Sie sind hier: RAV > PublikationenInfoBriefeInfoBrief #119, 2020 > Zeug*innen wie alle anderen?

Zeug*innen wie alle anderen?

Zur Podiumsdiskussion über Polizeizeug*innen als Tatzeug*innen

Ulrich von Klinggräff


Das Interesse am Thema der Sonderrolle von Polizeizeug*innen im Strafverfahren hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Bis dahin blieb die Abhandlung im Bender/Nack(1) neben vereinzelten Fachaufsätzen über viele Jahre maßgeblich. Der besonderen Praxisrelevanz der Thematik – insbesondere im Demonstrations- und Betäubungsmittelstrafrecht – konnten diese wenigen Veröffentlichungen jedenfalls nicht gerecht werden.

Spätestens seit dem 40. Strafverteidigertag 2016 in Frankfurt/Main aber ist eine Intensivierung der theoretischen Auseinandersetzung mit der Problematik der Berufszeug*innen zu beobachten. Hier beschäftigte sich eine Arbeitsgruppe mit dem Vertrauensvorschuss und den Sonderrechten, die diese Zeug*innengruppe in der Justiz genießen, sowie mit den hier auftretenden aussagepsychologischen Besonderheiten und Schwierigkeiten.(2)

DER ANHALTENDE WIDERSTAND DER STRAFJUSTIZ

In den letzten Jahren erschienen dann einige Beiträge, die das Thema aus anwaltlicher Sicht weiter untersucht haben.(3) Seit März 2020 liegt mit der Veröffentlichung der Dissertation von Rechtsanwalt Dr. Lukas Theune erstmalig eine umfassende Bearbeitung des Themas der Berufszeug*innen im Strafverfahren vor.(4)
Allein die Richterschaft verweigert bislang weiter jeden fachlichen Diskurs und ist in der Praxis ganz überwiegend nicht bereit, ihren unkritischen und unreflektierten Umgang mit dieser Zeug*innengruppe zu überprüfen. Bereits die grundlegende Anwendung aussage- oder wahrnehmungspsychologischer Grundsätze zur Überprüfung der Zuverlässigkeit polizeilicher Aussagen stößt bei der Strafjustiz auf erheblichen Widerstand und wird als ›Konfliktverteidigung‹ wahrgenommen. Für Strafverteidiger*innen bestätigt sich in der Praxis weiterhin der Satz des Kriminologen Fritz Sack, wonach die Polizei »die Herrschaft über die Wirklichkeit« besitzt.(5)

Die Veranstaltung am 7. November 2019 im Plenarsaal des Kammergerichts mit dem Titel »Zeug*innen wie alle anderen? Polizeibeamt*innen als Tatzeug*innen« war insofern von den Veranstalter*innen – der Vereinigung Berliner Strafverteidiger, der AG Fananwälte und dem RAV – auch als Einladung an die Richter*innen- und die Staatsanwaltschaft gemeint, in die Diskussion mit uns Strafverteidiger*innen einzutreten. Speziell sollte es darum gehen, die Sonderrolle der Polizist*innen als unmittelbare Tatzeug*innen zu diskutieren.
Entsprechend waren mit der Vorsitzenden Richterin am Landgericht Berlin, Kristin Klimke, und dem Dortmunder Staatsanwalt Dr. Heiko Artkämper, Verfasser maßgeblicher Ausbildungs­literatur für Polizeibeamt*innen, nicht allein die Positionen der Verteidigung auf dem Podium vertreten.
Der anwaltliche Blickwinkel wurde von dem Münchner Kollegen Marco Noli, der als Mitglied der AG Fananwälte regelmäßig in von Polizeizeug*innenen dominierten Strafverfahren gegen Fußball­fans verteidigt, wiedergegeben und Dr. Lukas Theune stellte die Erkenntnisse aus seiner Dissertationsarbeit vor.
Einer der renommiertesten Aussagepsychologen in der Bundesrepublik und ehemaliger Leiter des Lehrstuhls für Rechtspsychologie an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Prof. Dr. Günter Köhnken, vervollständigte das Podium. Die Veranstaltung moderierte die Berliner Strafverteidigerin Kersten Woweries.

