»Wir können nicht überrascht sein«
Zur menschenrechtswidrigen Politik in und um Moria
Matthias Lehnert
Der Anlass der heutigen Demo ist das Feuer in Moria.(1) Dieser Anlass war vorhersehbar. Es war vorhersehbar, dass ein Lager, das auf 3.000 Menschen ausgelegt ist, in dem aber 13.000 Menschen leben, nicht vor einem Großbrand geschützt werden kann, ebenso so wenig wie vor der Verbreitung von Covid 19.
Und wenn wir sehen, wie die Menschen nun tagelang ohne Essen auskommen, Wasserschläuche anritzen, um ein paar Tropfen schmutziges Wasser zu trinken, auf dem Steinboden schlafen, und wenn wir sehen, wie Kinder mit Tränengas besprüht werden, um in das nächste Gefängnis getrieben zu werden – dann können wir ebenso wenig überrascht sein.
Denn nicht erst seit Monaten, seit Jahren sehen wir, wie Zehntausende Menschen in den griechischen Hotspots im Elend leben und warten; wir sehen, wie Menschen an den europäischen Außengrenzen Schutz suchen, aber noch nicht einmal registriert werden; wir sehen, wie auch anerkannte Flüchtlinge in Griechenland, Italien, Bulgarien auf der Straße leben und keine Perspektive haben. Und fast täglich hören wir, dass Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind, im Mittelmeer ertrinken. Und diejenigen, die gerettet werden, finden keinen sicheren Hafen.
Wenn wir die Geschichten der einzelnen Menschen hören, und wenn mir meine Mandant*innen erzählen, dass sie ihren Verwandten in Griechenland nicht helfen können – dann sind das dramatische Schicksale.
Wir reden hier aber nicht nur über Tragödien, wir reden hier nicht über humanitäre Katastrophen. Was auf Lesbos und den anderen Inseln zu sehen ist, das ist die Verletzung fundamentaler Menschenrechte – des Rechts auf Leben, des Rechts auf menschliche Behandlung, des Rechts auf Schutz und auf ein rechtsstaatliches Asylverfahren.
Es ist dies nicht das Versagen einzelner Behörden, oder eines einzelnen Staates. Sondern wir reden hier von einer vorsätzlichen und kontinuierlichen Verletzung fundamentaler Rechte, die von der Europäischen Union und den Regierungen mitsamt der deutschen Bundesregierung beklatscht und gestützt wird.
Wenn die griechische Regierung wie im März das Asylrecht aussetzt und massenhaft rechtswidrige push backs in die Türkei durchführt, wird sie dafür nicht kritisiert, sondern Griechenland wird von der EU-Kommissionspräsidentin als Schutzschild Europas geadelt.
Wenn Tausende Menschen im Mittelmeer sterben, wird nicht etwa geholfen und es werden keine staatlichen Schiffe losgeschickt, um zu helfen. Nein, es werden private NGOs kriminalisiert und der deutsche Verkehrsminister ändert das Schiffsicherheitsrecht, um privaten Rettungsschiffen die Fahrerlaubnis zu entziehen. Und man arbeitet mit libyschen Milizen zusammen, um die Flucht über das Mittelmeer zu verhindern, und akzeptiert die Inhaftierung in libyschen Foltergefängnissen.
Und wenn Zehntausende Menschen in den griechischen Lagern im Dreck leben, dann folgt nicht das Selbstverständliche, nämlich eine schnelle und unbürokratische Aufnahme. Sondern es folgt eine elende Debatte mit Scheinausreden.
Am Ende dieser Debatte steht nun in dieser Woche erst einmal die Aufnahme von gut 1.500 Menschen. Aber auch das ist Augenwischerei: Denn ähnliche Zahlen wurden schon im Frühjahr versprochen, und seitdem ist viel zu wenig geschehen. Vor allem sollen nur bereits anerkannte Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Zurück bleiben all diejenigen, die einem Asylverfahren ausgesetzt sind, das seinen Namen nicht verdient.
Statt einer schnellen und unbürokratischen Aufnahme aller Menschen will die Bundesregierung vor allem vor Ort helfen. Das kommt nicht von irgendwoher: Denn der Bundesinnenminister will den Zustand der Lager und der Inhaftierung zum europäischen Dauerzustand machen. Die Pläne aus dem BMI sehen vor, dass Asylverfahren dauerhaft an die Außengrenzen verlagert werden – wo doch klar ist: Ein rechtsstaatliches Asylverfahren, das tatsächlich im Einklang steht mit Menschenrechten und Völkerrecht, wird es an den Außengrenzen nicht geben.
Wir können nur betonen: Das Recht steht eigentlich auf der Seite der Geflüchteten. Das gilt im Kleinen für die jetzt so dringende Evakuierung der Lager: Es gibt keine rechtlichen Argumente, die die Aufnahme nach Deutschland verbieten. Sondern es gibt die Menschenrechte, und es gibt viele rechtliche Spielräume im Aufenthaltsgesetz, die der Bund und auch die Länder nutzen können und nutzen müssen, um zu helfen.
Und auch im Großen und Ganzen gilt: Es gibt nicht den von Seehofer immer wieder beschworenen Gegensatz zwischen Humanität und Ordnung. Es gibt auch keinen Gegensatz zwischen Moral und dem realpolitisch Möglichen. Sondern es gibt nur einen Gegensatz zwischen dem Recht, und denjenigen, die das Recht brechen und missachten wollen.
Dr. Matthias Lehnert ist Rechtsanwalt in Berlin und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.
(1) Bei dem Beitrag handelt es sich um den Redebeitrag auf der Seebrücke-Demonstration am 20. September 2020
Die Unterüberschrift wurde von der Redaktion eingefügt.