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Oury Yalloh

MORD IN ZELLE NR. 5

Gabriele Heinecke

Es ist der 7. Januar 2005, kurz nach 8 Uhr. Durch die Straßen Dessaus läuft ein 36-jähriger Mann aus Sierra Leone. Oury Jalloh hat Liebeskummer, er ist mit etwa 3 Promille Alkohol im Blut stocktrunken. In der Turmstraße, vor der Gaststätte ›Kartoffelwaage‹, spricht er zwei Ein-Euro-Jobberinnen an, die dort Müll aufsammeln. Er lallt, er wolle mit ›Tina‹ telefonieren, brauche ein Handy. Er soll an dem Rucksack einer der Frauen gezogen haben.
Die Ein-Euro-Jobberinnen rufen die Polizei, ein Funkstreifenwagen kommt und schafft den bei ihrem Eintreffen in einiger Entfernung unbeteiligt an einer Wand lehnenden Jalloh unter Anwendung unmittelbaren Zwangs in das Polizeifahrzeug. Er soll sich gewehrt haben.

JALLOH BRENNT

Im Festnahmebericht ist zu lesen, er habe nach Anlegen der Handfesseln nach den Beamten getreten. Im Fahrzeug habe er seinen Kopf gegen die Scheibe geschlagen und sich an der Nase verletzt. Wenige Minuten später wird Oury Jalloh gefesselt in den Gewahrsamstrakt im Keller des Polizeireviers Dessau verbracht, zunächst in den Sanitätsraum, wo er durchsucht wird. Er sei renitent gewesen, heißt es in der Ermittlungsakte, er habe versucht, seinen Kopf auf die Tischplatte und gegen die Wand zu schlagen. Die Tatortgruppe stellt später eine Blutabrinnspur am Tischbein fest. Sie wird nicht gesichert.
Der Polizeiarzt wird von dem Dienstgruppenleiter telefonisch mit den Worten »Piekste mal ´nen Schwarzafrikaner?« gerufen. Er antwortet, »Ach du Scheiße« und lacht. Nach seinem Eintreffen entnimmt er ohne richterliche Anordnung eine Blutprobe. Danach soll Jalloh ausnüchtern und später erkennungsdienstlich behandelt werden.
Gegen 9.30 Uhr wird Jalloh von drei Beamten in die Zelle Nr. 5 im Gewahrsamstrakt getragen und dort auf ein gefliestes Podest mit aufgelegter schwer entflammbarer Matratze gelegt. Mit Hand- und Fußfesseln wird er mit beiden Händen und beiden Füßen an in der Wand bzw. im Boden des Podests eingelassenen Metallbügeln angekettet und erneut durchsucht. Danach verlassen die Polizeibeamten die Zelle, die Zellentür wird mit einem Türschlüssel und zusätzlich mit zwei Riegeln verschlossen. Der Schlüssel soll in dem zwei Stockwerke höher gelegenen Dienstgruppenleiterraum auf das allgemein zugängliche Gewahrsamsbuch gelegt worden sein.
Gegen 11.30 Uhr werden die beiden festnehmenden Beamten von einem Kollegen dabei beobachtet, wie sie in der Zelle Nr. 5 Oury Jalloh erneut durchsuchen. Der Hosenknopf ist geöffnet, die Hose etwas heruntergezogen, so dass die Unterhose zu sehen ist; die Taschen der Hose sind nach außen gekehrt. Einer der festnehmenden Beamten tastet Jalloh ab. Eine Viertelstunde später stellen Polizeibeamte im Rahmen einer Kontrolle auf dem Boden der Zelle eine Flüssigkeitslache fest, die sich in Richtung der Matratze zieht. Die Lache wird nicht weiter beachtet, nicht gesichert und nicht beseitigt.
Gegen 12.05 Uhr wird durch den Rauchmelder in der Zelle Nr. 5 Brandalarm ausgelöst, der im Dienstgruppenleiterraum aufläuft. Der Dienstgruppenleiter drückt den Alarm weg. Die Meldeanlage schlägt ein zweites Mal an, auch dieser Alarm wird weggedrückt. Danach läuft der Dienstgruppenleiter in Richtung des Gewahrsamstrakts los, geht vorher noch zu einem Kollegen, der ihn zu der Zelle Nr. 5 begleiten soll. Als beide dort ankommen und die Tür aufschließen, quillt dicker schwarzer Rauch aus der Zelle.
Als gegen 12.20 Uhr die Feuerwehr eintrifft, brennt der Körper Jallohs noch 50cm hoch im Bereich des Unterbauchs. Die Leiche ist völlig verkohlt und verkocht.

