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Rechtswidrige Blockade gegen Geflüchtete in Griechenland

Keine Aufnahme aus den Lagern durch Bund und Länder

Matthias Lehnert

Seit Jahren verharren auf fünf Inseln in der griechischen Ägäis zehntausende Menschen, die in Europa Schutz suchen. Nicht wenige von ihnen sind bereits seit Jahren dort – und warten unter Lebensbedingungen, die offensichtlich unmenschlich sind. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits in mehreren Entscheidungen festgestellt, dass die Bedingungen gegen das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung verstoßen.(1) Kein deutsches Verwaltungsgericht würde eine Abschiebung in eben ein solches Lager erlauben.

Zugleich haben sich mittlerweile bereits mehr als 200 Kommunen bereit erklärt, eine insgesamt große Anzahl von Menschen aus den Lagern aufzunehmen.(2) Auch drei Bundesländer – Berlin, Thüringen und Bremen – wollen eine Aufnahme ermöglichen.(3) Derweil blockieren die deutsche Bundesregierung und Innenminister Seehofer bereits seit Monaten eine großzügige Aufnahme und haben, auch nach dem Brand des Flüchtlingslagers Moria auf Lesbos, allein eine Aufnahme von zuletzt 1.553 Personen zugesagt.(4) Nach zahlreichen Mitleids- und Absichtsbekundungen aus fast allen politischen Lagern und der Ankündigung des Bundesinnenministers, bis vor dem Winter zur Herstellung von menschenwürdigen Zuständen beizutragen, leben derweil die ehemaligen Bewohner*innen von Moria nunmehr im Karatepe-Camp – ohne warmes Wasser und Heizung, ohne Strom, während die Temperaturen sinken und der Winter immer näher rückt.(5)

ANWENDUNG GELTENDEN RECHTS MÖGLICH

Für eine Aufnahme muss keine übergesetzliche Notstandslage erklärt werden – es reicht die Anwendung des geltenden Rechts:
Zunächst kann der Bund selbst tätig werden: Über die Aufnahme auf Grundlage der sog. humanitären Klausel des Art. 17 der Dublin III-VO – um damit durch die Übernahme der Zuständigkeit für das Asylverfahren von Griechenland. Geht es um diejenigen Personen, die in Griechenland bereits einen Schutzstatus zuerkannt bekommen haben, ist eine Aufnahme nach § 23 Abs. 2 AufenthG möglich – auf diese Norm hat das Bundesinnenministerium (BMI) die Aufnahme der besagten 1.553 Personen gestützt.
Andererseits verweigert das BMI denjenigen Bundesländern, die weitere Geflüchtete in eigener Hand aufnehmen wollen, eben diese Aufnahme, und verweist hierbei auf § 23 Abs. 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift kann die jeweils »oberste Landesbehörde […] aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird«, wobei »zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit […] die Anordnung des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat« bedarf.

