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Herausforderung?

Digitaler Angriff oder digitale 
Herausforderung?

Neuordnung 
eines staatlichen 
Rechts-›Markts‹

Volker Eick

Mitte Oktober 2021 hatte die EDA/AED zu einer Tagung unter dem Titel ›Justice, technology and the right to adversarial proceedings‹ (Justiz, Technologie und das Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren) nach Paris eingeladen, die, wie es neudeutsch heißt, hybrid stattfand, also mit Kolleg*innen vor Ort und via Zoom: Im Ergebnis nahmen knapp 150 Kolleg*innen teil und diskutierten Fragen des digitalen Alltags – nicht alles davon hatte den Nimbus von Legal Tech, was sich sehr bewährt hat.

TAGUNG IN RIGA

In vergleichbarer Weise, aber breiter angelegt und face to face – es handelte sich um pre-SARS-CoV-2-Zeiten, hatte die Societas Iuris Publici Europai (SIPE) im Juni 2019 nach Riga eingeladen. Die strukturelle Veränderung der gesellschaftlichen Kommunikation durch neue Technologien, so die Ausgangsthese, kann »auch die normative staatsrechtliche Betrachtung nicht ignorieren, sie muss in das Gebäude des Staatsrechts und der allgemeinen Staatslehre integriert werden« (S. 5). Die Tagung wurde dreisprachig – deutsch, englisch, französisch – dokumentiert. Ein Schwerpunkt war dabei die europäische Gesetzgebung und deren Praxis.
Schon heute werden Entscheidungen zum Umweltrecht nicht etwa von hoheitlich beauftragten Richtenden, sondern von Algorithmen getroffen, wie etwa bei der European Chemicals Agency (ECHA), weil keine Einzelperson oder Abteilung noch Risikovorsorgeanalysen mehr vornimmt (S. S 178).
Zur Überwachung der Meere, um nur ein Beispiel zu nennen – von Mobilitätsüberwachung bis Rohstoffressourcen, von Schadstoff- bis Migrations›belastung‹ – entwickelt die EU-Kommission das für alle in der EU ansässigen Behörden zugängliche Programm »European Marine Observation and Data Network« (EMODnet). Datenschutzrechtliche Herausforderungen, die Abgrenzung von staatlichen und privatwirtschaftlichen sowie privaten (auch zivilgesellschaftlichen) Daten sind weitgehend ungeklärt, während Datenbank auf Datenbank aufgebaut und vernetzt wird.

ALGORITHMS ON THE MOVE

Die an der Universität Tübingen tätige Sabine Schäufler etwa diskutiert vor dem Hintergrund der Etablierung solcher und anderer digitaler Systeme der Künstlichen Intelligenz die grundlegend die Frage nach der menschlichen Autonomie (S. 45ff), während ihre Kollegin Annette Guckelsberger, Professorin an der Universität des Saarlands, die Auswirkungen voll- und teilautomatisierter Verwaltungsentscheidungen auf die verfahrensrechtliche Stellung der Beteiligten diskutiert (S. 199ff).
Man darf annehmen, dass die Entscheidung, den Beitrag von Irēna Kucina an den Beginn des Sammelbandes zu stellen (S. 27ff), nicht zufällig getroffen wurde. Sie fragt sehr konkret danach, was und in welcher Form der Einsatz von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz der predictive justice Zugang in den Gerichtssaal erlauben wird.
Der Vortrag auf der EDA-Tagung zu Video-Gerichtsverhandlungen sprach, so meine Notizen, mindestens 40 Aspekte an, über die aus anwaltlicher Sicht sich nachzudenken und zu handeln lohnte. Ob man Videogerichtsverhandlungen unter Legal Tech verorten möchte oder nicht, ist dabei nachrangig, hier werden Hierarchien neu sortiert. Dabei werden auch gewohnte Erfahrungen von Raum (space) und Zeit (time) neu organisiert. Es ist allerdings Quatsch, wenn, wie bei der EDA-Tagung durch einige Referierende geschehen, einer ›de-spatialization of justice‹ das Wort geredet wird. Der Raum schwindet nicht – er nimmt eine neue Form an.
Das Bedienen von soziologischen Schlagwörtern mag manchen gefallen, hört sich in manchen Kreisen gut an und ist den geographisch inspirierten Sozialwissenschaften entlehnt. Kann man machen.
Es kommt aber darauf an, zu verstehen, was in diesen neuen Gerichtssälen passieren wird – und wie wir darauf adäquat reagieren.

J. Iliopoulos-Strangas, E. Levits, M. Potacs, J. Ziller, Die Herausforderungen der digitalen Kommunikation für den Staat und seine demokratische Staatsform (The Challenges of Digital Communication for the State and its Democratic State Form, Les défis de la communication numérique pour l’État et sa forme démo). Baden-Baden, Bern, Athen-Thessaloniki 2021.

Volker Eick ist Politikwissenschaftler und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV