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Todesfälle in Gewahrsam - Todesfälle ohne Aufklärung

Psychisch kranke Gefangene sterben in deutschen JVA

Lukas Theune

Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit verstarb in der Nacht vom 23. Juli auf den 24. Juli 2020 der 38-jährige Ferhat Mayouf an einer Rauchvergiftung durch ein mutmaßlich selbst gelegtes Feuer in seiner Zelle in der JVA Moabit. Herr Mayouf, wegen Diebstahls in Untersuchungshaft, berichtete im Haftprüfungstermin drei Tage zuvor von schweren Depressionen. Er äußerte mehrfach, in das Haftkrankenhaus eingeliefert werden zu müssen und berichtete, dass er sich bereits selbst verletzt habe.

Er zeigte seine Wunden. Ins Protokoll wurde aufgenommen: »Der Angeschuldigte teilte mit, er habe starke Depressionen und möchte einem Arzt vorgeführt werden«. Die zuständige Richterin wies die anwesenden Justizwachtmeister ausdrücklich an, dieses Begehren in der JVA bekanntzugeben und notierte dies auch im Haftblatt. Maßnahmen wurden hiernach jedoch keine ergriffen. Herr Mayouf wurde nach dem Haftprüfungstermin weder einem Arzt vorgestellt, noch in das JVK überführt. Das Haftblatt wurde zur Gefangenenakte genommen.
In dem Bericht der JVA über ein »außerordentliches Vorkommnis« wird die Nacht beschrieben: »Der zuständige Einsatzleiter entschied aus Gründen des Eigenschutzes die stark erhitzte Haftraumtür zunächst nicht zu öffnen und stattdessen das Eintreffen der [...] Feuerwehr abzuwarten. [...] Der Einsatzleiter der [...] Feuerwehr entschied ebenfalls, die stark erhitzte Haftraumtür zunächst erst nach ausreichender Präsenz seiner Einsatzkräfte und Löschmittel zu öffnen. [...] Nach dem Öffnen der [...] Tür wurde der leblose Gefangene aus dem Haftraum gezogen [...]. Die Reanimationsmaßnahmen wurden gegen 00:28 Uhr für beendet erklärt«.

VERANTWORTUNG IN TOTALEN INSTITUTIONEN

Doch wer ist verantwortlich? Ein nicht der deutschen Sprache mächtiger junger Mann, der von der Bereitschaftsrichterin wegen eines Diebstahls in Untersuchungshaft genommen wird – Alltag in Deutschland. Die Zwei-Wochen-Frist, in der die beantragte Haftprüfung hätte stattfinden sollen, verstreicht fruchtlos – kein Grund, Herrn Mayouf zu entlassen. Stattdessen wird Haftfortdauer angeordnet. Die selbst beigebrachten Verletzungen beunruhigen niemanden, weder die zuständige Richterin noch die Justizwachtmeister. Der Bitte, ins Haftkrankenhaus überführt zu werden, wird nicht entsprochen; nicht einmal ein Gespräch mit einer Psychologin oder einem Seelsorger wird ermöglicht. Nein, Herr Mayouf muss stattdessen zurück in seine Zelle, in 23 Stunden-Einschluss, allein mit seinen schweren Depressionen. Das Protokoll der Haftprüfung und das Haftblatt werden brav zur Akte genommen – wenn auch ohne Sichtvermerk. Die Tür des Haftraums wird nicht sofort geöffnet, obwohl Leben zu retten über allem stehen sollte. Herr Mayouf stirbt. Eine Verkettung behördlicher Gnadenlosigkeit, die zu einem Tod führt, der im Leichenschein als »Suizid« angegeben wird. Doch ist es so einfach?
Die Kampagne »Death in Custody«, ein Zusammenschluss aus mehreren Initiativen,(1) hat 179 Todesfälle von Schwarzen Menschen, People of Color und von Rassismus betroffenen Menschen in deutschem Gewahrsam seit 1990 recherchiert.(2) Dabei gehen die Recherchierenden davon aus, dass die Zahlen sehr viel höher sind. Das liege daran, dass die Datenlage insgesamt sehr schlecht ist.(3)
Dort werden auch sogenannte ›Suizide‹ in Haft als gewaltsame Todesfälle erfasst; dies wird wie folgt begründet:
»Bei vielen Todesfällen in Gewahrsam bzw. Haft wird als Todesursache ›Suizid‹ angegeben. 2017 gab es allein in deutschen Gefängnissen 82 ›Suizide‹ (dabei ist jedoch unklar, wie viele BPoC betroffen waren). Wir gehen allerdings davon aus, dass es in einer totalen Institution (Gefängnis, Polizeigewahrsam, geschlossene Psychiatrie), die das ganze Leben bestimmt, keine freie Entscheidung geben kann, das eigene Leben zu beenden. Die Haftumstände sorgen vielmehr dafür, dass den Gefangenen systematisch der Lebenswille genommen wird.«

