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Neokolonialismus

Mobiler 
Neokolonialismus

FLEIßARBEIT MIT 
AMBIVALENTER BILANZ

Volker Eick

Die DR Kongo hat rund 2.345.000 km² Fläche, Deutschland zum Vergleich circa 358 km², auf der 83,4 Millionen Einwohner*innen leben, im Kongo sind 89,5 Millionen. Schon zu Kolonialzeiten hatte – in dem damals von Belgien bzw. dem König Leopold II. regierten und von diesem als ›Privateigentum‹ betrachteten Land – der ›strafende Staat‹ ein flächendeckendes Kontrollinteresse, dafür aber nicht die Ressource: die Geburtsstunde der mobilen Gerichte.
Belgien stellt sich bis heute nicht seiner kolonialen Geschichte, doch die kolonialen Verheerungen und die nachfolgenden Regime und kriegerischen Auseinandersetzungen führten, wie das UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) 2014 lapidar schrieb, dass »mobile courts were introduced to the Congolese legal system in 1979 and have been implemented with the assistance of the international community since 2004«.(1) Hier setzt der Band an.

GUTE GRÜNDE

Drei Gründe hätten, so der Autor, für die Reetablierung mobiler Gerichte gesprochen: die schon erwähnte Größe des Landes, das marode bzw. nichtexistente Schienen- und Wegesystem sowie die Notwendigkeit, »die strafrechtliche Aufarbeitung zweier Kriege in den Griff zu bekommen« (S. 14). Für die Befürworter*innen der mobilen Gerichte sei dabei unisono davon ausgegangen worden, dass mobile Strafjustiz erstens die räumliche Nähe zum Tatort und das verzögerungsfreie Verfahren ermöglichen. Zweitens mobilisiere das lokale Verfahren die ›Gemeinschaft‹ und mache »Rechtsprechung als dynamischen, dialektischen Vorgang« erlebbar (S.12). Angenommen werde, mobile Gerichte hülfen bei der Bewältigung schweren Unrechts, da Verbrechen dokumentiert, Täter ihrer »gerechten Strafe« (ebd.) und die Opfer rehabilitiert würden. Hönigs zentrale Frage: »Geht die Rechnung aber auf?«.
In sechs Kapiteln geht Hönig dieser Frage nach. Kapitel 1 widmet sich dem kolonialen Erbe, unterlässt es aber vollständig, sich mit der Geschichte und Gegenwart der sog. traditional authorities auseinanderzusetzen; sie treten erst im sechsten Kapitel, und dort einigermaßen ephemer, auf den Plan. Kapitel 2 benennt strukturelle Defizite der mobilen Gerichte, die in drei Fallstudien (Kap. 3, 4, 5) anhand von Gerichtsverfahren exemplifiziert werden.

ABGRÜNDE

Zu diesen strukturellen Defiziten – überhaupt ist das Buch in einer unaufgeregten, auch angesichts der vor Ort vorgefundenen Faktizität des Faktischen, fast schon stoischen Duldsamkeit verfasst – gehöre etwa, dass Gerichtsurteile ›gewürfelt‹ würden (tatsächlich schreiben die drei Richtenden das Strafmaß je einzeln für sich auf Zettel und teilen dann das Gesamtergebnis durch 3, S. 91). Die justice populaire, bis hin zur Lynchjustiz, erfreue sich großer Beliebtheit, das, immerhin, Zusatzgehalt, das Richter*innen für ihre mobilen Einsätze gezahlt wird, reiche nicht für deren erstrebten Mittelstandslebensstil, man müsse festhalten, »dass es im kongolesischen Gerichtswesen Problem auf allen Ebenen gibt« (S. 93). Bezieht man in diese Beschreibung den Zustand des Polizeiapparats mit ein – und Hönig kennt auch diese Literatur(2) –, ist man nach gut 270 Seiten ziemlich überrascht vom Urteil des Autors. Aber dazu unten.
In dem von der Reemtsma-Stiftung kofinanzierten Rechercheprojekt hatte der Autor Gelegenheit, zahlreiche Prozesse mobiler Gerichte zu beobachten, mit Richter*innen, Staatsanwälten, mutmaßlichen Täter*innen und mutmaßlichen Opfern sowie dann Verurteilten und Zeug*innen zu sprechen. Die Ergebnisse dieser nicht-repräsentativen Erlebnisse lassen sich nur mit dem Begriff ›verheerend‹ angemessen beschreiben.
Überzeugend kann Hönig zeigen, dass weder die Rechte der Angeklagten, noch die der Beschuldigten oder gar ein Recht auf Wahrheit von den mobilen Gerichten gewürdigt werden (ob das in den stationären Gerichten anders wäre, ist eine andere Frage; auch, ob es – und wenn, wem – um ›Wahrheit‹ gehen will). Insbesondere Mitteilungen des Autors zu Gesprächen mit Opfern sexueller Erniedrigung und Gewalt zeigen ein umfangreiches Versagen dieser Rechtsinstitution, die es auch auf anderen Kontinenten gibt, und die unrühmliche Rolle der UN, die ihr Scheitern bei der Justizreform in der DR Kongo über die mobilen Gerichte als best practice und Erfolg verkauft.

REFORMBEDARF

Die detaillierte Studie – in manchen Teilen etwas idealistisch, was die Funktion von Recht, reflexiv aber, was die Funktion postkolonialen Rechts angeht – ist nicht nur sehr gut informiert, sondern ließ erwarten, der Autor werde sich nach der umfassend dokumentierten UN-Niederlage von mobilen Gerichten trennen wollen.
Hönig hat sich für einen anderen Weg entschieden, den er aber letztlich nicht besonders überzeugend begründet. Er meldet letztlich höflich ›Reformbedarf‹ an. Das ist enttäuschend. Und daher aufklärend: Denn es zeigt, was alles noch getan werden muss, aber auch kann, um Rechtsstaatlichkeit im »Osten der Demokratischen Republik Kongo«, so ja der Untertitel und Forschungsgegenstand, herzustellen. Dass der Autor die traditional authorities(3) dabei kaum in den Blick genommen hat, das muss man daher etwas bedauern.

Patrick Hönig, Ein Ende der Straflosigkeit? Mobile Gerichte im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Hamburg 2021

Volker Eick ist Politikwissenschaftler und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.

(1)   Allerdings nicht auf S. 23, wie der Autor schreibt, sondern auf S. 9 des genannten Dokuments, vgl. https://erc.undp.org/evaluation/documents/download/8260
(2)   Vgl. Beek et al. (eds.), Police in Africa. The Street Level View. London 2017.
(3)   Vgl. C. Logan, The Roots of Resilience: exploring popular support for African traditional autorities. In: African Affairs 112(448), July 2013, pp. 353-376.