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»Flüchtigseins« im Dublinverfahren

Die Begriffsbestimmung des 
»Flüchtigseins« im Dublinverfahren

Besprechung des Urteils des Bundesverwaltungsgericht
vom 17.8.2021 – 1 C 26.20

Christine Lüth und Anya Lean

»Bitte finden Sie sich am 1. Juni 2019 um 8:30 Uhr zur Durchführung 
Ihrer Abschiebung beim Polizeipräsidenten in Berlin ein«.

Am 17. August 2021 hatte das Bundesverwaltungsgericht in mehreren Parallelverfahren über die Frage zu entscheiden, welche rechtlichen Folgen daran zu knüpfen sind, wenn eine schutzsuchende Person einer solchen Aufforderung zu erscheinen keine Folge leistet und damit nicht freiwillig an ihrer Abschiebung mitwirkt. Das Gericht entschied zugunsten der Betroffenen, dass allein das Nichterscheinen zu diesem Termin nicht dazu führt, dass die Person als »flüchtig« im Sinne der Dublin III-VO gelten darf, so dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist von sechs auf 18 Monate nicht gerechtfertigt ist.

Sachverhalt

Den Entscheidungen lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die drittstaatsangehörigen Kläger*innen reisten in das Bundesgebiet ein und äußerten gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ein Schutzersuchen, nachdem sie bereits in einem anderen EU-Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hatten. Daraufhin lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (§ 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen, und ordnete die Abschiebung der Kläger*innen in die jeweiligen zuständigen EU-Mitgliedstaaten an. Nach mehreren gescheiterten Überstellungsversuchen (siehe hierzu nächster Absatz), forderte die Ausländerbehörde des Landes Berlin die Kläger*innen auf, sich zur Durchführung der Abschiebung an einem bestimmten Tag bei der Polizeibehörde einzufinden. Zu diesem Termin erschienen die Kläger*innen nicht, weshalb das Bundesamt die Überstellungsfrist auf 18 Monate verlängerte mit der Begründung, dass die Kläger*innen sich der Abschiebung bewusst entzogen hätten und somit »flüchtig« seien (Art. 29 Abs. 2 Satz 2 HS. 2 Dublin III-VO). Zur Erklärung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, dass »Flüchtigkeit« auch dann angenommen werden könne, wenn eine betroffene Person die Überstellung vereitele, weil sie sich ihr durch ihr Nichterscheinen entziehe. In diesem Fall habe sie das Scheitern der Überstellung verursacht und dürfe nicht bessergestellt werden als Personen, deren Überstellung aufgrund ihres unbekannten Aufenthaltsortes scheitere.
Zusätzlich zu der Selbstgestellungsproblematik hatte das Bundesverwaltungsgericht auch darüber zu entscheiden, ob ein Flüchtigsein dann angenommen werden könne, wenn – wie in einem Fall – der Kläger im Flugzeug erkläre, dass er nicht nach Italien fliegen wolle, denn auch in diesem Fall hatte das Bundesamt die Überstellungsfrist verlängert, da es angenommen hatte, dass diese Weigerung, die Abschiebung hinzunehmen, als »Flüchtigkeit« einzustufen sei.
Die Vorinstanzen [1] hatten die Unzulässigkeitsentscheidungen des Bundesamtes allesamt aufgehoben, da sie der Ansicht waren, dass das Verhalten der Kläger*innen keine »Flüchtigkeit« in dem Sinne der Dublin III-VO darstelle und die Überstellungsfrist nicht hätte verlängert werden dürfen. Folglich sei die Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren inzwischen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts haben diese Auffassung im Ergebnis bestätigt.

