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Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion 
einer mächtigen Institution

Die Polizei: 
Helfer, Gegner, Staatsgewalt Inspektion 
einer mächtigen Institution

Rezension von Peer Stolle

Im Frühjahr dieses Jahres kam im Econ-Verlag ein Buch zur Polizei heraus, geschrieben von Prof. Dr. Tobias Singelnstein, der den meisten Mitgliedern nicht nur von der Studie zur (rechtswidrigen) Polizeigewalt bekannt sein dürfte, und unserem Kollegen und RAV-Mitstreiter Benjamin Derin. Schon der Titel »Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt. Inspektion einer mächtigen Institution« klingt vielversprechend, und – das kann jetzt schon gesagt werden – der/die Leser*in wird nicht enttäuscht.
Wenige Tage, bevor der Autor diese Rezension schrieb, wurde in den (sozialen) Medien ausführlich über einen gewaltvollen Polizeieinsatz in Mannheim berichtet und debattiert, in dessen Folge ein 47-jähriger Mann aus Mannheim zu Tode kam.
Nach Berichten soll ein Arzt des ›Zentralinstituts für seelische Gesundheit Mannheim‹ die Polizei über einen Patienten informiert haben, der hilfebedürftig sei. Die beiden Beamten hätten sodann zusammen mit dem Arzt den Mann in der Innenstadt gesucht und auch gefunden. Als die Beamten eine »Kontrolle« – von was und zu welchem Zweck blieb offen – durchführen wollten, soll sich der offenbar psychisch beeinträchtigte Mann dieser »Kontrolle« widersetzt haben. Um den von den Beamten geltend gemachten Anspruch auf Kontrolle durchzusetzen, wurde der Betroffene mittels Gewalt zu Boden gebracht, auf dem Boden fixiert und von einem der Beamten mehrmals mit der Faust auf ihn, u.a. auf den Kopf, eingeschlagen. Der Mann blieb regungs- und offensichtlich bewusstlos liegen und verstarb.
Dieser Fall steht exemplarisch für eine Vielzahl von Fällen, die verdeutlichen, dass etwas mit der Polizei – von ihrem Aufgabenbereich und ihrem Handeln her, aber auch als Institution – nicht stimmt. Eine offensichtlich hilfebedürftige Person kommt zu Tode, weil die Polizei ihren Machtanspruch mit Gewalt durchsetzt.
Dieser Fall ist kein Einzelfall. Was die Gründe dafür sind, welche systemischen Ursachen dem zugrunde liegen und wie man mit solchen Problemen und vielen anderen umgehen sollte, diesem Thema haben sich dankenswerterweise der Strafrechtsprofessor Tobias Singelnstein und der Strafverteidiger Benjamin Derin in ihrer »Inspektion einer mächtigen Organisation« angenommen. In fünf Kapiteln (»Die Polizei in der Gesellschaft«, »Die Polizei als Organisation«, »Polizeiprobleme«, »Polizei im Wandel« und »Perspektiven«) widmen sich die Autoren einer Vielzahl von Facetten, die die Institution Polizei ausmachen und prägen. In dem durchweg allgemein verständlichen und lesbaren Werk (obwohl berechtigte Zweifel daran bestehen, dass der Rezensent diese Frage angemessen beurteilen kann) üben die Autoren nicht einseitige Kritik, sondern versuchen, sich dem komplexen und vielschichtigen Feld der Polizei aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern.
Obwohl beide Autoren Volljuristen sind, ist die Perspektive eine sozialwissenschaftliche. Nicht die rechtlich definierten Zwecke polizeilichen Handelns werden als Ausgangspunkt der »Inspektion« gewählt, sondern die der Polizei obliegenden gesellschaftlichen Funktion, die mit der Durchsetzung der herrschenden Ordnung und der Sicherung der bestehenden gesellschaftlichen treffend beschrieben werden. Da diese soziale Ordnung auf Ungleichheit und Rassismus basiert, prägen diese Verhältnisse die Arbeit der Polizei, die wiederum durch ihr Tätigwerden diese Verhältnisse reproduziert. Dieses funktionale Handeln ist nicht zwingend intentional, sondern der Polizei als Institution eingeschrieben. Diese Herangehensweise ermöglicht einen unaufgeregten, analytischen Blick auf die Funktion und Arbeitsweise der Polizei und ihr Verhältnis zum Recht und seine Anwendung. Die selektive Anwendung des Rechts wird vor diesem Hintergrund nicht als Ausnahme gesehen, sondern funktional als der Sinn der Sache.

