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Martin Lemke

UNSER GROßARTIGER KOLLEGE UND LIEBER FREUND

Vorstand des RAV

Unser großartiger Kollege und lieber Freund, Rechtsanwalt Martin Lemke, ist tot. Er starb nach längerer Krankheit am 18. April 2019 in Hamburg mit nur 59 Jahren. Wir sind unendlich traurig.

Mit Martin Lemke geht ein großer, leidenschaftlich streitbarer, politisch engagierter, von seinen Mandanten geliebter, von der Staatsanwaltschaft und seinen Gegnern bei Gericht angesehener, aber auch gefürchteter Strafverteidiger, radikaler Demokrat und Antifaschist. Er war – in den Kategorien von Gerhard Jungfer – der Kämpfertyp. Ein Verteidiger, der den professionellen Streit liebte und nicht daran litt; der die Kenntnis der Dialektik der Wahrheitsfindung im Reformierten Strafprozess mitbrachte; der den Strafverfolgungsbehörden und dem strafenden Staat mit tiefem Misstrauen begegnete; der sich dem immer schneller und immer lauter werdenden Ruf nach Effektivierung des Strafprozesses verweigerte, kompromisslos Beschuldigtenrechte und Freiheitsrechte einforderte und unerbittlich Mandanteninteressen durchsetzte. In seiner großen Eröffnungsrede auf dem 37. Strafverteidigertag 2013 in Freiburg hat er gesagt:
»Der BGH sagt, dass die Verteidigung der Rechtsordnung und die Funktionsfähigkeit einer effizienten Strafrechtspflege notwendigerweise die Beschneidung von Beschuldigtenrechten mit sich bringen, notwendigerweise eine Minimierung von Beweisverwertungsverboten und den Abbau von Beweisantragsrechten zur Folge haben muss. Auf die umgekehrte Idee, die Rechtsordnung mit mehr rechtsstaatlichen Elementen zu verteidigen, also mit mehr Beschuldigtenrechten, mit strengeren Beweisverwertungsverboten und mit mehr Beweisantragsrechten, auf diese an sich naheliegende Idee kommt der mit juristischem Sachverstand ausgestattete BGH viel zu selten. Nach meinem Verständnis lässt sich eine demokratisch-rechtsstaatliche Rechtsordnung, welche dem Recht und nicht dem Staat den Vorzug gibt, besser verteidigen und kommt auch so besser zur Geltung«.

Wer seinen scharfen Verstand, seine Schlagfertigkeit, seinen klugen Witz, kurz: seine Brillanz im Gerichtssaal, aber auch bei Kundgebungen, Vorträgen und Podiumsdiskussionen erlebt hat, weiß, was wir mit ihm verloren haben.

Martin Lemke war von 1996 bis 2018 Vorstandsmitglied des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins und schärfte durch seine Diskussionsfreudigkeit und Überzeugungskraft das Profil des Vereins. Im Juni 2018 war er es, der entschieden dafür eintrat, dass der RAV den Protest gegen die völkischen und nationalistischen Umtriebe initiativ auf die Straße bringen soll und muss. Das Ergebnis war das Bündnis #unteilbar und die 242.000 Menschen zählende Demonstration im Oktober 2018 für eine offene und freie Gesellschaft.
Martin Lemke engagierte sich als ein in rechtspolitischen Kategorien denkender und agierender Kassenwart und als Referent in unserem Fachlehrgang Strafverteidigung. Er förderte das Ziel des Vereins, junge Kolleginnen und Kollegen zu befähigen, Recht als Waffe zu nutzen, um sich gegen Herrschaft zur Wehr zu setzen, um Recht zugunsten des oder der Schwächeren zu nutzen und zu entwickeln. Für viele jüngere Kolleginnen und Kollegen im RAV war Martin Lemke Mentor und Vorbild, gab Orientierung, Förderung und inhaltlichen Austausch.
Von 2001 bis 2013 war Martin Lemke Vorstandsvorsitzender der Werner-Holtfort-Stiftung, die sich der anwaltlichen Fortbildung sowie dem Kampf um ein demokratisches Recht und die freie Advokatur widmet.
Bei der Preisverleihung der Holtfort-Stiftung an die Redaktion und Zeitschrift Bürgerrechte & Polizei/CILIP im Mai 2005 führte er in den Vortrag von Prof. Fritz Sack zu dem Thema ›Feindstrafrecht – Auf dem Weg zu einer anderen Kriminalpolitik‹ ein und berichtete von der damals durch den Fall Daschner virulenten Diskussion über die Anwendung von Folter durch die Polizei:
»Verschiedene Dozenten an Polizeifachhochschulen berichten darüber, dass sie im Unterricht den Beamten und Polizeischülern den Frankfurter Folterfall vorgestellt haben und die Rechtslage mit dem absoluten Folterverbot und das anschließende Strafurteil gegen Vizepräsident Daschner erörtert haben. Die Seminarteilnehmer sind anschließend von den Dozenten im Unterricht nach ihrer Meinung gefragt worden. Zwischen 50 Prozent und 70 Prozent der Teilnehmer haben die Folteranordnung für richtig gehalten. 30 bis 40 Prozent der jeweiligen Teilnehmer waren sofort bereit und taten dies auch kund, die Folter durch Zufügung erheblicher Schmerzen an dem Beschuldigten körperlich zu vollziehen. Wir können davon ausgehen, dass diese Polizeischüler keine Bedenken hätten, das Jakobsche Feindstrafrecht anzuwenden und bestimmte Beschuldigte zukünftig als außerhalb des Rechts stehende Feinde zu behandeln«.
Der Beitrag war weitsichtig. Acht Jahre später, anlässlich des Eröffnungsvortrages auf dem Strafverteidigertag in Freiburg stellte Martin Lemke fest:
»Der rechte Terror der NSU konnte sich aufgrund der Blindheit, des reaktionären Weltbildes und der Gesinnung von Ruhe und Ordnung in den Diensten und den Justizbehörden zehn Jahre lang ungehindert ausbreiten«.
Inzwischen sind wir bei NSU 2.0 angelangt und bei der Bedrohung der Kollegin Seda Başay-Yıldız als vermeintliche Feindin durch ein braunes Netz in der Polizei.

