Sie sind hier: RAV > PublikationenInfoBriefeInfoBrief #115, 2018 > In Sachen Aufklärung der NSU-Verbrechen

In Sachen Aufklärung der NSU-Verbrechen

KEIN VERTRAUENSVORSCHUSS FÜR DIESEN RECHTSSTAAT

Angelika Lex

Das Buch ›Kein Schlusswort. Nazi-Terror. Sicherheitsbehörden. Unterstützernetzwerk‹, aus dem dieser Nachdruck stammt, »sollte auch ein Plädoyer unserer Kollegin und Freundin Angelika Lex enthalten. Leider konnte Angelika das Ende des Prozesses, in dem sie die Witwe des vom NSU ermordeten Theodoros Boulgarides vertreten hat, nicht erleben. Viele von uns haben Angelika erst anlässlich des NSU-Prozesses kennengelernt. Wir stellten schnell fest, dass wir gemeinsame Vorstellungen über die Führung der Nebenklage im Prozess hatten, und so entwickelte sich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und auch Freundschaft«, heißt es zur Einleitung.(1) Und weiter:
»Angelika brachte aufgrund ihrer jahrzehntelangen politischen und insbesondere antifaschistischen Arbeit in München, ihrer anwaltlichen Tätigkeit und Stellung als bayrische Verfassungsrichterin auf allen für die Arbeit der Nebenklage wesentlichen Gebieten entscheidende Erfahrung mit und war maßgeblich für das Gelingen unserer Arbeit. Sie übernahm am Anfang des Prozesses den Kontakt zur Justiz in Bezug auf die Belange der Nebenklage und hatte wesentlichen Einfluss auf die Ausrichtung unserer Arbeit im Verfahren. Auch noch nachdem sie 2014 schwer erkrankt war, hat sie mit uns zusammen den Prozess durch Fragen, Anträge und Stellungnahmen aktiv mitbestimmt. Sie hat bis zuletzt den Kampf gegen Rassismus und Faschismus und für eine gerechtere Welt nicht aufgegeben. Noch am 11. November 2015 hat sie anlässlich ihrer Auszeichnung mit dem Georg Elser-Preis der Stadt München eine sehr humorvolle, aber vor allem sehr kämpferische Rede gehalten, in der sie ein Zwischenfazit zum Stand des NSU-Prozesses zog und die mangelnde Aufklärung thematisierte [diese Rede ist im RAV InfoBrief #112 dokumentiert]. Unsere Freundin Angelika ist am 9. Dezember 2015 gestorben. Wir veröffentlichen an dieser Stelle den Text einer Rede, die sie auf der Demonstration ›Greift ein gegen Naziterror, staatlichen und alltäglichen Rassismus – Verfassungsschutz abschaffen!‹ am 13. April 2013, kurz vor Beginn des Münchener NSU-Prozesses, gehalten hat. In dieser Rede benennt Angelika Lex sehr klar die Themen, die die Nebenklage in den nächsten Jahren immer wieder thematisieren würde und die auch im Zentrum der in diesem Buch abgedruckten Plädoyers stehen: Netzwerkcharakter des NSU und staatliche Mitverantwortung wegen der rassistischen Ermittlungsmethoden der Polizei und der Rolle des Verfassungsschutzes.«