DIE ERFINDUNG DES FEUERZEUGS

Wie es zu dem Brand kam, ist bisher ungeklärt. Zwar ist der Dienstgruppenleiter von dem Landgericht Magdeburg im Dezember 2012 wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil er zugelassen habe, dass Oury Jalloh in der Zelle ohne ständige optische Überwachung blieb. Doch wollte das Gericht »nicht ausschließen«, dass trotz gründlicher Durchsuchungen einem der festnehmenden Polizeibeamten anlässlich der Fixierung auf dem Podest ein Feuerzeug verloren gegangen war und es Jalloh gelang, damit die Matratze anzuzünden, »um damit Aufmerksamkeit zu erregen und seine Freilassung herbeizuführen«. Allerdings wurde von der Spurensicherung kein Feuerzeug im Brandschutt entdeckt. Erst an dem darauffolgenden Montag soll beim Ausschütten von Brandschutt durch eine Sachverständige der forensischen Chemie im LKA ein zusammengeschmolzener Plastikklumpen mit Metallrädchen entdeckt worden sein.
Die Spurensicherung sollte von der Tatortgruppe des LKA Sachsen-Anhalt fotografisch und videografisch dokumentiert werden. Das Fotomaterial beschränkt sich auf Übersichtsaufnahmen der Leiche und der Zelle. Ein Video, bei dem Datums- und Zeitangaben ausgeschaltet sind, beginnt mit dem Gang in die Zelle und dem Kommentar des Videografen: »Ich begebe mich jetzt in den Keller, in dem sich ein schwarzafrikanischer Bürger in einer Arrestzelle angezündet hat. Wir befinden uns jetzt in dem Arrestzellentrakt, gleich die erste Zelle rechts wurde durch den Schwarzafrikaner belegt, und hier hat er sich auch angezündet«.
Tatsächlich wusste zu diesem Zeitpunkt offiziell niemand etwas von einem Feuerzeug. Das Video bricht mitten während der Tatortarbeit ab, noch bevor die Leiche auf die Seite gedreht und die darunter befindliche Fläche sichtbar wird. Es habe einen Stromausfall gegeben, berichtet der Videograf als Zeuge vor dem Landgericht Magdeburg im Jahr 2011. Der habe dazu geführt, dass sich die Kamera trotz eines Akkus selbst abgeschaltet habe. Er habe das erst später bemerkt, weil er die Kamera auf einem Stativ befestigt und sich selbst auf den Hof begeben habe. Der Stromausfall bestätigte sich nicht. Von welcher Person der Videograf die Information von der Selbstverbrennung des Oury Jalloh erhalten hatte, erinnerte er als Zeuge nicht mehr.
In den Tagen nach dem Feuer gibt die Revierleitung mit Wissen des amtierenden Polizeipräsidenten vier Mitarbeiterinformationen über die Hintergründe des Geschehens am 7. Januar 2005 heraus. Darin ist zu lesen, dass Oury Jalloh selbst das Feuer gelegt habe und daran verstorben sei. Unter demselben Tenor findet eine Informationsveranstaltung für die Mitarbeiter des Reviers statt.
Die Suggestion ist erfolgreich. Bis zum Sommer 2012 gehen die Behörden und Gerichte davon aus, dass es sich bei dem zu den Asservaten genommenen Feuerzeugrest um das Werkzeug handelte, mit dem das Feuer am 7. Januar 2005 gelegt wurde. Sieben Jahre nach dem Brand, im Jahre 2012, beschließt das Landgericht Magdeburg in dem Strafverfahren gegen den Dienstgruppenleiter, den Feuerzeugrest auf Spuren aus der Zelle untersuchen zu lassen, das heißt auf Textilreste der Kleidung, des Schaumstoffkerns der Matratze, der kunstledernden Matratzenhülle oder DNA des Oury Jalloh. Das Ergebnis ist sensationell, denn es gibt keine Übereinstimmungen. An dem Feuerzeug lässt sich keine Kontamination mit aus der Zelle stammendemMaterial feststellen, es gibt keine Anhaftungen von Brandschutt. Aber in dem Feuerzeugrest finden sich eingeschmolzene Textilfasern, ein ganzer »Faserhaufen«. Doch auch zwischen den Fasern aus dem Feuerzeug und den Vergleichsspuren aus der Zelle ergeben sich keine Übereinstimmungen. Das Feuerzeug muss an einer Stelle erhitzt worden sein, an der fremde Fasern in den Feuerzeugrest einschmelzen konnten. Das kann nicht in der Zelle Nr. 5 gewesen sein.
Nun setzt die Staatsanwaltschaft Dessau nach. Sie will wissen, ob die eingeschmolzenen, unverbrannten »Faserhaufen« von Polizeiuniformen des Landes Sachsen-Anhalt stammen. Sie holt bei dem Landeskriminalamt Baden-Württemberg im Jahr 2014 eine Expertise ein. Der Test auf Fasern der Uniformen verläuft negativ. Gleichzeitig aber wird festgestellt, dass sich nun auch an dem Feuerzeug nicht aus der Zelle stammende Faserbüschel und Tierhaare befinden.
»Bemerkenswert« sei – so der Gutachter mehr als neun Jahre nach dem Brand – »das Vorkommen von völlig verkohlten Textilresten und Feuerzeugteilen gemeinsam mit augenscheinlich gänzlich unversehrten Fasermaterialien, die zum Teil den verkohlten Textilresten und -bröckchen direkt aufgelagert waren. Wenn sich die unversehrten Fasern schon vor dem Brandgeschehen an den betreffenden, nunmehr verkohlten Teilen befunden hätten, müssten sie jetzt ebenfalls Hitzeschäden aufweisen«. Die nicht hitzegeschädigten Fasern müssten nach dem Brandgeschehen an die Textil- bzw. Feuerzeugreste gelangt sein. Die Frage sei, wie.

