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#unteilbar_2 | »Die Bedrohungen sind real«

Michèle Winkler

Hallo zusammen, ich spreche für das Komitee für Grundrechte und Demokratie. Schön, Euch alle hier zu sehen!

Vor ziemlich genau drei Monaten – Anfang Juli 2018 – hatten wir eine E-Mail vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein im Postfach. Sie begann folgendermaßen:

»Liebe Freundinnen und Freunde,

die Entwicklungen hin zu einem autoritären und nationalistischen Sicherheitsstaat, in dem Menschenrechte plötzlich ohne weiteres verhandelbar sind, gehen in einem rasanten Tempo voran. Klare Rechtsbrüche sind nicht nur an der Tagesordnung, sondern werden in Gesetzesvorhaben und Regierungshandeln umgesetzt. Gesellschaftlich benachteiligte Gruppen werden gegeneinander ausgespielt. Soziale Gerechtigkeit spielt keine Rolle.
Es ist Zeit, den Lähmungszustand zu überwinden. Wir möchten daher gerne mit Euch diskutieren, ob es uns zusammen gelingen kann, ein breites gesellschaftliches Bündnis zu schaffen und sichtbar zu machen. Wir denken an eine Großveranstaltung in Berlin...«


Und schaut Euch um! Wenn das mal keine Großveranstaltung ist! Vielen herzlichen Dank an den RAV für die genau richtige Initiative im genau richtigen Moment. Ich bin froh, dass ich heute mit Euch und all den anderen Menschen hier sein kann, um deutlich zu sagen: Menschenrechte kennen keine Grenzen. Menschenrechte sind unteilbar!

Ich möchte ein paar Worte dazu sagen, warum wir als kleiner Verein sehr schnell entschieden haben, dass wir bei dieser Initiative dabei sein werden. Wir erleben seit Monaten, wie die Prinzipien mit Füßen getreten werden, an denen wir unsere Arbeit orientieren: Sie heißen Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Wir erleben, wie Grund- und Menschenrechte zu inhaltsleeren Worthülsen verkommen.

Wir sehen es aber gar nicht ein, uns dieser Verrohung der Sprache und der Verrohung der Politik zu beugen. Für uns bedeuten die Worte Grund- und Menschenrechte etwas:

• Der Einsatz für Grund- und Menschenrechte heißt, dass es eben nie eine Frage sein darf, ob Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden sollten.

• Der Einsatz für Grund- und Menschenrechte heißt, dass es eben auch keine Frage sein darf, ob jede und jeder sich ein Dach über dem Kopf oder den Zugang zur Erfüllung anderer Grundbedürfnisse leisten können sollte.

• Der Einsatz für Grund- und Menschenrechte heißt, dass es nicht sein kann, dass wir zwar mit Waren und Kapital global handeln, dass aber Menschen nicht frei sind, sich überall hin zu bewegen und auch dort zu bleiben. Egal aus welchen Gründen sie das tun.

• Der Einsatz für Grund- und Menschenrechte heißt, dass wir daran arbeiten müssen, dass keine Waffen mehr produziert, verkauft und benutzt werden. Nicht hier und nirgendwo sonst auf der Welt.

• Der Einsatz für Grund- und Menschenrechte heißt, sich gegen jedwede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und die damit einhergehenden Diskriminierungen und Gewaltverhältnisse zu positionieren.

• Der Einsatz für Grund- und Menschenrechte heißt, klarzustellen, dass ein Staat seine Bürgerinnen und Bürger nicht ausspähen und alles Mögliche über sie speichern darf, egal ob diejenigen, die das im Namen des Staates tun, nun Verfassungsschutz oder Polizei heißen.

• Der Einsatz für Grund- und Menschenrechte heißt, es nicht hinzunehmen, dass immer mehr Menschen eingesperrt und vom sozialen Leben abgeschnitten werden – sei es um sie anschließend abschieben zu können, weil sie Geldstrafen nicht zahlen können, weil der Staat sie auf Basis von Prognosen als ›gefährlich‹ brandmarkt oder um sie zu bestrafen.

• Der Einsatz für Grund- und Menschenrechte heißt schließlich auch, sich für ein Wirtschaften einzusetzen, das die Bedürfnisse ALLER Menschen, der Tiere und der Umwelt in den Vordergrund rückt – sodass ein gutes Leben für alle heute und in Zukunft möglich wird.

Diese Aufzählung ist weder vollständig noch abschließend. Dennoch – vieles, was ich gerade benannt habe, steht momentan zur Disposition. Die Bedrohungen sind real, sie lassen sich nicht durch schöne Worte beiseite wischen. Die Klimakatastrophe steht vor der Tür, und der Faschismus ist nicht weit weg. Aber wir haben gar keine andere Wahl, als für eine bessere Welt zu streiten und dabei so viele wie möglich mitzunehmen.

Wie schön, zu sehen, dass so viele Menschen gerade diese Bereitschaft, diesen Einsatz auf die Straße tragen. Und das nicht nur hier und heute, sondern letzte Woche am Hambacher Forst unter dem Motto ›Kohle stoppen – Wald retten‹, vor zehn Tagen in München unter dem Motto ›Jetzt gilt‘s – gemeinsam gegen die Politik der Angst‹ oder vor zwei Wochen bei der großen antirassistischen Parade von We‘ll Come United in Hamburg. Nicht zu vergessen all diejenigen, die sich ständig und immer wieder Nazis und Rechten in den Weg stellen, auch dann, wenn sie nicht von Zehntausenden begleitet werden.

So viel Bewegung wie jetzt war schon lange nicht mehr! Das macht Mut und das zeigt vor allem, wir sind nicht allein, wir sind viele!

Es ist mir aber wichtig darauf hinzuweisen, dass wir vielleicht viele, aber eben nicht alle sind und auch unter den jetzigen Bedingungen niemals alle sein können. Denn es fehlen die Ertrunkenen. Es fehlen die an den Grenzen brutal Zurückgedrängten. Es fehlen die Abgeschobenen, und es fehlen die Gefangenen. Sterben lassen, aussperren, abschieben, einsperren. Das ist das, wofür Deutschland und die EU aktuell stehen. Das können wir nicht hinnehmen. Deswegen lasst uns unsere Wut gegen diese Zustände und unser Streiten für eine andere Welt auch für all diejenigen artikulieren, die nicht bei uns sein können.

Lasst uns auch nach dem heutigen Tag weiter streiten gegen Diskriminierung, Ausgrenzung und soziale Ungerechtigkeit. Lasst uns einstehen für eine Welt, in der alle ihren Platz finden können und in der die Menschenrechte wirklich unteilbar sind!

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Michèle Winkler ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des ›Komitee für Grundrechte und Demokratie‹