Die Bedeutung der 
Überstellungen in Zahlen

Die Entscheidung ist praktisch relevant, denn sie betrifft eine Vielzahl von Verfahren und berührt gleichzeitig verfassungsrechtliche Fragen nach dem Umfang von Mitwirkungspflichten in behördlichen Verfahren bei entgegenstehendem Willen der Betroffenen. Vorab möchten wir einen kurzen Einblick in die europaweite Praxis der Asyl- und ihrer Vollzugbehörden im Dublin-Verfahren geben, die – stellt man die Zahlen einmal gegenüber – absurd wirken kann.
Ziel des Dublin-Verfahrens ist, dass jeder im sogenannten ›Dublin-Gebiet‹ gestellte Antrag auf internationalen Schutz nur einmal geprüft wird. Rechtsgrundlage des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ist die Dublin III-Verordnung, welche seit 2013 in Kraft ist. Ziel der Verordnung ist es, die Sekundärmigration innerhalb Europas zu steuern und zu begrenzen. In der Praxis bedeutet dies, dass ein erneuter Asylantrag in Deutschland nicht inhaltlich bearbeitet und die Rückkehr in den Staat der ersten Asylantragstellung vorbereitet und durchgesetzt wird. Voraussetzung ist in der Regel, dass der andere Mitgliedstaat der Rückkehr zustimmt (Zustimmung zum Übernahmeersuchen). Auf diese Zustimmung folgen dann sechs Monate, in denen die Überstellung stattfinden muss. Andernfalls geht die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags auf den anderen Mitgliedstaat über. Die Frist kann nur in besonderen Fällen auf 18 Monate verlängert werden (z.B., weil eine Person als »flüchtig« gilt). Die Zahl der an Deutschland gestellten Übernahmeersuchen betrug 17.253 im Jahr 2020, von denen 4.369 Überstellungen durchgeführt wurden. Deutschland selbst stellte 30.135 – also fast doppelt so viele – Übernahmeersuchen an die anderen Mitgliedstaaten, von denen 2.953 Überstellungen durchgeführt wurden. [2]  Das bedeutet, dass aus unterschiedlichen Gründen nur ca. 10% der möglichen Überstellungen von Deutschland umgesetzt werden. Als im Asylrecht tätige Anwältin oder Beraterin können wir den Ratsuchenden in den wenigsten Fällen sagen, ob sie zu diesen 10% gehören werden. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen ist die Frage berechtigt, welchen Sinn es hat, an dem Prinzip des Dublin-Verfahrens in seiner aktuellen Form festzuhalten, wenn das bedeutet, dass in 90% der Verfahren die inhaltliche Entscheidung über ein Schutzgesuch trotzdem in Deutschland getroffen, jedoch um viele Monate verzögert wird, und das Dublin-Verfahren für Betroffene häufig eine erhebliche Belastung darstellt, da man davon ausgehen kann, dass es in den meisten Fällen Gründe für die Weiterwanderung gibt (z.B. um mit nahen Verwandten zusammenleben zu können oder weil die humanitären Bedingungen in den zuerst betretenen Ländern eine Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen).