BERUFSZEUGEN IM LICHTE VON WISSENSCHAFT UND RECHTSPRAXIS

Zu Beginn stellte Dr. Lukas Theune die folgenden regelhaft zu beobachtenden Besonderheiten der Berufszeug*innen als Tatzeug*innen dar:

  • Sie werden in der Regel nicht vernommen, sondern reichen unter Verstoß gegen die Bestimmung des § 69 StPO lediglich eigenhändig verfasste schriftliche Erklärungen zu den Akten.
  • Ihnen wird es gewährt, dass sie sich durch das Lesen von Aktenbestandteilen auf ihre Aussage in der Hauptverhandlung vorbereiten können.
  • Sie arbeiten in der Regel nicht allein, es kommt zur Problematik der Vermischung von Aussagen, der sogenannten Gruppenerinnerung.
  • Das Berufsethos umfasst es, dass mit der Aussage eine Bestätigung und Anerkennung der eigenen Arbeit durch das Gericht erstrebt wird.
  • Es handelt sich um eine Zeug*innengruppe, die in ihrer Ausbildung eine besondere Schulung auch hinsichtlich der Zeug*innenrolle erfährt.
  • Sie unterliegen nur einer beschränkten Aussagegenehmigung.
     

Diese Besonderheiten wirkten sich im Aussage­verhalten, der Frage der Glaubhaftigkeit der Aussagen und der Möglichkeit ihrer Überprüfbarkeit auf verschiedenen Ebenen aus. So sei etwa ein zentrales aussagepsychologisches Glaubhaftigkeitskriterium, die Überprüfung der Aussagekonstanz, bei vorbereiteten Zeug*innen, die den von ihnen selbst verfassten Text regelmäßig unmittelbar vor der Hauptverhandlung noch einmal durchlesen, nicht möglich. Aus der Konstanz einer Aussage, die auf der Vorbereitung beruht, könnten hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit keine Rückschlüsse gezogen werden.
Zu berücksichtigen sei auch, dass – entgegen einer bis heute vielfach gehörten Auffassung – Polizeizeug*innen keine neutralen Zeug*innen seien, sondern die Bestätigung ihrer guten Arbeit durch das Gericht suchten. Dieses Interesse sei als Risikofaktor im Rahmen der Motivationsanalyse bei der Überprüfung einer Aussage genauso zu berücksichtigen, wie die Frage, inwieweit es sich bei der Aussage tatsächlich noch um die Wiedergabe einer originären Erinnerung handele oder ob nicht bereits eine nicht mehr nachvollziehbare Vermischung von Fremd- und Eigenwahrnehmung stattgefunden habe.
Lukas Theune stellte weiter seine Untersuchungsergebnisse aus seinen ausführlichen qualitativen Expert+inneninterviews mit Strafrechtspraktiker*innen über die Würdigung der Aussagen von Polizist*innen in der forensischen Praxis dar. Im Ergebnis wird dabei zentral Folgendes festgestellt:
Richter*innen und Staatsanwält*innen halten die Polizeizeug*innen regelhaft für im Vergleich zu anderen Zeug*innen glaubhafter, und sie legen bei der Überprüfung der Glaubhaftigkeit einen weniger strengen Maßstab als sonst an. Dies habe nach Auswertung der Interviews vor allem zwei Ursachen:
Zum einen seien die vorbereiteten Berufszeug*innen für die Gerichte ›Superzeugen‹, deren Aussagen man 1 zu 1 in das Urteil aufnehmen könne, womit das eigene Interesse an einer zügigen Erledigung des Verfahrens befriedigt werden könne.
Zum anderen aber sei auch feststellbar gewesen, dass sich die Strafjustiz mit diesen Zeug*innen auf eine besondere Art und Weise verbunden fühle: als Staatsdiener, die gemeinsam für die Strafrechtspflege zuständig sind.
Das Prinzip der Gewaltenteilung, nach der die Judikative auch die Aufgabe hat, das Handeln der Exekutive zu kontrollieren, funktioniere im Zusammenhang mit Polizeizeug*innen im Strafverfahren somit erkennbar nicht.

