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echtes Leben eingehaucht«

»Der 1. Senat hat dieser Karteileiche 
echtes Leben eingehaucht«

Interview zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Remo Klinger

RAV: Herr Klinger, Sie haben mit anderen den wegweisenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24.März 2021 (1 BvR 2656/18 u.a.) zum Klimaschutzgesetz erstritten. Waren Sie selbst überrascht von dem Erfolg?

Klinger: Das kann man wohl sagen. Alles andere wäre unehrlich. Bis zu dieser Entscheidung waren fast alle Expert*innen der Auffassung, dass man nicht einmal die Hürde der Beschwerdebefugnis überwinden kann, schlicht deshalb, weil jedenfalls deutsche Beschwerdeführende keine gegenwärtige Betroffenheit darlegen können. Dass Karlsruhe da handstreichartig drüber hinweggegangen ist und die Beschwerden zudem als begründet angesehen hat, war schon bemerkenswert.

RAV: Artikel 20a des Grundgesetzes galt im Studium immer als sogenannte ›Staatszielbestimmung‹, auf die sich niemand direkt berufen könne. Wie hat sich das Bundesverfassungsgericht dazu nun positioniert?

Klinger: Art. 20a bleibt eine Staatszielbestimmung. Den 20a aber als bloße Verfassungslyrik abzutun, wie selbst ich es noch bis kurz vor der Entscheidung getan habe, greift aber jetzt zu kurz. Der 1. Senat hat dieser Karteileiche echtes Leben eingehaucht. Zum einen ist die Einhaltung des Pariser Klimaschutzziels, nach dem die Erderwärmung auf möglichst 1,5° C, jedenfalls aber weit unter 2° C begrenzt werden muss, Inhalt des Art. 20a, so das Bundesverfassungsgericht. Das Klimaschutzziel von Paris hat dadurch Verfassungsrang. In Verbindung mit den Freiheitsrechten des Grundgesetzes wird der 20a in einem nächsten Schritt in Scharnierfunktion zu den Grundrechten in Stellung gebracht. Der Gesetzgeber muss dafür sorgen, dass die zur Einhaltung der nun verfassungsrechtlich abgesicherten Klimaschutzziele nötig werdenden Freiheitsbeschränkungen nicht zu groß werden, er darf seine Klimaschutzbemühungen nicht zu sehr aufschieben, muss sie gleichmäßig über die Generationen verteilen. Auf diese Weise wird der Art. 20a grundrechtsrelevant.

RAV: Das Bundesverfassungsgericht hat 
das Klimaschutzgesetz insoweit für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt, als es keine Minderungsziele für die Zeit ab 2031 enthielt. Der Gesetzgeber hat nun nachgebessert. Sind damit die grundgesetzlichen Vorgaben erfüllt?

Klinger: Auf den ersten Blick sagt der Tenor tatsächlich nur, dass der Gesetzgeber Zielvorgaben für nach 2030 machen muss. Das hat er getan. Wer aber genauer hinschaut, wird feststellen, dass das Gericht gefordert hat, dass die Festlegung »nach Maßgabe der Gründe« erfolgt. Mit den jetzt novellierten Zielen, bei denen man vor dem Jahr 2030 nur moderate Zielverschärfungen vorgenommen hat, wird das Deutschland zustehende Budget für die Einhaltung des 1,75°-Ziels aber schon wenige Jahre nach 2030 erschöpft sein. Oder anders gesagt: Der Gesetzgeber gibt immer noch mehr Emissionen aus, als uns zustehen. Mit den Gründen des Beschlusses, der sowohl die Einhaltung des Pariser Abkommens als auch eine Generationengerechtigkeit verlangt, ist das unvereinbar. Es ist weiterhin zu befürchten, dass ab Anfang der 2030er-Jahre drastische Einschnitte drohen.

RAV: Der jüngste Bericht der AG I des Weltklimarates und der geleakte Bericht der AG III sind alarmierend, das 1,5°-Ziel 
scheint nicht mehr einzuhalten. Der von der Bundesregierung beschlossene Kohleausstieg etwa würde demgegenüber etwa 18 Jahre zu spät erfolgen. Ist der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts damit schon wieder überholt?

Klinger: Karlsruhe hat sich nicht auf das 1,5°-Ziel als verfassungsrechtlichen Maßstab festgelegt, leider. Es hat ›Paris‹ zum Maßstab gemacht. Und das heißt, die Erderwärmung auf möglichst 1,5° C, jedenfalls aber weit unter 2°C zu begrenzen und den für Deutschland dafür nötigen Anteil zu erbringen. Jedenfalls »aktuell« sei diese politische Festlegung nicht zu beanstanden, so das BVerfG. Die von Ihnen angesprochenen jüngsten Berichte des IPCC geben Anlass, daran zu zweifeln, ob diese Festlegung noch dem aktuellen Stand der Wissenschaft entspricht. Unabhängig davon kommt ein Kohleausstieg im Jahr 2038 nach jeder Zielbetrachtung zu spät. Selbst das 2°-Ziel wird man damit nicht einhalten können, es sei denn, alle anderen emissionsrelevanten Bereiche erreichen bis dahin Treibhausgasneutralität. Davon sind wir jedoch weit entfernt.