ERSTE ZWEIFEL BEI DER STAATSANWALTSCHAFT NACH 12 JAHREN

Über ein Jahrzehnt dauerte es, bis die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau Zweifel an ihrer These der Selbstentzündung bekam. Wiederholte Brandversuche hatten das Feuer, das Oury Jalloh innerhalb kürzester Zeit getötet und schwerste Verbrennungen verursacht hatte, nicht erklären können.
Oury Jalloh hatte kaum Ruß in der Lunge, Kohlenmonoxidwerte im Normbereich, keine Hinweise auf die Ausschüttung von Stresshormonen vor seinem Tod. Vor dem Sterben kann er kaum Rauch eingeatmet haben und sich nicht in einem Zustand der Angst, des Schreckens oder des Schmerzes befunden haben, denn all dies setzt das Stresshormon (Nor)Adrenalin frei.
Ein im Dezember 2013 vorgestelltes, im Auftrag der ›Initiative in Gedenken an Oury Jalloh‹ von einem britischen Brandsachverständigen erarbeitetes Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass das am 7. Januar 2005 vorgefundene Brandbild ohne Einsatz von mehreren Litern Brandbeschleuniger nicht erreichbar sei. Die Staatsanwaltschaft gab sich beeindruckt und sagte Prüfung zu.
Im August 2016 wurde im Auftrag der Staatsanwaltschaft ein neuer, presseöffentlicher Brandversuch zur Nachstellung des Zellenbrandes in einem Brandschutzlabor in Schmiedeberg auf dem Gelände einer ehemaligen Gießerei durchgeführt. Das Experiment wurde von einem Schweizer Brandsachverständigen geleitet. Rechtsmediziner und Toxikologen waren anwesend. Ein mit Mineralwolle ausgestopfter Dummy wurde mit Speck gepolstert und mit Schweinehaut überzogen. Eine feuerabweisende Matratze wurde aufgeschlitzt und der Polyurethanschaum angezündet. Doch das Feuer entwickelte sich nicht. Die für einen Tod durch Hitzeschock notwendige Hitze von 180 Grad Celsius entstand nicht schnell genug. Selbst nach 40 Minuten Brandeinwirkung – doppelt so lang wie in der Zelle Nr. 5 – gab es kein mit Dessau auch nur annähernd vergleichbares Brandbild. Erneut war ein Brandversuch erfolglos geblieben.