Begriffsbestimmung aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts

Die hier besprochene Entscheidung ergeht vor dem Hintergrund weiterer Entscheidungen, die sich mit der Anwendung der Dublin III-VO und dem Begriff des »Flüchtigseins« beschäftigen. So hatte der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) bereits entschieden, dass eine schutzsuchende Person nur dann »flüchtig« im Sinne der Dublin III-VO sei, wenn sie sich den für die Durchführung der Abschiebung zuständigen nationalen Behörden gezielt entziehe, um die Überstellung zu vereiteln, und ihr Verhalten kausal für die gescheiterte Abschiebung sei. Dabei seien alle relevanten Umstände zu berücksichtigen. [3] 
Unter Bezugnahme auf das oben genannte Urteil des EuGH entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass in den Fällen des »offenen Kirchenasyls« die schutzsuchende Person nicht als »flüchtig« gilt, wenn der Behörde ihr Aufenthaltsort bekannt ist. In diesem Fall könne die Frist zur Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat nicht auf 18 Monate verlängert werden. [4] 
Nun erging im August eine weitere Entscheidung zum Begriff des »Flüchtigseins«. Dabei wurde explizit auf die Ziele der Dublin III-VO als Bezugspunkt der Auslegung eingegangen:
»Mit Blick auf die von der Dublin III-Verordnung verfolgten Ziele (schnelle Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats und Gewährleistung eines effektiven Zugangs zum Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes) ist der Begriff als Voraussetzung für ein ausnahmsweises Abweichen von der grundsätzlich einzuhaltenden sechsmonatigen Überstellungsfrist eng auszulegen«. (Urteil, S. 8)
Anschließend wiederholte das Bundesverwaltungsgericht die Notwendigkeit einer Absicht der betroffenen Person, sich der Abschiebung gezielt zu entziehen, um die Überstellung zu vereiteln, sodass eine kausale Verknüpfung dieses Verhaltens mit dem Scheitern der Abschiebung gegeben sein muss. Es ist also ein Aufeinandertreffen von subjektiven und objektiven Elementen und eine kausale Verknüpfung der unterschiedlichen Elemente erforderlich.
»Allein eine Verletzung von Mitwirkungspflichten rechtfertigt jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung im Dublin-Verfahren grundsätzlich nicht die Annahme eines Flüchtigseins im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin III-VO, solange der zuständigen Behörde der Aufenthalt des Antragstellers bekannt ist und sie die objektive Möglichkeit einer Überstellung – gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs – hat«. (Urteil, S. 9)
Nicht jedes Verhalten, auch wenn dies die Abschiebung faktisch erschwere, könne als kausal angesehen werden.
»Entgegen der Auffassung der Beklagten genügt für ein kausales Sichentziehen nicht jedes sich irgendwie nachteilig auf die Durchführbarkeit einer angesetzten Überstellung auswirkende Verhalten des Betroffenen bzw. jedwede vorübergehende Verunmöglichung einer Überstellung. Insbesondere entzieht sich ein Ausländer jedenfalls bei einer zwangsweisen Überstellung regelmäßig nicht allein durch ein passives – wenn auch möglicherweise pflichtwidriges – Verhalten (objektiv) dem staatlichen Zugriff«. (Urteil, S. 10)
Die fehlende Mitwirkung könne in diesem Fall, soweit der Aufenthaltsort der Person bekannt sei, durch eine zwangsweise Überstellung ersetzt werden. Insbesondere gebe es keine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung an der eigenen Überstellung.
»Der Ausreisepflichtige kann selbst entscheiden, ob er an einer ihm angebotenen kontrollierten Überstellung mitwirkt oder nicht. Verweigert er seine Mitwirkung, bedarf es einer begleiteten Überstellung, die er passiv dulden muss. Allein der Umstand, dass sich wegen der fehlenden Mitwirkung bzw. Kooperation des Betroffenen der für eine zwangsweise Überstellung erforderliche Aufwand für die Vollzugsbehörde erhöht und sein Verhalten möglicherweise zu einer Verzögerung führt, weil die Vollzugsbehörde keine Vorsorge für eine begleitete Überstellung getroffen hat, stellt objektiv kein Sich- entziehen dar«.
Die Verlängerung der Überstellungsfrist sei auch wegen der erheblichen Folgen für die Betroffenen nur in Fällen tatsächlichen »Flüchtigseins« und als Ausnahme zulässig (vgl. Urteil, Rn. 23 unter Bezugnahme auf die Schlussanträge des Generalanwalts Wathelet vom 25. Juli 2018 – Rs. C-163/17 – Rn. 59).
Schließlich begründe auch ein wegen Flugunwilligkeit abgebrochener Überstellungsversuch regelmäßig kein »Flüchtigsein«, weil der Staat weder rechtlich noch tatsächlich an der (zwangsweisen) Durchführung der Überstellung gehindert sei. Betroffene seien insbesondere nicht zum freiwilligen Betreten eines Beförderungsmittels und zum dortigen Verbleib verpflichtet (Urteil, Rn. 30).
»Dies gilt jedenfalls, wenn der Betroffene sich – wie hier – lediglich verbal weigert. Mit einer derartigen Reaktion muss die Vollzugsbehörde bei einer staatlich überwachten Überstellung rechnen und entsprechende Vorsorge treffen«. (Urteil, Rn. 31)
Das Verhalten der betroffenen Person muss also dazu führen, dass sie dem staatlichen Vollstreckungszugriff nicht (mehr) ausgesetzt ist. Daher kommt es grundsätzlich auch nicht darauf an, ob eine Person gegen Mitwirkungspflichten zur Förderung ihrer Überstellung verstößt, wenn es den zuständigen Behörden weiterhin möglich bleibt, sie zu überstellen. Diese Auslegung ergibt sich nicht nur aus der angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, die ein gezieltes Entziehen zur Vereitelung der Überstellung fordert, sondern wird auch durch den Wortlaut des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO gestützt. Sowohl die deutsche Fassung der Verordnung (»flüchtig«) als auch die französische (»prend la fuite«), die italienische (»sia fuggito«), die spanische (»en caso de fuga«) und erst recht die niederländische (»onderduikt«) Sprachfassung stellen auf eine Flucht oder ein Untertauchen der betroffenen Person ab, was ein aktives Sich-Entziehen aus dem Zugriffsbereich der zuständigen Behörden voraussetzt.
Deutlich wird dies auch im Vergleich zu einer Überstellung auf Initiative der schutzsuchenden Person nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a Dublin-DVO, da es sich auch hierbei um eine staatlich überwachte Ausreise handelt, die hinsichtlich der Orts- und Terminabstimmung der behördlichen Organisation bedarf.
Bei der Definition des Begriffs »flüchtig« wird hingegen nicht auf die Überstellungsmodalitäten gemäß Art. 7 Dublin-DVO abgestellt oder nach diesen differenziert. Demzufolge ist kein Zusammenhang zwischen Überstellungsmodalitäten und hieraus resultierenden Mitwirkungspflichten auf der einen Seite und der Flüchtigkeit i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO auf der anderen Seite ersichtlich. Eine derartige Mitwirkungspflicht lässt sich auch nicht dem § 82 Abs. 4 Satz 1 AufenthG entnehmen, da die Norm keine Anordnungen erfasst, die – wie die Aufforderung zur Selbstgestellung – unmittelbar die Durchsetzung der Ausreisepflicht betreffen. Dies verdeutlicht auch § 82 Abs. 4 Satz 2 AufenthG, der die zwangsweise Durchsetzung einer Anordnung nach Satz 1 zulässt, wenn die betroffene Person ihr nicht nachkommt. Eine zwangsweise Durchsetzung der Aufforderung zur Selbstgestellung ist jedoch sinnlos.