DER BERUFSZEUG*INNEN »PFANNENFERTIGES ERGEBNIS«

Staatsanwalt Dr. Heiko Artkämper widersprach der These, wonach die Strafgerichte den Polizeibeamt*innen eine Sonderrolle zuweisen würden. Nach seiner Wahrnehmung habe die Polizei ihren ursprünglichen Bonus in den letzten Jahrzehnten verspielt, indem sie sich zu sehr auf die präventivpolizeiliche Logik eingelassen habe und damit ein Schulterschluss zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft unmöglich geworden sei. Zudem befänden sich die Polizeizeug*innen häufig in Überforderungssituationen, denen der Gesetzgeber – wie bereits mit der Einführung des § 256 I Nr. 5 StPO geschehen – mit der Ausweitung der Verlesungsmöglichkeiten zu begegnen habe. Man müsse sich fragen, wie viel Mündlichkeit das Strafverfahren noch brauche.
Problematisch sei es, dass – entgegen der StPO – die Polizei in 95 Prozent der Fälle die Ermittlungen gänzlich eigenständig durchführe und der Staatsanwaltschaft dann allein das »pfannenfertige Ergebnis« vorgesetzt werde.
Ebenfalls nicht in Abrede gestellt wurde von Dr. Artkämper die Bedeutung des Gruppendrucks und der Gruppenkonformität bei Polizeizeug*innen. Das Ergebnis sei in der Hauptverhandlung dann häufig die »uniformierte Aussage«. Dass diese »uniformierten Aussagen« auch mit dem Vorbereitungsrecht der Zeug*innen zusammenhängen könnte, wurde von Dr. Artkämper nicht problematisiert. Das angebliche Vorbereitungsrecht sei von der Rechtsprechung halt so konstituiert worden. Allein den unmittelbaren Tatzeug*innen sollte man nach seiner Auffassung dieses Recht nicht zugestehen.
Die Kriterien des BGH zur Überprüfung von Zeug*innenaussagen (Nullhypothese) werden auch in der Wahrnehmung von Artkämper häufig von den Gerichten bei Polizeizeug*innen nicht angewandt. »Es sind eigentlich keine besseren Zeugen – sie werden nur so behandelt«.
Bestätigt wurde von dem Vertreter der Staatsanwaltschaft auch die Erkenntnis, dass Polizeizeug*innen einen Freispruch als Niederlage empfänden und dieser einen Reputationsverlust auf der Dienststelle bedeuten könne.
Die Erfahrung, dass Polizeizeug*innen eine Gerichtsverhandlung, in der sie eine zentrale Rolle einnehmen, als eine Art von Prüfungssituation wahrnehmen, in der sie dafür verantwortlich sind, dass ihre Aussage am Ende für eine Verurteilung der Angeklagten hinreicht, bestätigte auch Artkämper aus Praxis und Ausbildung; ebenso, dass die Strafjustiz diesen Sachverhalt üblicherweise vollständig negiert.
Dies gilt nicht allein für die Praxis am Amtsgericht. In diesem Zusammenhang sei beispielhaft aus einem Beschluss des 7. Strafsenats des OLG München vom 3. Dezember 2019 zitiert:
»Die von der Verteidigung vorgebrachten Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit der beiden Zeugen sind haltlos. Soweit sie […] den Standpunkt vertritt, so genannte ›Berufszeugen‹ seien grundsätzlich nicht als neutrale Zeugen einzustufen, soweit ›im Rahmen der Vernehmung gleichzeitig die Qualität der eigenen beruflichen Tätigkeit auf dem Prüfstand‹ stehe, weil ein erheblicher Teil der in Ermittlungsverfahren tätigen Polizeibeamten einen Freispruch als – so wörtlich – ›Niederlage für die Polizei‹ empfinde, handelt es sich um eine aus der Luft gegriffene Kollektivverdächtigung, der offensichtlich die – haltlose – Einschätzung zugrunde liegt, das in § 160 Abs. 2 StPO statuierte Neutralitätsgebot würde von vielen Polizeibeamten in der Praxis gleichsam prinzipiell ignoriert«.
Die gänzlich empörte Abwehrhaltung der Strafgerichte gegen die Notwendigkeit einer gründlichen Überprüfung auch der Aussagen von Polizeibeamt*innen, wie sie Strafverteidiger*innen in der täglichen Praxis erleben, wird aus diesem Gerichtsbeschluss deutlich.