ZWEI STAATSANWÄLTE UND ACHT SACHVERSTÄNDIGE

Am 1. Februar 2017 trafen sich zwei Vertreter der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau mit insgesamt acht Sachverständigen der Fachrichtungen Brand, Rechtsmedizin und Toxikologie im Rechtsmedizinischen Institut in Würzburg, um die Schlussfolgerungen aus dem Brandversuch unter Berücksichtigung der bis dahin bereits vorliegenden rechtsmedizinischen Beweistatsachen zu diskutieren. Und siehe da, 12 Jahre nach dem Feuertod in der Zelle Nr. 5 kam ein Gremium mehrheitlich zu der Auffassung, dass Oury Jalloh nicht in der Lage gewesen sein konnte, das Feuer selbst zu entfachen. Zu wenig Ruß in der Lunge weise auf vielleicht ein bis zwei Atemzüge im Brandgeschehen hin. Der normale Kohlenmonoxidgehalt im Blut unterstütze den Befund. Stresshormone seien nicht nachweisbar gewesen. Oury Jalloh habe nicht laut geschrien, als das Feuer sich seinem Körper genähert habe. So wie bisher von der Staatsanwaltschaft angenommen, könne sich das Geschehen nicht abgespielt haben. Es müsse die These aufgestellt werden, dass Oury Jalloh bei Ausbruch des Feuers noch gelebt habe, allerdings so kurz, dass nicht angenommen werden könne, dass er die sehr kurze Zeit vor seinem Tod – vielleicht eine Minute – noch in der Lage gewesen wäre, die Matratze selbst anzuzünden, auf der er lag. Die bisherige Annahme, er sei in großer Hitze an einem inhalatorischen Hitzeschock gestorben, lasse sich nicht halten, weil in der zur Verfügung stehenden Zeit des Brandes am 7. Januar 2005 diese Temperatur nach allen Brandversuchen nicht erreicht werden konnte. Man müsse daher über einen Eingriff von fremder Hand nachdenken.
Zwei Wochen nach der Zusammenkunft legt die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau den Sachverständigen einen Katalog mit drei Fragen vor. Erstens: Kann Oury Jalloh auf Basis der Erörterungen in Würzburg nach Ausbruch des Feuers nur noch wenige Atemzüge gelebt haben? Zweitens: Ein Hitzeschock scheidet als Todesursache aus. Und drittens: Die Kurzzeitigkeit des Überlebens Oury Jallohs nach Ausbruch des Feuers ist mit der Annahme, er habe das Feuer selbst gelegt, unvereinbar. Die Mehrheit der Sachverständigen stimmt nach einer konstruktiven Auseinandersetzung der dritten These zu. Nun gibt es einen Anfangsverdacht wegen Mordes und der besonders schweren Brandstiftung mit Todesfolge. Die letzte These des Sachverständigenkreises ist, dass die Kleidung im Kopfbereich des Oury Jalloh mit 125 ml Feuerzeugbenzin benetzt und angezündet worden sein könnte.
Am 4. April 2017 schreibt der Leitende Oberstaatsanwalt von Dessau-Roßlau einen Vermerk. Der letzte Brandversuch und die nachfolgende Erörterung mit Medizinern habe ergeben, dass Oury Jalloh den Ausbruch des Feuers nur um wenige Atemzüge, allerhöchstens um eine Minute überlebt habe. In der Minute vor dem Entstehen des Feuers habe er nicht mehr über eine Handlungsfähigkeit verfügt, die ihm ein Entzünden des Feuers möglich gemacht habe. Der körperliche Befund schließe die Annahme eines Erschreckens und von Angst vor seinem Tod aus. Am wahrscheinlichsten sei daher ein Szenario, in dem Jalloh sich bereits im Zustand der Agonie befunden habe, als er mit einer geringen Menge von Brandbeschleuniger bespritzt wurde. Da Jalloh selbst über keinen Brandbeschleuniger verfügt habe und in der letzten Minute seines Lebens auch gar nicht in der Lage gewesen wäre, selbst ein Feuer zu entfachen, müsse sein Tod von dritter Hand verursacht worden sein. In rechtlicher Hinsicht bedeute das den Verdacht eines Tötungsdelikts. Motiv könne Verdeckungsabsicht angesichts einer im Zusammenhang mit dem Verbringen in das Polizeirevier entstandenen Gesichtsverletzung und des Hintergrunds gewesen sein, dass in den Jahren zuvor schon eine Person in der Zelle Nr. 5 verstorben war. Der Vermerk enthält einen Verdacht gegen konkret benannte Polizeibeamte.