Die Vorschrift war und ist in verschiedenen Konstellationen durchaus praxisrelevant. So wurden bereits zahlreiche Menschen aus Syrien und dem Irak durch Landesaufnahmeanordnungen aufgenommen. Insofern ist eine derart kategorische Verweigerung des erforderlichen Einvernehmens durch das BMI zur Aufnahme von Geflüchteten aus den griechischen hot spots ungewöhnlich. Das BMI beruft sich im Wesentlichen auf zwei rechtliche Argumentationsstränge, die im Ergebnis nicht überzeugen: Zum einen verstoße ein Vorgehen der Länder gegen Europarecht, zum anderen könne in Deutschland allenfalls der Bund eine Aufnahme ermöglichen.(6)
Der Verweis auf das Europarecht und insbesondere den Vorrang der Dublin III-VO, auf den sich das Ministerium bezieht, ist irreführend, weil die Dublin III-VO ein Zuständigkeitssystems installiert, welches darüber entscheidet, in welchem Mitgliedsstaat ein Asylverfahren stattfinden soll. Hingegen macht die Dublin III-VO, ebenso wenig wie die maßgeblichen asylrechtlichen Richtlinien des Unionsrechts – die Qualifikationsrichtlinie und die Asylverfahrensrichtlinie –, Vorgaben oder verbietet gar den Mitgliedstaaten, Menschen aus humanitären Gründen aufzunehmen. Zudem können derart europarechtliche Erwägungen bei der Entscheidung über das Einvernehmen keine Rolle spielen, denn dieses darf nach der Norm des § 23 Abs. 1 AufenthG nur zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit verweigert werden.
Was zu eben dieser Wahrung der Bundeseinheitlichkeit geboten ist, kann freilich nicht durch das BMI selbst definiert werden. Vor allem kann das BMI das Einvernehmen nicht zur Durchsetzung der eigenen politischen Agenda instrumentalisieren. Ein Einvernehmen kann vielmehr nur dann verweigert werden, wenn eine Zersplitterung mit gravierenden und nicht hinnehmbaren Konsequenzen droht – und das ist kein Abstraktum, sondern muss sich an greifbaren Konsequenzen festmachen:(7) So könnte bei der Aufnahme von Geflüchteten darauf abgestellt werden, dass sich diese durch eine mögliche Weiterwanderung innerhalb Deutschlands auch auf andere Bundesländer auswirkt. Das ist derweil bei der Aufnahme nach § 23 Abs. 1 AufenthG nicht zutreffend, weil die betreffenden Personen zunächst für jedenfalls drei Jahre einer Wohnsitzauflage nach den §§ 12, 12a AufenthG unterliegen. Auch das Argument einer Ungleichbehandlung mit Asylsuchenden trägt nur bedingt: Denn diese Ungleichbehandlung ist vom Gesetz so gewollt und dürfte im Fall einer humanitären Notlage auch gerechtfertigt sein – überdies gefährdet sie auch nicht die im Gesetz adressierte Bundeseinheitlichkeit. Hinzu kommt, dass bei einer Aufnahme von einigen Hundert Personen, die von den Bundesländern angestrebt wird, schwerlich von einer gravierenden Zersplitterung ausgegangen werden kann.

BLOCKADE DES BMI AUF LINIE MIT EU-ASYLPLÄNEN

Die Blockade des BMI ist nicht allein mangelnder Humanität geschuldet, sondern sie deckt sich mit den Reformplänen des europäischen Asylsystems, die im Oktober von der EU-Kommission vorgestellt wurden und maßgeblich auf die Forderungen des BMI zurückgehen: Zentraler Bestandteil der Reformpläne ist die Einführung von sog. Vorprüfungen von Asylanträgen an den Außengrenzen in unmittelbarem Anschluss an die Einreise, mit denen die Internierung von Asylsuchenden in hot spots – wie eben solchen auf den griechischen Inseln – zum gesetzlichen Normalzustand gemacht würde.(8) Insofern ist es folgerichtig, dass sich das BMI mit der Aufnahme nach dem Feuer von Moria auf diejenigen Personen beschränkt hat, die in Griechenland bereits einen Schutzstatus innehaben, während die Aufnahme von Menschen im Asylverfahren nicht gewollt ist.
Unterdessen helfen die rechtlichen Argumente gegen die rechtswidrige Blockade des BMI nur bedingt weiter: Da das Einvernehmen Tatbestandsvoraussetzung ist, können sich die Länder nicht über die Blockade des Bundes hinwegsetzen – und ihnen bleibt nur der Weg über eine Klage und ein entsprechend langwieriges Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht. Nunmehr hat der Berliner Senat angekündigt, gegen das Bundesinnenministerium wegen der Verweigerung des Einvernehmens zu klagen.(9)  Der Ausgang eines solchen Verfahrens ist aber allenfalls offen: Auch das Bundesverwaltungsgericht wird eine politische Entscheidung treffen und ist nicht für eine progressive Rechtsprechung bekannt.
Um es nicht bei einem symbolischen oder jedenfalls langwierigen Gefecht zu belassen, müssen andere Optionen ausgelotet werden: Der RAV und der Flüchtlingsrat Berlin haben in diesem Kontext im September ein Diskussionspapier entworfen, um weitere Möglichkeiten zur Aufnahme nach dem Aufenthaltsgesetz – etwa im Wege einer großzügigen Handhabe des Familiennachzugs – ins Spiel zu bringen, bei denen Länder nicht auf ein Einvernehmen des Bundes angewiesen sind.(10)
Fest steht jedenfalls: Die dringend erforderliche Evakuierung der Lager scheitert am politischen Willen, die rechtlichen Möglichkeiten sind da.

