützung durch einen Amtsvormund.

Aufenthaltserlaubnis statt Duldung
Die Abschiebung darf auf der Grundlage der Abschiebungsandrohung erst erfolgen, wenn nochmals überprüft worden ist, ob die Übergabe an eine der zulässigen Personen oder Stellen möglich ist. Ist eine solche Abschiebung nicht möglich, könnte den Minderjährigen nun sogar eine Aufenthaltserlaubnis zustehen. Die bisherige Praxis, dass zur Wahrung des Kindeswohls lediglich eine Duldung erteilt wird, dürfte damit rechtswidrig sein.

Weiteres Urteil im Fall SE: 
Familiennachzug und Aging out

Am 9. September 2021 stärkte der EuGH zudem auf eine deutsche Vorlage hin die Rechte von Eltern minderjähriger Geflüchteter. [9]  Danach haben die Eltern von minderjährigen Geflüchteten ebenfalls einen Anspruch auf subsidiären Schutz, wenn sie vor Eintritt der Volljährigkeit ihres Kindes formlos (!) einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Eine Einschränkung des Schutzstatus und des daraus resultierenden Rechts auf einen Aufenthaltstitel sowie auf Zugang zu einer Beschäftigung und zu Wohnraum nach Eintritt der Volljährigkeit ist unzulässig.

Fazit

Mit der Entscheidung stärkt der EuGH die Rechte von unbegleiteten Minderjährigen deutlich und öffnet diesen eine echte Bleibeperspektive. Unter Berücksichtigung des Kindeswohls ist die Entscheidung des EuGHs folgerichtig. Von besonderer Bedeutung ist die Absage an die Praxis der Mitgliedstaaten, mit der Abschiebung abzuwarten, bis der abgelehnte Drittstaatsgehörige das Erwachsenenalter erreicht hat, um sich so den besonderen Anforderungen an den Minderjährigenschutz zu entziehen.
Wie genau diese neue Rechtsprechung nun sinnvoll vor dem Hintergrund der deutschen Rechtslage umgesetzt werden wird, kann allerdings noch nicht abschließend beurteilt werden.

Oriane Lafargue ist Rechtsanwältin in Frankfurt/M. Die Unterüberschrift wurde von der Redaktion eingefügt.

[1]  EuGH, U. v. 14.1.2021, C-441/19 (TQ).
[2]  EuGH, U. v. 9.9.2021, C-768/19 (SE).
[3]  Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 58 Rn. 2.
[4]  BVerwG, U. v. 13.6.2013 – BVerwG 10 C 13.12.
[5]  Heuser/Junghans/Kluth, ZAR 2021, 265.
[6]  § 60a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a, Nr. 1b AufenthG.
[7]  § 59 Abs. 1 Satz 6 AufenthG.
[8]  Welte, ZAR 2021, 221.
[9]  EuGH, Urt. v. 9.9.2021, C-768/19 (SE).