EINGESTELLTE ERMITTLUNGEN

So läuft es auch bei dem Tod von Ferhat Mayouf: Sein Bruder erhält nur wenige Wochen später den Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft. Demnach sei ein Fehlverhalten nicht nachweisbar. Der Tod sei durch eigenes Verschulden entstanden, fahrlässige Tötung scheide aus. Denn das ist das Praktische an der behördlichen Arbeitsaufteilung. Wenn – wie hier – ein Rädchen ins andere greift und gemeinsam die adäquate Versorgung eines an einer schweren Depression Erkrankten vereitelt wird, ist niemand verantwortlich. So lief es auch bei dem syrischen Kurden Amad Ahmad, der wegen einer »Personenverwechslung« zu Unrecht rund zweieinhalb Monate in der JVA Kleve inhaftiert war, ohne eine Straftat begangen zu haben. Dort kam es immerhin nach hartnäckiger journalistischer Arbeit des Magazins monitor zu einem Untersuchungsausschuss im Düsseldorfer Landtag. Die dort festgestellte Beweisaufnahmepraxis hinsichtlich der Genauigkeit der mit dem Vollzug von Freiheitsentzug betrauten Beamtenapparate ist frappierend: Zu der Inhaftierung kam es nach der behördlichen Erzählung deswegen, weil ein Malier mit ähnlichem Namen in Hamburg zur Fahndung ausgeschrieben war. Der syrische Kurde wurde daraufhin in Nordrhein-Westfalen inhaftiert, obwohl keinerlei Ähnlichkeit zwischen den beiden Männern bestand. Ob die Beamt*innen in Geldern dabei im Glauben waren, den in Hamburg Gesuchten vor sich zu haben, blieb jedoch unklar für den Ausschuss. Denn acht der Polizist*innen, die die Inhaftnahme vor Ort beschlossen hatten, machten im November 2019 vor dem PUA von ihrem Recht auf Zeugnisverweigerung Gebrauch. Gegen sie ermittelte zu diesem Zeitpunkt die Staatsanwaltschaft, die das Verfahren aber wenige Tage später einstellte.(4)
Das Magazin Lotta fasst den Fall Amad Ahmad zusammen: »Dass Amad A. Geflüchteter war, hat wesentlich dazu beigetragen, dass er inhaftiert wurde. Keine ›Datenpanne‹, keine unpräzisen Routinen im Strafvollzug, kein Kommunikationsversagen werden ursächlich dafür gewesen sein, dass Amad A. eingesperrt wurde. Es wird der rassistische Blick auf Geflüchtete gewesen sein, der die Handelnden in den Ermittlungs- und Strafjustizbehörden davon überzeugt sein ließ, zwar vielleicht nicht den Richtigen, aber wohl auch nicht den Falschen eingesperrt zu haben. Rassismus, dabei wird es bleiben, tötet«.(5)