Liebe Freundinnen und Freunde,

in vier Tagen beginnt vor dem Oberlandesgericht München, hier in dem Gerichtsgebäude, das hinter uns steht, der Prozess gegen Beate Zschäpe und einige wenige Helfer des NSU. In der Anklageschrift werden Zschäpe zehn Morde, ein Mordversuch, zwei Sprengstoffanschläge mit zweiundzwanzig Mordversuchen und zehn Raubüberfällen, besonders schwere Brandstiftung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Bei den übrigen Angeklagten lautet die Anklage auf Beihilfe zum Mord bzw. Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.
Diese Gerichtsverhandlung ist neben den Untersuchungsausschüssen des Bundes und der Länder und der politischen Diskussion in der Öffentlichkeit ein Teil der Aufarbeitung einer Verbrechensserie. Die Ermittlungsbehörden haben sich diesmal große Mühe gegeben. Und auch das Gericht hat eine enorme Aufgabe. Es geht nicht nur um die Feststellung der Schuld der Angeklagten und deren Bestrafung, sondern es geht auch um eine umfassende Aufklärung der Taten und vor allem der Hintergründe. Das Gericht ist zwar kein Super-Untersuchungsausschuss, aber es darf sich auch nicht damit begnügen, nur die Sachverhalte aufzuklären, ohne die Hintergründe und auch das massive staatliche Versagen mit einzubeziehen. Das Gericht hätte in diesem Verfahren die einmalige Chance, zu zeigen, dass der Rechtsstaat entschlossen ist, auch das Versagen in den eigenen Reihen, staatliches Versagen, staatliche Mitwirkung an terroristischen Verbrechen offenzulegen und umfassend aufzuklären und damit auch zu versuchen, Vertrauen in staatliches Handeln wieder herzustellen, das bei den Opfern und Angehörigen und auch in breiten Teilen der Bevölkerung zu Recht verloren gegangen ist.
Aber bereits im Vorfeld gibt es viele Anzeichen dafür, dass das Gericht der politischen Dimension und auch der gesellschaftlichen Bedeutung dieses Verfahrens nicht gewachsen ist. Der viel zu kleine Sitzungssaal, der praktische Ausschluss des türkischen Botschafters und vor allem der türkischen Medien aus dem Verfahren zeigt die mangelnde Sensibilität, mit der nach wie vor mit diesen Verbrechen und mit den Opfern und Angehörigen umgegangen wird.
Erst durch das Bundesverfassungsgericht wurde gestern in letzter Minute die Entscheidung des Münchener Gerichts korrigiert, weil es erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken hatte, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Grundrechts auf Pressefreiheit und Gleichbehandlung beruht. Mir ist kein einziger Fall bekannt, in dem ein Richter sich eine derart vernichtende Schelte des Bundesverfassungsgerichts anhören hätte müssen, bevor auch nur der erste Prozesstag angefangen hat.

