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unterfallen Richtervorbehalt

Abschiebungen aus der Wohnung 
unterfallen Richtervorbehalt

DIE UNVERLETZLICHKEIT DER WOHNUNG

Justus Linz

Abschiebungen aus Deutschland finden meist im Morgengrauen statt. Die Menschen werden in ihren Wohnungen aufgesucht und aus dem Schlaf gerissen. Was das für häufig bereits traumatisierte Geflüchtete und insbesondere Kinder[1] bedeutet, wird rechtlich kaum beachtet und ist zu selten Gegenstand (rechts-)politischer Diskussionen. Auch wurde diese ständige ausländerbehördliche Praxis 
in der Vergangenheit nur vereinzelt an Art. 13 GG gemessen[2] – Entscheidungen 
der (Ober)Verwaltungsgerichte Berlin und Hamburg haben das geändert.

Art. 13 GG bestimmt, die Wohnung sei »unverletzlich«. Schutzgut ist dabei die räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet. Das Grundrecht gewährleistet das Recht, in diesen Räumen in Ruhe gelassen zu werden und verbietet es staatlichen Stellen grundsätzlich, gegen den Willen der Wohnungsinhaber*innen in die Wohnung einzudringen oder darin zu verweilen.[3] Art. 13 Abs. 2 GG regelt, dass Durchsuchungen, außer bei Gefahr im Verzug, nur durch Richter*innen angeordnet werden dürfen. In Hamburg und den meisten anderen Bundesländern gingen Ausländerbehörden gleichwohl davon aus, dass es keiner richterlichen Anordnung bedürfe, um Menschen in ihren Wohnräumen aufzusuchen und abzuschieben. Bei dem Eindringen in die Wohnung zum Zwecke der Abschiebung handele sich um bloßes Betreten (vgl. Art. 13 Abs. 7 GG), sodass der verfassungsrechtliche Richter*innenvorbehalt keine Anwendung finde. Die vereinzelte verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung bewegte sich in der Vergangenheit zwischen der Annahme, Zimmer in Geflüchteten-Unterkünften seien zum Zeitpunkt der Abschiebung schon keine Wohnungen im Sinne des Art.13 GG,4 ob eine Durchsuchung vorliege, hänge von der Beschaffenheit der Wohnung[5], sowie der Annahme, dass ein Betreten zum Zweck der Abschiebung grundsätzlich eine dem Richter*innenvorbehalt unterliegende Durchsuchung darstelle.[6]
Entsprechend ihrer ständigen Praxis suchte die Hamburger Ausländerbehörde eine êzîdîsche Familie aus dem Irak im Februar 2017 ohne richterlichen Beschluss früh morgens in ihrem Unterkunftszimmer auf, um sie in die Niederlande abzuschieben. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte den Asylantrag – weil die niederländischen Behörden für dessen Bearbeitung zuständig seien – auf Grundlage der Dublin III- VO als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung in die Niederlande angeordnet. Der städtische Unterkunftsbetreiber fördern und wohnen händigte der Ausländerbehörde wie üblich die Schlüssel zum Wohnraum der Familie aus. Die Eltern und ihre zwei Kinder wurden im Schlaf von einem halben Dutzend Personen überrascht und unter Androhung körperlicher Gewalt aufgefordert, der Abschiebungsanordnung nachzukommen. Die Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörde stellten die Identität der Familienmitglieder fest und durchsuchten ihre Kleidung. Da die Mutter hochschwanger war, wurde sie zurückgelassen. Der Vater und die beiden Kinder wurden von ihr getrennt und gegen ihren Willen in die Niederlande abgeschoben.
Um die Rechtswidrigkeit der Maßnahme im Hinblick auf die Verletzung des Art. 13 GG festzustellen, erhob die kirchliche Hilfsstelle für Flüchtlinge fluchtpunkt Feststellungsklage beim Verwaltungsgericht Hamburg. Bei historischer und teleologischer Auslegung des Art. 13 Abs. 2 GG stelle ein Aufsuchen von Personen, um diese unter Zwang aus der Wohnung an einen anderen Ort zu bringen, eine Durchsuchung dar. Dementsprechend müsse auch die maßgebliche Norm des § 23 Abs. 3 Hamburgisches Verwaltungsvollstreckungsgesetz (HmbVwVG)[7] ausgelegt werden: Das Aufsuchen der Kläger*innen zum Zweck der Abschiebung hätte richterlich angeordnet werden müssen. Die Stadt Hamburg berief sich darauf, dass es eines Durchsuchungsbeschlusses nicht bedurft hätte, da nicht im Wortsinn hätte gesucht werden müssen. Die abzuschiebenden Personen hätten sich nicht versteckt, sondern seien nach dem Eindringen in die Wohnung angetroffen worden. Ein Betreten der Wohnung, um Personen abzuschieben, würde erst dann zu einer Durchsuchung im Sinne von Art. 13 Abs. 2 GG, wenn zusätzlicher Suchaufwand erforderlich werde.
In überraschender Klarheit urteilte das VG Hamburg im Januar 2019, dass es für die Annahme einer Durchsuchung ausreiche, dass Vollstreckungspersonen eine Wohnung öffnen und betreten, um darin bestimmte Personen aufzufinden und zu ergreifen[8]. Es »kommt […] nicht auf die Größe und Übersichtlichkeit der zu durchsuchenden Räume sowie darauf an, ob sich die zu ergreifenden Personen – etwa unter einem Bett oder in einem Schrank – in der Wohnung verborgen halten. Bei einem gegenteiligen Verständnis wäre […] in der Praxis eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Durchsuchung und bloßem Betreten einer Wohnung auch kaum möglich«.
Die Stadt Hamburg legte gegen das Urteil Berufung ein und änderte nichts an der Praxis, Abschiebungen aus Wohnungen ohne richterliche Anordnung durchzuführen. In Berlin hatte es schon vorher eine ähnliche – obergerichtlich bestätigte – Entscheidung des Verwaltungsgerichts gegeben, wonach das Aufsuchen zum Zwecke der Abschiebung eine Durchsuchung darstellt.[9] Hierfür fehlte es in Berlin bereits an einer entsprechenden Ermächtigungsgrundlage.
Dass Abschiebungen von Menschen aus ihrer Wohnung einer richterlichen Anordnung bedürfen, widerstrebte Innenbehörden und -ministerien derart, dass eine neue bundesgesetzliche Regelung Abhilfe schaffen sollte. Noch nach der letzten Sachverständigenanhörung zum ›Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht‹[10] und zwei Tage vor der Abstimmung darüber wurde ein Änderungsantrag eingebracht, der entsprechend vom Bundestag verabschiedet wurde.[11] Seit Ende August 2019 gilt deshalb bundesweit, dass »die die Abschiebung durchführende Behörde die Wohnung des abzuschiebenden Ausländers zu dem Zweck seiner Ergreifung betreten [kann], wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass sich der Ausländer dort befindet«. (§ 58 Abs. 5 Satz 1 AufenthG)