RECHTSGERICHTETE MOTIVE

Die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau informiert den Generalstaatsanwalt des Landes Sachsen- Anhalt in Naumburg. Die fragt bei der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe um eine Verfahrensübernahme nach Eingang der neuen Gutachten an, doch dort lehnt man schon am 24. April 2017 ab. Bisher seien Belange des Staatsschutzes noch nicht so berührt, dass sich ausnahmsweise eine Zuständigkeit der Bundesjustiz ergebe. Eine erneute Vorstellung werde erbeten, wenn im weiteren Ermittlungsverlauf Umstände hervorträten, aus denen auf ein fremdenfeindliches oder sonst rechtsgerichtetes Motiv für eine vorsätzliche Inbrandsetzung geschlossen werden könne. Tatsächlich gibt es Hinweise auf einen rohen Umgang mit Festgenommenen in dem Polizeirevier. Noch am 7. Januar 2005 wird ein Gespräch zwischen zwei Beamten des Reviers aufgezeichnet, das den folgenden Wortlaut hat: »Hat sich einer aufgehangen oder was?« – »Nee, da brennt’s« – »Wieso?« – »Weiß ich nicht. Die sind da runtergekommen, da war alles schwarzer Qualm«. – »Ja, ich hätte fast gesagt, gut. Alles klar, schönes Wochenende. Ciao«.
Und es gab Hinweise auf Ausländerfeindlichkeit im Dessauer Revier. Im November 2011 berichtete ein Polizeibeamter dem Landgericht Magdeburg, einer der aus Stendal hinzugezogenen Kollegen habe ihm in einem Vier-Augen-Gespräch erklärt, man sei vom Innenministerium beauftragt worden, die Ermittlungen zu übernehmen und solle besonders hinschauen, weil die Kollegen aus Dessau schon öfter unangenehm im Zusammenhang mit ausländischen Bürgern aufgefallen seien. Er habe darüber einen Vermerk für die Polizeipräsidentin geschrieben. Die bestätigte als Zeugin im Mai 2012 das Vorhandensein eines Vermerks des Inhalts, dass Beamte aus Stendal mitgeteilt hätten, das Revier in Dessau sei für ausländerfeindliches Verhalten bekannt. Der Vermerk ist verschwunden.