DAS »ÜBLICHE HANDWERKSZEUG«

Die Vorsitzende Richterin am Landgericht, Kristin Klimke wollte keine strukturellen Besonderheiten von Polizeizeug*innen erkennen. Die ganze Bandbreite von Zeug*innen sei auch bei den Berufszeug*innen zu erkennen. Zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Aussagen sei »das übliche richterliche Handwerkszeug« anzulegen. Sie würde die Anklagevorwürfe immer mit offenem Ergebnis prüfen und dabei die Aussagen der Polizei*zeuginnen so überprüfen, wie sie das immer mache. Eine Verbundenheit zu diesen Zeug*innen, wie von Dr. Theune bei seinen Untersuchungen festgestellt, könne sie für ihre Person nicht bestätigen. Polizist*innen seien bei ihren Wahrnehmungen genauso fehleranfällig wie andere auch. Es sei nicht so, dass sie qua Berufsstand immer die besseren Beobachter*innen seien.
Für besonders glaubwürdig halte sie Polizeizeug*innen nicht, sie sei von diesen auch schon belogen worden. Festzustellen sei aber eher eine bestimmte »Färbung« in den Aussagen, die sie nicht als Lügen bezeichnen würde. Ihre Kammer habe es auch schon erlebt, dass aus »höheren Motiven«, wie etwa dem Informantenschutz für einen V-Mann, die Unwahrheit gesagt worden sei. In einem Fall habe sie auch danach mit der V-Mann Abteilung gesprochen, damit so etwas nicht wieder vorkomme.
Ebenso wenig wie zuvor Artkämper stellte Klimke das vermeintliche Vorbereitungsrecht von Polizeizeug*innen in Frage. Sie erlebe es nicht so, dass die Zeug*innen allein das zuvor Gelesene referieren würden. Tatsächlich sei es im Rahmen der Befragung durchaus möglich, herauszuarbeiten, was noch an Erinnerung vorhanden sei und welche Angaben allein auf der Vorbereitung beruhten. Allerdings habe man beim Landgericht auch ganz andere Möglichkeiten. Die Überlastung und der Erledigungsdruck sei bei den Amtsgerichten ungleich höher. Auch die Praxis der Fertigung von »zeugenschaftlichen Äußerungen« wurde von Klimke nicht als generell problematisch eingeschätzt. Entscheidend sei es doch, dass bei den Beamt*innen das Bewusstsein dafür geschärft werde, dass sie authentische und individuelle Berichte abzugeben hätten.

ZUVERLÄSSIGKEIT »AUF ZUFALLSNIVEAU«

Prof. Günter Köhnken stellte zunächst die Forschungsergebnisse zur Frage der Wahrnehmung, der Kompetenz und Glaubhaftigkeit von Polizeizeug*innen durch die Justiz sowie zur tatsächlichen Zuverlässigkeit der polizeilichen Zeug*innenaussagen vor.
In den Untersuchungen ergäbe sich der relativ durchgängige Befund einer Sonderrolle der Polizeizeug*innen. Deren Aussagen würden von der Justiz für insgesamt zuverlässiger gehalten. Es werde den Beamt*innen auch nicht unterstellt, eigene Interessen zu verfolgen.
Was die Erkenntnisse der Forschung betreffe, so ließe sich zunächst feststellen, dass sich die Richtigkeit der in sogenannten ›Eindrucksvermerken‹ festgehaltenen Einschätzung von Polizist*innen zur Glaubwürdigkeit von vernommenen Zeug*innen auf einem Zufallsniveau bewegen würden. Man könne genauso gut würfeln.
Auch zur Frage der Zuverlässigkeit der polizeilichen Zeug*innenaussagen – also der Frage der Fehlerhaftigkeit - gäbe es belastbare Erkenntnisse. Danach seien die Unterschiede zwischen den ›zivilen‹ Zeug*innen und den Polizeizeug*innen jedenfalls äußerst gering. Dies beträfe auch die Frage der Wiedererkennungsleistungen. Eine Schulung zur Verbesserung der Aussagequalität habe sich als wirkungslos erwiesen. Besonders fehleranfällig seien die Wahrnehmungen von Situationen, die in ähnlicher Art und Weise von dem/der Zeug*in schon vielfach beobachtet worden seien und die dann im Sinne dieser stereotypen Erfahrung interpretiert und abgespeichert würden, ohne dass die Abweichung des Einzelfalles erkannt werde. Die schemageleitete Erinnerung beeinflusse negativ die konkreten Wahrnehmungsmöglichkeiten.
Anders als bei der Analyse der Glaubhaftigkeitsmerkmale einer Aussage gäbe es für die Überprüfung von deren Zuverlässigkeit kein entsprechendes Instrumentarium. Man könne allein die Risikofaktoren beleuchten, unter denen eine Wahrnehmung gemacht worden sei.
Statt sich auf mögliche Gruppenunterschiede zwischen ›Zivilist*innen‹ und Polizist*innen zu fokussieren, sei es hier deutlich gewinnbringender, sich jeweils mit den konkreten Wahrnehmungsbedingungen (also etwa Lichtverhältnisse, Übersichtlichkeit einer Situation etc.) sowie der Zeitspanne, die zwischen der eigentlichen Wahrnehmung und der Aussage vor Gericht verstrichen sei, zu beschäftigen.
Die Möglichkeit von Polizeizeug*innen, sich mit Aktenbestandteilen auf ihre gerichtliche Zeugenaussage vorbereiten zu können, wurde von Köhnken insbesondere unter dem Aspekt des Falschinformationsaspektes thematisiert, also der Problematik, dass Zeug*innen sich auch mit Informationen von dritter Seite vorbereiten, deren Richtigkeit sie nicht überprüfen und deren Inhalt mit in ihre eigene Aussage einfließt. In der Aufklärung der Aussageentstehung und -entwicklung liege oftmals der Schlüssel, um eine Aussage angemessen beurteilen zu können. Dabei sei es insbesondere notwendig aufzuklären, wer mit wem auf der Wache gesprochen habe, welche Informationen dort ausgetauscht worden und in die einzelne Aussage eingeflossen seien, auf welchen dubiosen Wegen also eine Aussage letztlich zustande gekommen sei.
»Das ist so, als wenn Sie auf der Tatwaffe die Fingerabdrücke wegwischen. Und das am besten noch mit Terpentin. Weg ist weg. Das kriegen Sie nicht mehr rekonstruiert. Wenn das Gedächtnis erstmal kontaminiert ist, dann ist es das«.