Fazit

Mit seiner Entscheidung stärkt das Bundesverwaltungsgericht die Rechte Betroffener, die sich auf ihren freien Willen berufen und sich weigern, aktiv an ihrer eigenen Abschiebung mitzuwirken. Gleichzeitig klärt es den unionsrechtlichen Begriff des »Flüchtigseins« für die Verwaltungspraxis weiter in unterschiedlichen Fallkonstellationen. Und das Urteil erinnert daran, dass die nationalen Asylbehörden gehalten sind, das Beschleunigungsgebot weiterhin als eine der wichtigen Verfahrensmaxime im Asylverfahren zu achten. Es bleibt abzuwarten, welche Folgen das Urteil für zukünftiges Behördenhandeln haben wird.

Christine Lüth und Anya Lean sind Rechtsanwältinnen in Berlin und Mitglieder im RAV.

[1]  VG Berlin, U. v. 27.2.2019 – VG 31 K 646.17 A; v. 1.3.2019 – 31 K 1004.18 A; OVG Berlin-Brandenburg, U. v. 20.2.2019 – OVG 3 B 22.19; Urteil vom 24.8.2020 – OVG 3 B 35.19.
[2]  Bundesamt in Zahlen 2020, 40 (https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/BundesamtinZahlen/bundesamt-in-zahlen-2020.html?nn=284738).
[3]  EuGH, U. v. 19.3.2019 – C-163/17 (Jawo gg. Deutschland), Asylmagazin 5/2019, 196 ff. – asyl.net: M27096.
[4]  BVerwG, U. v. 26.1.2021 – 1 C 42.20, Asylmagazin 7-8/2021, 290 ff. – asyl.net: M29531.