Im August 2020 wurde vor dem OVG Hamburg die Berufung der Stadt verhandelt. Diese trug im Wesentlichen erneut vor, dass nur dann eine Durchsuchung vorliege, wenn in der Wohnung nach verborgenen Personen gesucht werden müsse. Eine Abgrenzung, wann genau die bloße Zurkenntnisnahme im Rahmen des Betretens zu einem Suchen (und damit in eine Durchsuchung) umschlage, blieb sie schuldig. In der mündlichen Verhandlung führte der Prozessvertreter der Innenbehörde aus: Für den Fall, dass Mitarbeiter*innen der Ausländerbehörde im Zuge der Maßnahme feststellten, dass entgegen ihrer Prognose ein über das vermeintliche Betreten hinausgehender Suchaufwand erforderlich werde, brächen diese die Maßnahme ab und holten einen entsprechenden richterlichen Beschluss ein. Zweifel daran, dass die Behörde tatsächlich entsprechend handelt, ergaben sich u.a. bereits aus Antworten auf Parlamentarische Anfragen, wonach in den Jahren 2018 und 2019 in Hamburg nicht ein einziger Durchsuchungsbeschluss zum Zwecke der Abschiebungen eingeholt worden war.[12] Dieser empirische Befund bestätigt die grundrechtstypische Gefährdungslage, die Hintergrund des verfassungsrechtlichen Richter*innenvorbehaltes und des damit verbundenen präventiven Grundrechtsschutzes durch Verfahren ist. Dessen Eingreifen von behördlichen Prognosen abhängig zu machen, ließe den verfassungsrechtlich intendierten Schutz leerlaufen.[13]
Das OVG wies die Berufung der Stadt Hamburg zurück und bestätigte die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts. Es ging der Stadt »- aus der ex ante Perspektive – […] nicht darum, die Wohnung der Kläger zu betreten und zu besichtigen – etwa um deren baulichen Zustand zu kontrollieren –, sondern gezielt darum, die Kläger aufzufinden. Sie hat dabei in einer für Durchsuchungen typischen Weise in das private Leben der Kläger und die räumliche Sphäre, in der es sich entfaltete, eingegriffen«.[14]
Maßstab für diese Entscheidung war noch die Rechtslage vor der Gesetzesänderung, d.h. die Regelungen des § 23 HmbVwVG und nicht des § 58 Abs. 5 AufenthG. Gleichwohl sind auch in Bezug auf die neue Rechtslage Schlüsse aus dem Urteil zu ziehen. § 58 Abs. 5 AufenthG dürfte insbesondere unter zwei Gesichtspunkten verfassungswidrig sein: Die Regelung ist wohl schon nicht dahingehend verfassungskonform auslegbar, dass ein Fall denkbar wäre, in dem eine Wohnung betreten wird, wenn dies zu dem vorab bestimmten Zweck erfolgt, eine Person zu ergreifen und abzuschieben. Insbesondere ist die Frage, ob eine Durchsuchung oder ein bloßes Betreten vorliegt, eine verfassungsrechtliche Frage, die einer Regelung durch den einfachen Gesetzgeber nicht offensteht. Selbst wenn man jedoch davon ausginge, dass Fälle denkbar wären, in denen eine Wohnung zum Zwecke der Abschiebung bloß betreten wird, wäre die Regelung auch im Einzelfall an Art. 13 Abs. 7 GG zu messen, d.h. das Betreten müsste aufgrund des § 58 Abs. 5 AufenthG »zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung« erfolgen. Dass ein Verbleiben – regelmäßig geduldeter – Personen in ihrer Wohnung eine solche dringende Gefahr, d.h. die Gefahr eines erheblichen Schadensausmaßes,[15] darstellt, ist nicht ersichtlich.
Nunmehr wird es darum gehen, die Verfassungsmäßigkeit der neuen gesetzlichen Regelungen anzugreifen und zu prüfen, welche Auswirkungen die Entscheidungen auch auf andere Rechtsgebiete haben könnte. Klar gestellt haben die oberverwaltungsgerichtlichen Entscheidungen, dass der Schutz des Art. 13 GG auch für Geflüchtete und – aus staatlicher Sicht – abzuschiebende Personen gilt. Hoffentlich dienen sie als Anregung, das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung auch in Lagerunterbringungen durchzusetzen[16] und generell weiter Widerstand gegen das mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG schwerlich vereinbare Sonderrecht für sog. Ausländer*innen zu entwickeln.

