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behalten…«

»Im System 
behalten…«

KOMPLEXITÄT JURIDISCHER AUSGRENZUNG

Volker Eick

Der US-amerikanische Soziologe und Sozialhistoriker Immanuel Wallerstein hat mit Blick auf den Nationalsozialismus vorgeschlagen, dass, wenn man die Aufgabe von Rassismus charakterisieren wolle, es darum geht, den von ihm Betroffenen ökonomisch ihre Lage klarzumachen – ›Vernutzung‹ in der Terminologie von Marx –, also ausgebeutet zu sein und zu bleiben sowie politisch als ›Sündenböcke‹ fungieren zu sollen, sie aber zugleich »im System zu behalten«. Wallerstein bezog sich hier auf die nationalsozialistische ›Endlösung‹ und deren Wahrnehmung in der ›pan-europäischen Welt‹.(1)
Mit diesem Hinweis sind wir schon mitten im dritten ihrer in sechs Kapitel gegliederten Arbeit, also dort, wo es ihr um das »Wissen über Rasse« geht (S. 52ff.). Liebscher schlägt in diesem, aus ihrer Dissertation an der Humboldt Universität zu Berlin hervorgegangenen Band vor, den Begriff ›Rassismus‹ grundsätzlich durch ›rassistisch‹ zu ersetzen. Das gelte auch mit Blick auf das Recht. Anhand zweier Gerichtsentscheidungen, die sich auf den Brockhaus in seiner 2006er-Fassung bezogen hatten, legt sie dar, wie das Konzept ›Rasse‹ vor Gericht verstanden wurde, bedenkt man wie jung der neue Brockhaus ist: wohl weitgehend noch wird. Im »Zentrum der juristischen Prüfung standen rassisch definierte Zugehörigkeiten, wo rassistische Zuordnungen und Zuschreibungen hätten stehen müssen« (S. 102). Diese Praxis ist lediglich 15 Jahre alt.
Wie Liebscher darlegt (S. 150ff.), basieren diese Rassekonstruktionen auf Kolonialrecht des Deutschen Reichs, im Fall von Nachkriegsdeutschland (aber: vgl. Wallerstein, oben in dieser Fn 1) auf den nationalsozialistischen Nürnberger Gesetzen. Eine Genealogie der »ambivalenten rechtlichen Kategorie«, so der Untertitel, muss sich zwingend mit Fragen an den kolonialen Rassismus und auch den Antisemitismus auseinandersetzen (S. 70).

RASSISTISCHES RECHT

Im vierten Kapitel (»Rassistisches Recht«) geschieht das umfassend auch mit Rekurs auf die vor- und nachkoloniale Geschichte und Gegenwart der USA: Sie kommt davon ausgehend zu dem vorläufigen Schluss, dass der mit kategorisierenden und diskriminierenden Praktiken einhergehende Blutsaberglaube (schreibt sie mit Verweis auf Essner) auf das Recht bauen konnte. Denn »[r]echtliche Regulierungen hatten entscheidenden Anteil an der Rationalisierung, Legitimierung und Operationalisierung dieses Aberglaubens« (S. 203). Während aber das koloniale Recht auf Kategorisierung, Erfassung und Kontrolle der »Rassialisierten« zielte und auch in den USA nach der Sklavenhalter-Gesellschaft eine vergemeinschaftende Rassekonzeption von vermeintlich europäisch-westlichen bzw. anglo-amerikanischen Kollektiven ausging, zielte das nationalsozialistische Recht nicht nur auf Ausbeutung, »sondern mit Blick auf Juden und Sinti und Roma auf Vernichtung« (S. 205). Je nach historischen und nationalen Kontexten unterscheiden sich Rassekonzeptionen in Ausprägung und Zielen.

RECHT GEGEN RASSISMUS

Kapitel 5 (»Recht gegen Rassismus«) zeigt zunächst grundlegend, dass ›Gleichheit‹ im Recht formal oder materiell verstanden werden kann. Einer solchen Dualität entspricht, so Liebscher, »die symmetrische bzw. asymmetrische Konzeption von Antidiskriminierungsrecht« (S. 214). Für das Recht sind Unterschiede zwischen Menschen, so zitiert Liebscher zustimmend Baer, nur dann relevant, wenn sie Ausdruck gesellschaftlich relevanter Hierarchisierungen sind, die sich in Benachteiligungen äußern. Diese Hierarchisierungen basieren auf historisch gewachsener Ungleichheit. Es müsse daher das Ziel von Gleichheitsrecht sein, »asymmetrische Dominanz zu bekämpfen, statt symmetrische Differenz zu fixieren« (S. 220). Dass dies in Ansätzen gelingt bzw. gelingen kann, zeigt die Autorin anhand verschiedener Urteile, Entscheidungen und juridischen Auseinandersetzungen, benennt aber auch Schwachstellen und bleibende Herausforderungen.
Ein Unterkapitel etwa widmet sich dem Racial Profiling als rechtliches Phänomen und Problem (S. 429ff). Bedeutsam seien hier die Urteile der OVG Koblenz und Münster von 2016 bzw. 2018 gewesen. Die beiden Urteile diskutierend, zeigt Liebscher, wie mit Blick auf verdachtsunabhängige Kontrollen, doch wieder ein »allgemeiner Kausalzusammenhang zwischen phänotypischen Eigenschaften eines Menschen und einer erhöhten Delinquenz« angenommen und in Recht gegossen wird (S. 444f). Im polizeilichen Alltag und in den Kommentierungen zu den OVG-Urteilen wird zudem deutlich, wie und das mit ›Clankriminalität‹ eine vergleichbar rassisierende Ungleichheit fröhliche Urständ feiert.
Auch daher bzw. dagegen ist diesem Band eine breite Rezeption – und uns allen eine entsprechende Praxis zu wünschen.

Doris Liebscher, Rasse im Recht – Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie. Frankfurt/M. 2021.

Volker Eick ist Politikwissenschaftler und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.

(1)   Im Original: »Although almost everyone in the pan-European world had been openly and happily racist and anti-Semitic before 1945, almost no one had intended this anti-Semitism to result in an Endlösung. Hitler’s Final Solution missed the entire point of racism within the capitalist world-economy. The object of racism is not to exclude people, much less to exterminate them. The object of racism is to keep people within the system, but as inferiors (Untermenschen) who can be exploited economically and used as political scapegoats. […] One was supposed to be racist just up to the point of an Endlösung, but no further« (Hervorh. im Orig).