ABZUG DER ERMITTLUNGEN

Einen Monat nach der Ablehnung der Übernahme der Ermittlungen durch die Generalbundesanwaltschaft geht bei der Staatsanwaltschaft Halle am 24. Mai 2017 ein Schreiben ein: Die weiteren Ermittlungen werden von Dessau abgezogen, die Staatsanwaltschaft Halle wird mit der Fortführung des Verfahrens beauftragt. Die stellt Ende August 2017, nach vier Monaten, das Verfahren mangels eines Tatverdachts gegen Dritte ein. Die Rechtsanwältinnen der Familie erhalten Einsicht in die Einstellungsverfügung. Unter der Überschrift »Prüfung eines Anfangsverdachts hinsichtlich der als Beschuldigte registrierten Polizeibeamten [folgen Namen der Beamten]« folgen zwei Seiten weißes Papier. Die gesamte Argumentation zum Tatverdacht ist gelöscht. Weiter geht es erst mit der Ausführung, die Staatsanwaltschaft Dessau habe mit Vermutungen und Spekulationen gearbeitet, die keinen Anfangsverdacht begründen könnten.
Nach Bekanntwerden der Einstellung durch die Staatsanwaltschaft Halle bricht ein öffentlicher Proteststurm los. Die Anwältinnen der Familie legen im Oktober 2017 Beschwerde gegen    die Einstellung ein und fordern die Vorlage einer nicht zensierten Abschlussverfügung. Die Innenministerin des Landes Sachsen-Anhalt verfügt nun, dass der Generalstaatsanwalt selbst die weitere Prüfung und Entscheidung über das Vorliegen eines Anfangsverdachts des Mordes zu übernehmen habe. Die Akten liegen nun in Naumburg. Auf die Anfang Januar 2018 übersandte Beschwerdebegründung der Anwältinnen der Familie Diallo mit der Aufforderung, die vollständige Einstellungsverfügung aus Halle zu übersenden, gab es bis zum Redaktionsschluss weder Eingangsbestätigung noch Reaktion.
Die Justizministerin ist im Fall Oury Jalloh unter Druck. Man sollte nicht annehmen, dass es ein eigenes Interesse der Behörden und der Politik des Landes Sachsen-Anhalt an der Aufklärung des Falles gibt. Zu viel Schmutz, zu viel Verschleppung und Vertuschung haben bereits die beiden gegen Polizeibeamte geführten Strafverfahren vor dem Landgericht Dessau und dem Landgericht Magdeburg zutage gefördert. Das Verfahren entwickelt sich so schleppend, weil die sachsen-anhaltinische Justiz nicht wahrhaben oder nicht zugeben will, dass am 7. Januar 2005 nach Abschalten sämtlicher rechtsstaatlicher Kontrollmechanismen, unter Missachtung des Richtervorbehalts, mit Wissen und Wollen von Polizeibeamten ein Mensch mitten am Tag in einem deutschen Polizeirevier durch Feuer zu Tode gebracht worden ist.

ÖFFENTLICHER DRUCK ALS AKT ZIVILGESELLSCHAFTLICHER KONTROLLE

Das Verfahren ist bisher nicht endgültig eingestellt worden, weil die ›Initiative in Gedenken an Oury Jalloh‹, weil seine Familie, weil viele Journalistinnen und Journalisten im In- und Ausland sowie Abgeordnete im Landtag von Sachsen-Anhalt die Wahrheit erfahren wollen und nicht aufhören nachzufragen, nicht aufhören, sich gegen opportunistische Entscheidungen der Staatsanwaltschaft zu beschweren.
Ende Januar 2018 gründete sich in Berlin eine ›Internationale Unabhängige Untersuchungskommission‹ im Fall Oury Jalloh. Juristinnen und Juristen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Italien, Frankreich, dem Senegal, der Republik Côte d’Ivoire, aus Österreich, Großbritannien und Deutschland halten den Fall Jalloh für symptomatisch für eine sich international häufende Anzahl von teils tödlichen Übergriffen auf People of Colour, Migrantinnen und Migranten sowie gesellschaftlich benachteiligte Personen durch Angehörige der Polizei. Zivilgesellschaftliche Kontrolle sei dringend erforderlich.

Gabriele Heinecke ist Rechtsanwältin in Hamburg und RAV-Vorstandsmitglied; sie vertritt die Nebenklagenden im hier beschriebenen Verfahren.