»Das Recht sorgt daher nur für eine relative Bindung der polizeilichen Praxis, die ebenso von den Vorstellungen der jeweiligen Beamt:innen wie auch den gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt ist - nicht mit den politischen, sondern auch den sozialen und wirtschaftlichen«.
Davon ausgehend wird die Polizei als Organisation in ihrer Vielschichtigkeit beschrieben, die Probleme, die Beamt*innen in ihrer Arbeit und mit der Behörde haben, wie die Sicht auf die Polizei und die Sicht der Polizist*innen auf die Welt ist, welche Funktionen die Entwicklung einer Cop-Culture aufweist und welche Probleme damit verbunden sind.
Dem schließt sich die Darstellung der zwar allseits bekannten, in dem Buch aber sehr erkenntnisreich und pointiert zusammengefassten Probleme der Polizei mit Gewalt, Rassismus, Rechtsextremismus und fehlender Fehlerkultur an. Besonders gewinnbringend ist sodann die Darstellung der Wandlungsprozesse innerhalb der Polizei, die sich nicht nur durch neue Aufgaben und Befugnisse auszeichnen, sondern auch durch besorgniserregende und alarmierende Verselbständigungstendenzen. Diese Rolle bzw. besondere gesellschaftliche Stellung, die die Polizei im Gegensatz zu anderen Berufen in der Gesellschaft ausmacht, nämlich ihre Ausstattung mit Machtfülle und Autorität, hat zwangsläufig zur Folge, dass die Polizei Anerkennung, Respekt und Belohnung für ihre Arbeit erwartet. Diese Erwartungshaltung kollidiert aber mit einer immer selbstbewussteren Gesellschaft, insbesondere ihre diskriminierten und benachteiligten Teile, die immer macht- und damit auch polizeikritischer auftreten. Das Hinterfragen der Rolle und Funktion der Polizei erfolgt in einem viel stärkerem Maße als zu früheren Zeiten.
Die Reaktion der Polizei auf dieses zunehmende öffentliche Hinterfragen ihres Handelns lässt eine ›Fragilität in der Burg‹ offenbar werden, die zu einer Zuspitzung einer Vielzahl von Problemen führt. Wenn die Definitionsmacht der Polizei nicht hingenommen, sondern herausgefordert wird, kann dies bei der Polizei als mangelnder Respekt und Anerkennung aufgefasst werden. Dadurch entwickelt diese eine ›Opferrolle‹, was vermehrt dazu führt, dass Ungehorsamkeiten oder Unfreundlichkeiten als Angriff auf diese fragile Position wahrgenommen und mit mehr Zwang und Gewalt durchgesetzt werden. Vor dem Hintergrund, dass sich die Polizei immer mehr verselbständigt und nicht nur in ihren Gewerkschaften mächtige und einflussreiche Fürsprecher hat, droht die Gefahr der Entstehung eines nur noch schwer zu kontrollierenden Apparates.
Vor diesem Hintergrund nimmt sich das Buch den Perspektiven an, die dieser Entwicklung entgegensteuern können. Die Autoren untersuchen in diesem durch und durch lesenswerten Buch die verschiedenen Ansätze von Demokratisierung, Defund und Abolish und beleuchten diese Reformansätze von verschiedenen Seiten. An dieser Stelle hätte es dem Buch gutgetan, einige Reformansätze noch detaillierter auszubuchstabieren, um in der konkreten Auseinandersetzung mehr Ansatzpunkte zu haben.
Fazit: Das Werk zeichnet aus, dass es sich nicht nur auf einzelne Probleme oder Perspektiven von und auf die Polizei beschränkt, sondern diese »mächtige Institution« aus einer juristisch und kriminologisch fundierten sozialwissenschaftlichen Perspektive seziert und vor dem/der geneigten Leser*in ausbreitet. Aufgrund des Schreibstils und des Aufbaus bleibt es dem Buch zu wünschen, dass sich seine Leser*innenschaft nicht auf ein Fachpublikum beschränken wird. Wer sich in Zukunft über die Polizei informieren und sich fundiert über diese Institution austauschen oder äußern will, wird um »Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt« nicht herumkommen.

Dr. Peer Stolle ist Rechtsanwalt in Berlin und Vorsitzender des RAV.

>> B. Derin und T. Singelnstein, Die Polizei: Helfer, Gegner, Staatsgewalt – Inspektion einer mächtigen Organisation. Berlin 2022 <<