BETREUUNG UND SCHUTZ GEFANGENER NOTWENDIG

Was also tun? Die völlig unzureichende Ausstattung der Justizvollzugsanstalten mit psychologisch geschultem Fachpersonal ist überall bekannt. Nach der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage waren in 2018 bundesweit rund 850 Mitarbeiter*Innen des psychologischen und soziologischen Dienstes sowie rund 280 Mitarbeiter*innen des seelsorgerischen Dienstes für im Jahresdurchschnitt etwa 64.000 Gefangene zuständig(6) – eine absurde Unterversorgung. So sterben jedes Jahr 80 Gefangene durch Selbsttötungen in Gefängnissen. Das Risiko eines Suizids ist also deutlich höher als bei der Bevölkerung außerhalb des Strafvollzugs.(7) Es wird in Sicherheit investiert, in Funkzellenblocker und Kameraüberwachung, nicht aber in adäquate medizinische Betreuung insbesondere psychisch Erkrankter. Nach wie vor werden insbesondere Untersuchungsgefangene von Kontakten mit der Außenwelt ferngehalten, Internetzugang verweigert; in vielen Haftanstalten sind Untersuchungsgefangene beinahe den ganzen Tag allein eingeschlossen. All dies sind Zustände, die nicht der deutschen Sprache mächtige Gefangene besonders hart treffen. Viele Gefangene berichten zudem immer wieder über rassistische Haltungen von Gruppenbetreuer*innen und -leiter*innen in den Haftanstalten. Erkrankungen werden nicht ernst genommen; die personellen Kapazitäten der Haftkrankenhäuser sind unzureichend.
Allein bis es zu einer amtsärztlichen Untersuchung kommt, dauert es und wird zu oft verweigert. Bundesweit wurden zudem angesichts der Corona-Pandemie auch Besuchsmöglichkeiten drastisch eingeschränkt. Deutschland kam 2016 auf 11,8 Selbsttötungen pro 10.000 Gefangene, mehr als doppelt so viele wie im Durchschnitt aller 47 EU-Mitgliedsstaaten (5,5).(8)

ZUR ROLLE DER VERTEIDIGUNG

Wir Verteidiger*innen laufen gegen Mauern, wenn wir auf den Gesundheitszustand unserer Mandant*innen hinweisen; eine Entlassung wegen Haftunfähigkeit wird fast nie gewährt.
Es bietet sich an, bei geeigneten Fällen die Erlaubnis zu psychologischer Betreuung online, ggf. mit Übersetzung und unter Schweigepflicht, zu beantragen. Stellt der Vollzug hierfür kein geeignetes Personal zur Verfügung, ist auch eine psychologische oder psychotherapeutische Betreuung durch private approbierte Psychiater*innen oder Psychotherapeut*innen (inkl. Kostenübernahme) ein Mittel, um jedenfalls kurzfristig schwereren Verläufen entgegenzuwirken. Psychische Erkrankungen werden noch immer viel zu wenig ernst genommen. Dabei können diese gerade in der Haft einen tödlichen Verlauf nehmen, wie gerade die Fälle von Amad Ahmad und Ferhat Mayouf zeigen.
Dass schließlich die Justiz nicht ernsthaft gegen ihre eigenen Mitarbeiter*innen“ ermittelt, dürfte nicht verwundern. Hier sind externe Ermittlungsstellen ein Mittel zur Aufklärung. Nordrhein-Westfalen hat immerhin einen Untersuchungsausschuss eingerichtet. Davon ist Berlin noch weit entfernt. Aber jede/r Tote im staatlichen Gewahrsam ist ein Alarmsignal. Dass hiervon anscheinend überproportional häufig Migrant*innen oder BiPoC betroffen sind, macht zudem deutlich, wessen Leben in Deutschland gefährdeter ist.
Eine Änderung dieser Situation ist nur durch politischen Druck zu erhoffen. Die Black Lives Matter-Bewegung zeigt, dass rassistische Tötungen immer mehr Protest nach sich ziehen. Noch sind indes auch hierzulande einige Schritte zu gehen, um diesen Praxen ein Ende zu setzen.
Zum Weiterlesen: https://www.bag-suizidpraevention.de/links-literatur/

Dr. Lukas Theune ist Rechtsanwalt in Berlin und Geschäftsführer des RAV.
Die Unterüberschrift und einige Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.

(1) Das Bündnis wird vorgestellt auf https://deathincustody.noblogs.org/bundnis/.
(2) https://deathincustody.noblogs.org/recherche/
(3) https://deathincustody.noblogs.org/files/2020/07/DiC_Begleittext-zur-Recherche_20200716.pdf
(4) http://www.lotta-magazin.de/ausgabe/online/der-fall-amad
(5) Ebd.
(6) https://www.tagesspiegel.de/politik/zwoelf-von-10-000-gefangenen-nehmen-sich-das-leben-mehr-suizide-in-deutschen-haftanstalten/25263108.html.
(7) https://www.deutschlandfunk.de/strafvollzug-erhoehtes-suizidrisiko-bei-inhaftierten.724.de.html?dram:article_id=462144
(8) https://www.tagesspiegel.de/politik/zwoelf-von-10-000-gefangenen-nehmen-sich-das-leben-mehr-suizide-in-deutschen-haftanstalten/25263108.html