RAV: Dem Bericht zufolge sind die reichsten 
zehn Prozent der Weltbevölkerung für 40% der Emissionen verantwortlich, die ärmsten zehn nur für vier Prozent. Inwieweit kann diese ungleiche Verteilung juristisch thematisiert werden? Die Reichen kann man ja schlecht verklagen.

Klinger: Das ist zwar richtig, aber zwei Drittel der zehn Prozent leben in Industrieländern, die Ärmsten leben im globalen Süden. Klimagerechtigkeit funktioniert nur, wenn die Staaten des globalen Südens ihre Stimme erheben, auch mit den Mitteln des Völkerrechts. Die Beschwerdeführenden einer unserer beiden Verfassungsbeschwerden kamen aus Bangladesch und Nepal. Wir wollten ihren Blickwinkel unbedingt einbeziehen. Diesen Menschen steht das Wasser schon jetzt bis zum Hals. Ihr Beitrag in unseren Verfahren war sehr wertvoll.

RAV: Sie vertreten unter anderem die Deutsche Umwelthilfe auch in Klagen gegen die Bundesländer vor den Oberverwaltungsgerichten in Nordrhein-Westfalen, Bayern und gegen den Bund in Berlin – was ist Inhalt der Klagen und wann ist mit Entscheidungen hierzu zu rechnen?

Klinger: Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht betraf die Rechtssetzungsebene. Viel wichtiger ist aber die Kontrolle der Einhaltung des gesetzten Rechts. Denn was nützen uns die besten Ziele, wenn sie nur auf dem Papier stehen? Wir beklagen im Umweltrecht schon seit Jahren Vollzugsdefizite. Mit den Klagen wollen wir erreichen, dass Klimaschutzprogramme aufgestellt werden, die alle Maßnahmen enthalten, die nötig sind, um die Klimaschutzziele einzuhalten. Daran fehlt es. Auf der Ebene der Länder gibt es teilweise gar keine Programme, obwohl die Gesetze sie verlangen. Auf der Ebene des Bundes bestätigen mehrere Gutachten, dass das Klimaschutzprogramm sehenden Auges auf eine drastische Zielverfehlung zusteuert. Bund und Länder setzen sich jetzt zwar strengere Ziele, kein verantwortlicher Politiker legt aber offen, was nötig ist, um die Ziele einzuhalten, geschweige denn, dass er die dafür nötigen Maßnahmen in verbindliche Programme aufnimmt. Diese Verfahren werden die wichtigen Auseinandersetzungen der nächsten Jahre. Das OVG Berlin-Brandenburg will das erste richtungweisende Verfahren im Winter entscheiden.

RAV: Was sind aus Ihrer Sicht klimarechtliche Mindesterfordernisse, die von der neuen Bundesregierung in jedem Fall umgesetzt werden müssen, um 
Art. 20a GG gerecht zu werden?

Klinger: Zum einen müssen die Klimaschutzziele verschärft werden, um dem Pariser Abkommen und damit dem Art. 20a zu genügen. Zum anderen muss man sagen, was nötig ist, um die Ziele einzuhalten. Nehmen wir den Verkehrssektor: Es ist so sicher wie das sonntägliche Amen, dass der Verkehrssektor sein Emissionsbudget für 2021 um mehr als 10 Millionen Tonnen überschreiten wird. Wir wissen sogar schon, wann der Verkündungstermin für dieses Desaster ist, es ist der 15. März 2022, so steht es in § 5 KSG. Bis zum Sommer 2022 muss ein Sofortprogramm stehen, mit dem die 10 Millionen Tonnen wieder reingeholt werden und das Ziel für die nächsten Jahre sichergestellt wird, bei sinkenden Budgets. Die neue Bundesregierung muss ehrlich sein und den Menschen sagen, was nötig ist. Ein Tempolimit mit einem Einsparpotential von ca. 2 Millionen Tonnen kann nur der Anfang sein.

RAV: Und falls nicht – sollte die Anwält*innenschaft vermehrt in dem Bereich tätig werden? Wie können sich unsere Mitglieder mehr im Klimaschutzrecht einbringen?

Klinger: Nehmen Sie Kontakt zu Lawyers for Future auf! Engagierte Kolleg*innen sind da immer gern gesehen.

Remo Klinger ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Er ist Honorarprofessor der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, Mitherausgeber und Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Umweltrecht sowie Mitglied des Gesetzgebungsausschusses für Umweltrecht des Deutschen Anwaltvereins e.V. Das Interview führte Dr. Lukas Theune, Rechtanwalt in Berlin und RAV-Geschäftsführer