STAATSDIENENDER KORPSGEIST ALS »MAß ALLER DINGE«

Als abschließender Referent hat der Münchner Kollege Marco Noli von seinen Praxiserfahrungen – insbesondere in Demonstrationsverfahren und Prozessen gegen Fußballfans berichtet. Es handelte sich dabei in erster Linie um die klassischen amtsgerichtlichen Verfahren mit den Vorwürfen des Widerstands, der Körperverletzung und der Beleidigung.
Noli bestätigte die Erkenntnis von Theune, wonach zwischen der Strafjustiz und den Polizeibeamt*innen eine Art von »Staatsdiener-Korpsgeist« festzustellen sei. Es seien justizielle Schutzreflexe gegenüber dieser Zeug*innengruppe erkennbar, mit deren Hilfe der Strafjustiz die kritiklose Reproduktion des Akteninhalts in die Hauptverhandlung gelänge. Polizeibeamt*innen genössen einen großen Vertrauensvorschuss. Es bestehe ein deutliches Abhängigkeitsverhältnis und eine Unterwürfigkeit der Strafjustiz gegenüber den Berufszeug*innen, wo man sich frage, wer hier eigentlich wen kontrolliere. Jedenfalls bestehe eine gigantische Hemmschwelle der Richter*innen vor einer Kritik an der Polizei.
Dies führe in den Verfahren zu einer Art Beweislastumkehr und der Aushebelung des Zweifelsgrundsatzes. Die polizeiliche Aussage sei »das Maß aller Dinge«. Dabei würden von den Gerichten auch noch die absurdesten inhaltsgleichen – offensichtlich in Gemeinschaftsarbeit entstandenen – schriftlichen Zeug*innenerklärungen als Verurteilungsgrundlage akzeptiert. Letztlich seien die Polizeizeug*innen die wahren Herrscher*innen des Verfahrens.