Martin Lemke war jahrzehntelang bis zu seinem Tod Mitglied der Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger e.V., einem Zusammenschluss aus etwa 150 Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern, deren Ziel die kontinuierliche Fortbildung, die rechtspolitische Einflussnahme, die Stärkung der Beschuldigtenrechte und die Verbesserung der Haftbedingungen im Strafvollzug ist. Auf vielen Mitgliedertreffen berichtete er über immer umfangreichere Eingriffsermächtigungen des Staates gegen die Bürger im Bereich des Betäubungsmittelstrafrechts, die als Eisbrecher angewendet auch in anderen Bereichen des Strafrechts Verwendung gefunden haben. Er berichtete sowohl über den Unsinn einer nutzlosen Drogenprohibition, die strukturell rechtsstaatliche Prinzipien gefährdet, als auch über ausufernde geheime Maßnahmen der Polizei ohne wirksame justizielle Kontrolle.
Martin Lemke war über Jahre Anwalt des Widerstandes im Wendland gegen das Atommüll-Lager Gorleben. Auf der Homepage der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. findet sich eine wunderbare Bildergalerie über die direkte Konfrontation mit der Polizei und Zeilen der größten Sympathie und des liebevollen Abschieds für einen, der sich »unermüdlich und unerschrocken« jahrelang für den Widerstand gegen Atomtransporte eingesetzt hat.

Martin Lemke war unser großer Freund, ein warmherziger, hilfsbereiter und solidarischer Mensch und Kollege, mutig und Mut machend. Noch einmal aus dem Freiburger Vortrag:
»Über die Möglichkeit der Strafverteidigung im Gerichtssaal entscheiden also nicht ausschließlich Prozessgesetze, sondern ganz wesentlich auch das Selbstbewusstsein der Verteidigerinnen und Verteidiger und das demokratische Bewusstsein von allen am Strafverfahren Beteiligten. [...] Den Kampf um das Recht gewinnt man nicht mit Anpassung. Lassen wir uns also nicht entmutigen«.
Das Ende seines Vortrages war eine Sequenz aus dem wunderbaren Billy Wilder Film Zeugin der Anklage mit Marlene Dietrich und Charles Laughton als Anwalt Sir Wilfrid.
»Charles Laugthon sagt am Ende eines langen streitbaren Lebens als Verteidiger den be- merkenswerten Satz: ›In einem Gerichtssaal gibt es nur zwei Ehrenplätze – auf einem sitzt schon der Angeklagte‹. Bemühen wir uns also, den zweiten Ehrenplatz im Gerichtssaal angemessen auszufüllen«.
Wir fühlen die klare Verpflichtung, den Weg für die Verteidigung der Rechte jedes Einzelnen und jeder Einzelnen, den Martin so konsequent wie nur wenige und auf unvergleichliche Art gegangen ist, fortzusetzen. Er wird uns immer begleiten.

Für Dich, Martin, gibt noch mindestens zwei weitere Ehrenplätze: in unseren Herzen und im RAV.