Dr. Matthias Lehnert ist Rechtsanwalt in Berlin und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.

(1) Vgl. u.a.: EGMR, Entscheidung vom 16.04.2020, Nr. 16080/20 - E.I. u.a./Griechenland sowie: Pro Asyl, EGMR-Urteil: Flüchtlinge aus Moria müssen menschenwürdig untergebracht werden, https://www.proasyl.de/news/egmr-urteil-fluechtlinge-aus-moria-muessen-menschenwuerdig-untergebracht-werden/, 22.04.2020.
(2) Tagesspiegel vom 21.10.2020, ›Jetzt schon 200 Kommunen, die Geflüchtete aufnehmen wollen‹, https://www.tagesspiegel.de/politik/druck-auf-innenminister-seehofer-waechst-jetzt-schon-200-kommunen-die-gefluechtete-aufnehmen-wollen/26291314.html.
(3) Tagesspiegel vom 08.10.2020, ›Rot-rot-grüne Länder drohen Seehofer mit Klage‹, https://www.tagesspiegel.de/politik/aufnahme-von-fluechtlingen-aus-lesbos-rot-rot-gruene-laender-drohen-seehofer-mit-klage/26253002.html.
(4) Spiegel.de vom 15.09.2020, ›Bundesregierung will 1553 Flüchtlinge aus Griechenland aufnehmen‹, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/moria-bundesregierung-will-1553-fluechtlinge-aus-griechenland-aufnehmen-a-848ab100-e4e9-4100-b389-77f890f37a3b
(5) Tagesschau.de vom 09.11.2020, ›Das Lager macht krank‹, https://www.tagesschau.de/ausland/lesbos-lager-karatepe-101.html.
(6) Tagesspiegel vom 09.08.2020, ›Muss Seehofer jetzt mit Klagen rechnen?‹, https://www.tagesspiegel.de/politik/zwei-mal-nein-zur-fluechtlingsaufnahme-muss-seehofer-jetzt-mit-klagen-rechnen/26078320.html.
(7) Zu diesem rechtlichen Rahmen liegen zwei Gutachten vor, in denen aus diesen Gründen die Grenzen für die Verweigerung des Einvernehmens aufgezeigt werden: Karpenstein/Sangi, Aufnahme von Flüchtenden aus den Lagern  auf  den griechischen Inseln durch die deutschen Bundesländer – Rechtliche Voraussetzungen und Grenzen – Rechtliche Stellungnahme, 5. März 2020; Heuser, Rechtsgutachten zur Zulässigkeit der Aufnahme von Schutzsuchenden durch die Bundesländer aus EU-Mitgliedsstaaten, Januar 2020.
(8) Lehnert, Die europäische Lösung: Abschottung statt Flüchtlingsschutz. Abschreckung statt Menschenrechte, 25.09.2020, https://mission-lifeline.de/die-europaeische-loesung-abschottung/.
(9) Senatskanzlei Berlin, Hilfe für Geflüchtete in Griechenland – Senatsverwaltung für Inneres wird gegen Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat wegen der Verweigerung des Einvernehmens zum Landesaufnahmeprogramm Klage erheben (Pressemitteilung vom 17.11.2020), https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.1018899.php.
(10) Rechtliche Spielräume der Bundesländer bei der Aufnahme von Geflüchteten aus griechischen Lagern,  September 2020, https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.1018899.php.