Es wird unsere Aufgabe sein, die Aufgabe der Anwältinnen und Anwälte der Opfer und Angehörigen, in diesem Verfahren transparent zu machen und aufzuarbeiten, was in diesem Staat alles schief gelaufen ist, was versäumt worden ist und in welchem Maß sich der Staat damit schuldig gemacht hat. Angeklagt sind hier fünf Menschen, die aber keineswegs alleine Täter dieser Morde und Sprengstoffanschläge sind, sondern es sind nur exponierte Mitglieder eines Netzwerkes, das aus weit mehr als diesen fünf Angeklagten besteht. Es gibt immer noch viel zu wenig Ermittlungsverfahren gegen lokale Unterstützernetzwerke und es gibt keine Ermittlungsverfahren gegen staatliche Helfer und Unterstützer, die V-Leute des Bundesverfassungsschutzes sind.
Und es fehlt vollständig an Verfahren gegen Ermittler, gegen Polizeibeamte, gegen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, gegen Präsidenten und Abteilungsleiter von Verfassungsschutzbehörden. Verfahren, die nicht nur wegen Inkompetenz und Untätigkeit, sondern auch wegen aktiver Unterstützung geführt werden müssten. Auf diese Anklagebank gehören nicht fünf, sondern 50 oder noch besser 500 Personen, die alle mitverantwortlich sind für diese Mordtaten.
Sie sind verantwortlich nicht nur, weil sie sie nicht verhindert haben, sondern auch, weil sie nichts getan haben, um sie aufzuklären, aber auch, weil sie aktiv mitgewirkt und unterstützt haben. Damit haben sie unsägliches Leid über die Angehörigen der Mordopfer und Verletzten gebracht. Die Ermittlungsbehörden haben die Angehörigen nicht als Opfer von rassistischen Gewalttaten wahrgenommen, sondern sie kriminalisiert und diffamiert. Sie wurden als Beteiligte an kriminellen Machenschaften gesehen, die angeblich in organisierte Kriminalität, in Banden- und Rauschgiftgeschäfte, in Prostitution verstrickt waren. Nur weil im rassistischen Weltbild dieser Ermittler schlicht nicht vorkam, dass Menschen nichtdeutscher Herkunft Opfer rassistischer Gewalt werden.
Wenn der Leiter der Münchener Mordkommission das vollständige Versagen der Behörde damit rechtfertigt, dass es keinerlei Hinweise auf rassistische Taten gegeben hätte, dann spiegelt das genau die Inkompetenz und das Versagen wider, so wie wir es seit langem kennen. Rassistische Taten, rassistische Morde werden verleugnet, negiert, verdrängt, auf bloße Einzeltäter reduziert, aber nicht als das wahrgenommen, was sie sind, nämlich rassistische Taten straff organisierter rechtsradikaler und rechtsterroristischer Strukturen, die auch gerade in München immer wieder aktiv geworden sind.
Schon 1980 beim Anschlag auf das Oktoberfest wurden keine ernsthaften Ermittlungen geführt. Trotz vieler Hinweise wurde der Anschlag als die Tat eines wirren Einzeltäters verkauft. Bis heute gilt, was man politisch nicht wahrhaben will, wird negiert und verleugnet. Beweismittel werden unterschlagen, geschreddert und vernichtet. Eine solche Verfahrensweise werden wir hier in diesem Verfahren nicht hinnehmen.
Wir fordern umfassende Aufklärung der Sachverhalte: nicht nur der Tatbeiträge der jetzt Angeklagten, sondern umfassende Aufklärung auch über die gesamten Strukturen. Wir wollen Aufklärung über die Hintermänner und -frauen, die die Taten erst ermöglicht haben. Wir wollen Aufklärung, wer daran beteiligt war, die Opfer auszuwählen, die Tatorte auszuspionieren, die Fluchtwege zu sichern, Unterschlupf zu gewähren. Wir werden in diesem Verfahren nicht zulassen, dass die Aufarbeitung darauf beschränkt wird, die Verantwortung ausschließlich einigen Einzeltätern zuzuschreiben und alle anderen ungeschoren davonkommen zu lassen. Das sind wir den Opfern und Angehörigen schuldig!
Die Wahrheit herauszufinden und sich nicht mit der Oberfläche und der einfachen Erklärung zufrieden zu geben, sondern in die Tiefe zu gehen, in die Abgründe zu schauen. Davor haben die Ermittler, die angeblichen Verfassungsschützer und die vielen staatlichen Stellen bislang die Augen verschlossen, weil man nicht wahrhaben will, was längst Wirklichkeit ist, dass ein weites rechtsterroristisches Netzwerk unbehelligt von polizeilichen Ermittlungen und mit logistischer, finanzieller und möglicherweise auch direkter personeller Unterstützung staatlicher Stellen tätig war und über ein Jahrzehnt mordend durch Deutschland gezogen ist.
Dieses Versagen und auch das aktive Tun staatlicher Stellen ist der Beweis dafür, dass vor allem der sogenannte Verfassungsschutz in diesem Land keine Daseinsberechtigung hat.
Wir werden in diesem Prozess dafür sorgen, dass das enorme Versagen dieser Behörde nicht weiter vertuscht, sondern offengelegt wird, und wir werden fordern, dass daraus die einzige denkbare Konsequenz gezogen wird, nämlich die Abschaffung des Verfassungsschutzes jetzt und sofort.
Alle rechtlichen Vertreterinnen und Vertreter der Nebenkläger: Wir wünschen den Angehörigen und Opfern viel Kraft und natürlich das Verfahren durchzustehen. Wir hoffen auf die kritische Öffentlichkeit und einen langen Atem, um die Skandale weiter aufzuklären. Wir freuen uns auf gute Zusammenarbeit mit den Recherchegruppen und der investigativen Presse. Denn auf dieses Gericht alleine wollen wir uns nicht verlassen, denn einen Vertrauensvorschuss für diesen Rechtsstaat, dass er dieses dunkle Jahrzehnt alleine aufarbeitet, den gibt es von uns nicht!
Vielen Dank!

Angelika Lex war Rechtsanwältin in München und aktives RAV-Mitglied.

(1) Der Titel des Beitrags wurde von der InfoBrief-Redaktion leicht verändert. Die Demonstration in München zum Auftakt des NSU-Prozesses unterstützten rund 200 Gruppen und Initiativen, darunter der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. und die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. Die Demonstrationsroute ging vorbei an der Schillerstraße, dem Oktoberfestmahnmal, dem Stiglmaierplatz – auf dem Angelika Lex unweit des Justizzentrums Nymphenburgerstraße, wo der Prozess verhandelt werden sollte, ihre Rede hielt –, dem Königsplatz und dem Innenministerium. An der Demonstration nahmen 7.000 bis 10.000 Menschen teil; damit war dies die größte antirassistische Demonstration in München seit 20 Jahren. Angelika Lex sprach nicht nur auf der Demonstration, sondern war als Anwältin maßgeblich an deren Organisation und Gelingen beteiligt. Weitere Redner*innen waren Yvonne Boulgarides und Ibrahim Arslan, ein Überlebender des Brandanschlags von 1992 in Mölln.