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›Das war’s dann…?‹

MULTIPLE KRISEN ZUM MITTUN

Volker Eick

Warum soll man ein sechs Jahre altes Buch besprechen, das erst 2020 aus dem Französischen ins Englische übertragen worden ist?(1) Die Autoren geben auf Seite 168 – da ist das Buch schon fast am Ende – einen Hinweis: »In welcher Phase des Kollaps auch immer, wir müssen weiterleben, eingekapselt in diese ›abgelaufene Welt‹, mit allen Widersprüchen und Beharrungen, die das mit sich bringt. Das Wichtigste ist, wir dürfen uns die innerste Überzeugung vom Zusammenbruch unserer Gegenwart nicht zu unangenehm machen – weder für uns, noch für unsere Befreundeten und Verwandten –, denn wir werden Einiges an emotionalem Trost brauchen, um diese unruhigen und unsicheren Zeiten überstehen zu können«.(2)
Der Band, der sich in drei Kapitel gliedert, ist also vor SARS-Cov-2 als Pandemie, vor dem Pariser Klimagipfel (COP 21), im Verlauf der Finanzkrise 2008ff., vor den Dauerfeuern in Kalifornien, Australien, Sibirien und selbstredend vor dem letzten G20-Treffen in Rom und vor Glasgow (COP 26) geschrieben. Er beginnt – sinnigerweise das Automobil zum pars pro toto machend – mit Erläuterungen zum exponentiellen Wachstum (exponential growth). Die Weltbevölkerung verdoppelte sich in den letzten acht Jahrtausenden etwa alle tausend Jahre, wie in der Zeit zwischen 1830 bis 1930 (von einer Milliarde auf zwei Milliarden): »Then things really speeded up: In only fourty years, the population doubled again« (S. 20). Von vier Milliarden 1970 auf heute (damals, also im Jahr 2014) sieben Milliarden, acht Milliarden werden wir laut UN im Jahr 2023 sein. Im 20. Jahrhundert hat sich der Energiekonsum verzehnfacht, der Abbau von Industriemineralien (Gips, Quarz etc.) wuchs um den Faktor 27, der von Baustoffen (Sand, Kalk etc.) um den Faktor 34. Und so fort…

GRENZEN UND LIMITS

Die limits unserer Zivilisation liegen in den Gesetzen der Thermodynamik. So sind etwa ›Bestandsressourcen‹ (stock resources) wie fossile Kraftstoffe und Erze nicht erneuerbar, also endlich, andere Ressourcen, wie Holz, Nahrung (flow resources) sind zwar erneuerbar, werden aber in so hohem und exponentiell wachsendem Tempo verbraucht, dass sie sich nicht erholen bzw. regenerieren können. Für das Automobil bedeutet das, egal wie ›gut‹ die Autos werden, irgendwann ist Schluss mit dem Verbrauchsmaterial zu ihrer Herstellung – und auch der Tank bleibt leer.
Die Grenzen (boundaries) unserer Zivilisation stellen Schwellenwerte dar, die nicht überschritten werden dürfen, da sonst die Systeme, die uns am Leben erhalten, destabilisiert und zerstört werden: zum Beispiel die wachsende Menge der Treibhausgase im Klimasystem, der Aufbau der Konzentration von Stickstoff und Nitrat in Böden, in der Luft und im Wassersystem, die zunehmende Vernichtung der Artenvielfalt im Ökosystem. Für das Automobil bedeutet das, wir beschleunigen das Auto derart, dass wir ob der Geschwindigkeit unter anderem die Straße nicht mehr richtig wahrnehmen, was Unfälle verursachen kann.
Für die Autoren, ein Agrarökonom und ein Ökologe, der sich auf komplexe System spezialisiert hat, bedeutet das zunächst, »diese [System]Krisen sind von sehr unterschiedlicher Natur, aber sie haben alle einen gemeinsamen Nenner: die Beschleunigung des Autos. Außerdem ist jede dieser Grenzen für sich genommen in der Lage, die Zivilisation ernsthaft zu destabilisieren. Das Problem in unserem Fall ist, dass wir an mehrere Grenzen gleichzeitig stoßen, und wir bereits mehrere dieser Grenzen überschritten haben!« (S. 23).(3)