Justus Linz ist Rechtsanwalt in Hamburg und RAV-Mitglied. Die Unterüberschrift wurde von der Redaktion hinzugefügt.

[1] Im ersten Halbjahr 2020 waren mehr als die Hälfte der Asylantragsteller*innen minderjährig (53,1%), Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen – Ausgabe Juni 2020, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/AsylinZahlen/aktuelle-zahlen-j anuar-2020.pdf?__blob=publicationFile&v=3); der Anteil von Kindern unter den Abgeschobenen dürfte nur unwesentlich niedriger sein.
[2] Grund hierfür ist, dass die meisten Menschen im Anschluss „erfolgreich“ aus der BRD abgeschoben worden sind und selbst im Falle der Rückkehr angesichts einer regelmäßig erneut drohenden Abschiebung akutere Probleme haben, als nachträglichen Rechtsschutz zu suchen. Regelmäßig verfügen die Betroffenen auch nicht über die notwendigen, insbesondere finanziellen, Ressourcen.
[3] BVerfGE 89, 1 (11 ff.).
[4] VG Neustadt, Beschluss vom 28.6.2002 – 7 N 1804/02 NW, InfAuslR 2002, 410.
[5] VG Oldenburg, Urteil vom 6.6.2012 – 11 A 3099/12, openjur.de.
[6] VG Bremen, Urteil vom 13.1.2012 – 2 K 2625/08, asyl.net.
[7] § 23 Abs. 3 HmbVwVG bestimmt, dass die Wohn- und Geschäftsräume der pflichtigen Person ohne deren Einwilligung nur auf Grund einer richterlichen Anordnung durchsucht werden dürfen, die bei der Vollstreckung vorzuzeigen ist. Dies gilt nicht, wenn die Einholung der Anordnung den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde.
[8] VG Hamburg, Urteil vom 15.2.2019 – 9 K 1669/18.
[9] VG Berlin, Beschluss vom 16.2.2018 – 19 M 62.18, bestätigt durch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19.2.2018 – OVG 6 L 14.18.
[10] Gesetz v. 15.8.2019, BGBl. I, 2019, 1294 – auch „Hau-ab-Gesetz“ genannt.
[11] Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat, BTt-Drs.19/10706 vom 5.6.2019,
2. und 3. Lesung und Abstimmung am 7.6.2019.
[12] Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Drucksache 21/17506; Drucksache 21/20265.
[13] Sehr instruktiv: Franke/Kerkemeyer, Zum verfassungsrechtlichen Durchsuchungsbegriff und der
»Betretungserlaubnis« in § 58 V AufenthG, NVwZ 2020, 760.
[14] OVG Hamburg, Urteil vom 18.8.2020 – 4 Bf 160/19.
[15] Das Merkmal der dringenden Gefahr ist qualitativ zu verstehen; vgl. auch die enumerative Aufzählung des Art. 13 Abs. 7 GG für Einschränkungen aufgrund eines Gesetzes: »zur Behebung der Raumnot, zur Bekämpfung von Seuchengefahr oder zum Schutze gefährdeter Jugendlicher«.
[16] Siehe bspw. zu den Betretens-Befugnissen nach dem Bayerischen Polizeiaufgabengesetz: Yunus Ziyal, Asylbewerberunterkünfte als gefährliche Orte im bayerischen Polizeirecht?, https://archiv.fluechtlingsrat-bayern.de/tl_files/Materialien/Asylbewerberunterkuenfte%20als%20gefaehrliche%20Orte%20im% 20bayerischen%20Polizeirecht_Final.pdf.