ER[N]STES FAZIT

Festzuhalten bleibt nach dieser Veranstaltung Folgendes: Das Interesse an der Veranstaltung war ausgesprochen groß. Mit ca. 200 Zuhörer*innen war der Plenarsaal des Kammergerichts gut gefüllt. Allerdings blieb die Zahl der anwesenden Richter*innen überschaubar, und Vertreter*innen der Staatsanwaltschaft fehlten gänzlich. So ist es letztlich nicht zu einem tatsächlichen Austausch zwischen den Positionen der Verteidigung und denen der Strafjustiz gekommen.
Die Erkenntnisse zur polizeilichen Sonderrolle und der engen Verbindung zwischen der Strafjustiz und den Berufszeug*innen, die in der Arbeit von Theune herausgearbeitet und auch in dem Beitrag von Rechtsanwalt Marco Noli zur Praxis an den Amtsgerichten deutlich wurden, wurden von Staatsanwalt Artkämper und der Richterin Klimke recht entschieden abgewehrt und die Problematik allein im individuellen Aussageverhalten bei einzelnen Polizeizeug*innen, aber kaum in strukturellen Problemen gesehen. Die Kritik der Vertreter*innen der Strafjustiz verharrte somit im Wesentlichen bei Einzelfällen, ohne etwa auf die von Theune beschriebenen grundsätzlichen Folgen der Sonderrechte im Zusammenhang mit der aussage- und wahrnehmungspsychologischen Bewertung polizeilicher Aussagen und deren systematischer Privilegierung einzugehen. In diesem Zusammenhang muss auch konstatiert werden, dass die von der Richterin am Landgericht Klimke vertretenen Positionen deutlich machten, dass diese offenkundig keine grundsätzliche Problematik bei den Polizeizeug*innen erkennen konnte und somit auch mit der Kritik der Verteidigung an der Sonderrolle von Polizist*innen als Tatzeug*innen wenig anzufangen vermochte. Hierbei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass die überwiegende Zahl der Fälle in Demonstrationsverfahren, in Verfahren gegen Fußballfans sowie den kleineren BtM-Verfahren vor den Amtsgerichten verhandelt werden, und in den landgerichtlichen Verfahren eher die polizeilichen Ermittlungsbeamt*innen und weniger die polizeilichen unmittelbaren Tatzeug*innen eine Rolle spielen.
Der Beitrag von Dr. Artkämper war einerseits davon gekennzeichnet, der Sicht der Verteidigung an einzelnen Punkten entgegenzukommen. Dies betrifft zunächst die Auffassung zum Bestehen einer besonderen Motivlage bei polizeilichen Zeug*innen. Aber auch die Ablehnung des status quo, wonach selbst die unmittelbaren polizeilichen Tatzeug*innen nicht vernommen werden, sondern ausschließlich zeugenschaftliche Äußerungen anfertigen, kritisierte Artkämper. Gleichzeitig aber war sein staatsanwaltschaftliches Interesse erkennbar, die Probleme – etwa im Zusammenhang mit dem vermeintlichen Vorbereitungsrecht – dadurch lösen zu wollen, dass die Rechte der Beschuldigten durch die Erweiterung der Verlesungsmöglichkeiten weiter eingeschränkt werden. Eine besondere Verantwortung der Staatsanwaltschaft hinsichtlich des Aussage­verhaltens der Berufszeug*innen und insbesondere hinsichtlich der polizeilichen Praktiken im Ermittlungsverfahren wollte Artkämper nicht erkennen. Die besondere institutionelle Nähe zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft wurde von ihm vollständig negiert.
Es bleibt die Aufgabe der Verteidigung, weiter an dem dicken Brett der Sonderrolle der Berufszeug*innen zu bohren. Dabei sollte insbesondere versucht werden, die Erkenntnisse aus der Aussage- und Wahrnehmungspsychologie, wie sie auf der Veranstaltung von Prof. Köhnken vermittelt wurden, in die Hauptverhandlungen hinein­zutragen. Die Abwehrhaltung der Strafjustiz kann allein über eine beharrliche Weiterarbeit an der Thematik der Berufszeug*innen aufgebrochen werden. Hierzu hat die Veranstaltung vom 7. November 2019 unter der souveränen Leitung der Kollegin Woweries ihren Beitrag geleistet.

Ulrich von Klinggräff ist Rechtsanwalt in Berlin und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV. Unter- und Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.

(1)    Bender/Nack/Treuer, Tatsachenfeststellung vor Gericht,
4. Auflage, München 2014.
(2)    Vgl. die Aufsätze in: Bild und Selbstbild der Strafverteidigung, Texte und Ergebnisse des 40. Strafverteidigertags, Frankfurt/Main 2016.
(3)    Hof, Polizeizeugen – Zeugen im Sinne der StPO? HRRS 7/2015. Burkhard; Widerspruch gegen Vernehmung behördlicher Zeugen, HRRS 2/2020. Lemke-Küch, Die Vorbereitungspflicht für den als Zeugen aussagenden Polizeibeamten, StraFo 4/2020; Theune, Polizeibeamte als Berufszeugen im Strafverfahren, StV 5/2020.
(4)    Theune, Polizeibeamte als Berufszeugen im Strafverfahren, Baden-Baden 2020; vgl. die Rezension von Conen in diesem Heft.
(5)    www.heise.de/tp/features/Die-Herrschaft-ueber-die-Wirklichkeit-hat-die-Polizei-3849174.html.