MEHR ALS HOMO 
OECONOMICUS

Beide Autoren gehören zu einer weltweit aktiven Gruppe von sog. Kollapsolog*innen. Die Kollapsologie definieren sie als transdisziplinäres Studium des Zusammenbruchs unserer industriellen Zivilisation. Sie ist jedoch nicht als Wissenschaft vom Kollaps zu verstehen, sondern stützt sich auf anerkannte wissenschaftliche Arbeiten und Vernunft, aber auch auf Intuition. Im Letzteren liegt auch ein Grund, den Band auch heute noch zu lesen.
Ich spazierte unlängst mit einer Freundin von Neukölln gen Treptow und wir sprachen über den hier rezensierten Band, den sie noch nicht gelesen hatte, und das neue Buch von Andreas Malm,(4) das ich noch nicht gelesen hatte.(5) Eine der Fragen war, ob denn die einen das Kämpfen aufgegeben und es sich im Kollaps gemütlich gemacht hätten, der andere aber wirklich kämpfen und den Planeten retten wolle. Es zeigte sich, die Widersprüche sind geringer als gedacht. Alle Drei sehen die Menschheit als solche vor dem Aus. Servigne und Stevens halten die industrielle Zivilisation und ihre globalisierten Systeme für nicht mehr rettbar und fordern die ernsthafte Vorbereitung und gemeinsame Auseinandersetzung mit dem ›danach‹, welches über individualistische ›wie überlebe ich ohne Zivilisation‹ hinausgehen. Für Zynismus ist da wenig Platz. Insofern geht es auch da um deutlich mehr als um das Bonmot des belgischen Anthropologen und Ökonomen Paul Jorion: »Der homo oeconomicus, der Freiheit mit freier Ausübung seiner Gier verwechselte, wurde so von seinem verdienten Schicksal ereilt: Privatinsolvenz«.(6)
Während die Sherpas von Glasgows COP26 gerade in ihre Flugzeuge steigen, lässt sich festhalten, wir brauchen den Protest und Widerstand, aber wir brauchen auch einen eigenen Umgang mit dem ganz realen Untergang von unseren Nachbarn und von uns, den homo sapiens.

Pablo Servigne & Raphaël Stevens, How Everything Can Collapse. A Manual for our Times. London 2020 [Paris 2015]

Volker Eick ist Politikwissenschaftler und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.

(1)   Für den deutschsprachigen Markt war es nie vorgesehen; das gilt wohl auch für den Nachfolgeband, P. Servigne, R. Stevens, G. Chapelle, Another End of the World is Possible. Cambridge 2021 (Paris 2018), der hier nicht rezensiert wird (weil ich ihn gerade noch lese…).
(2)   S. 168 im hier besprochenen Band.
(3)   »These crises are of profoundly different natures, but they all have the same common denominator: the car’s acceleration. In addition, each of the limits and boundaries is all by itself capable of seriously destabilizing civilization. The problem, in our case, is that we are running up against several limits simultaneously and we have already crossed several boundaries!«
(4)   A. Malm, How to Blow Up a Pipeline. Learning to Fight in a World on Fire. New York 2021. Der Band ist unlängst auf Deutsch bei Matthes & Seitz erschienen, www.deutschlandfunkkultur.de/andreas-malm-wie-man-eine-pipeline-in-die-luft-jagt.950.de.html.
(5)   Bei Malm heißt es etwa, »[…] auf der einen Seite ein unbeugsames ›Business as usual‹, das die Emissionen immer weiter in die Höhe treibt und Hoffnungen auf Schadensbegrenzung in Luft auflöst; auf der anderen Seite der Zusammenbruch empfindlicher Ökosysteme – das außerordentliche Beharrungsvermögen der kapitalistischen Produktionsweise trifft auf die Reaktionsfähigkeit der Erde. Das ist das zeitliche Dilemma, in dem die Klimabewegung sinnvolle Strategien entwickeln muss« (Kap. 2, S. 1); alle Übersetzungsvorschläge von mir, ve.
(6)   P. Jorion, Nur Mut! Kritisches Denken im Angesicht der Katastrophe. Leipzig 2019.