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›Gefährliche Orte‹, ›Unendlichkeitshaft‹ und ›drohende Gefahr‹

BAYPAG ZUM BAYRISCHEM INTEGRATIONSGESETZ

Yunus Ziyal

Das Jahr 2017 ist zu Ende gegangen – und es brachte mehrere Verschärfungen des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) mit sich, von denen auf zwei in diesem Beitrag hingewiesen werden soll. Die Gefahr ist – wie so oft –, dass das polizeifreundliche Bayern bundesweiter Vorreiter ist.
Im Zuge des sog. Bayerischen Integrationsgesetzes vom 13.12.2016 wurde in Art. 13 Abs. 1 Nr.  2 lit. c) BayPAG die Ermächtigung ergänzt, die Identität von Personen festzustellen, die sich an einem Ort aufhalten, »der als Unterkunft oder dem sonstigen, auch vorübergehenden Aufenthalt von Asylbewerbern und unerlaubt Aufhältigen dient«. Das heißt nichts anderes, als dass die Polizei in Unterkünften für Geflüchtete jederzeit und ohne, dass es zusätzlicher Voraussetzungen bedürfte, Kontrollen durchführen darf.
Nicht nur die Identitätsfeststellung wurde entsprechend ergänzt, sondern auch Art. 23 BayPAG. Der regelt das Betreten von Wohnungen. Normalerweise ist dies nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Außer – so die Neuregelung – die Wohnung ist ein gefährlicher Ort, welche auch hier nun »zur Abwehr dringender Gefahren jederzeit betreten werden [darf], wenn […] 3. sie als Unterkunft oder dem sonstigen […] Aufenthalt von Asylbewerbern […] dient«.

DIE POTENTIELLE GEFÄHRLICHKEIT DES ORTES SELBST

Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Rechtmäßigkeit der Polizeimaßnahme ist nunmehr, dass keine polizeiliche Gefahr von oder für Personen oder Sachen vorliegen muss, sondern die potentielle Gefährlichkeit des Ortes selbst. Gefährliche Orte kannte das BayPAG zwar schon vorher. Neben Orten, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte für den Bezug zu Straftaten oder -tätern vorliegen, waren Orte, an denen »Personen der Prostitution nachgehen«, genannt. Davon mag man ohnehin nicht viel halten – dass Geflüchtetenunterkünfte sich nun in einer solchen Reihe befinden, hat neben dem Ausbau des Kontrollstaats (mit xenophober Implikation) Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten zur Folge. Die reagierten auch schon und berichten mit Genugtuung, dass Flüchtlingsheime für Polizei offiziell ›gefährliche Orte‹ und ›No-Go-Areas‹ seien.(1)
In der Begründung zur Gesetzesnovelle wurde v.a. auf einen angeblichen Anstieg von Straftaten im Zusammenhang mit Unterkünften Geflüchteter abgestellt. Dabei wird weder angemessen berücksichtigt, dass sich solche Straftaten oftmals gegen Asylsuchende richten, noch wird diese Behauptung mit hinreichendem Zahlenmaterial unterlegt. Der Gesetzgeber rekurriert weiter auf die Schleierfahndungsbefugnisse zur verdachtsunabhängigen Kontrolle im Grenzbereich (13. Abs. 1 Nr. 5 BayPAG). Die polizeilichen Kapazitäten in Grenznähe reichten nicht aus – Schuld sei die sog. ›Flüchtlingskrise‹
Eine Kontrolle im Rahmen einer Schleierfahndung ist wesentlich weniger eingriffsintensiv,(2) als eine Kontrolle in der eigenen Wohnung oder deren Durchsuchung. Die Zahlen der ankommenden Schutzsuchenden waren zudem lediglich während eines äußerst kurzen Zeitraums sehr hoch und Kapazitätsprobleme der Polizei sollten nicht mit Ausweitung der Befugnisse beantwortet werden.
Das Ergebnis bisher: Außer einer überschaubaren Zahl von ›Fremdschläfern‹ blieben – soweit man es überblicken kann – die Razzien weitgehend ohne Ergebnis. Stattdessen werden Einschüchterung und mögliche Retraumatisierung der Bewohner*innen als Folgen dieser Maßnahmen hingenommen. Damit ist der angerichtete Schaden, die massive Verunsicherung und Verängstigung der Bewohner*innen, deutlich größer als ein denkbarer Nutzen. Der Bayerische Flüchtlingsrat kritisiert die Einstufung von Unterkünften als gefährliche Orte: »Bewohner*innen von Flüchtlingsunterkünften sind gefährdet, nicht gefährlich. Die Massenunterkünfte perpetuieren Retraumatisierungen, und halten die Bewohner*innen in einem krankmachenden Status der Unsicherheit. Dazu tragen Polizeirazzien erheblich bei«.
Dem kann man nur zustimmen. Der bedeutendste Faktor sowohl für eine möglicherweise tatsächlich gestiegene Anzahl von Rohheitsdelikten in Unterkünften ist zweifellos der Lagercharakter, der gerade in Bayern mit den ›Abschiebelagern‹ Manching und Bamberg mit vielen hundert Bewohner*innen, vorherrscht. In diesen Lagern ist die Situation besonders drastisch. Aber auch in Unterkünften mit ›lediglich‹ mehreren Dutzend Bewohner*innen, die unter großer Anspannung, Frustration und teils (behördlich erzeugter) Perspektivlosigkeit leben, sind Konflikte und Spannungen nichts Überraschendes. Wer Straftaten verringern will, sollte Massenunterbringung abschaffen. Bei den Neuerungen im BayPAG durch das Integrationsgesetz ging es nicht um die Bekämpfung von Kriminalität, sondern um die Ausweitung des Kontroll- und Sicherheitsstaats und die Stigmatisierung Geflüchteter durch die bayerische Staatsregierung.

DIE ›DROHENDE GEFAHR‹

Weniger plakativ, dafür polizeirechtlich wohl noch bedeutender war die Einführung der sog. ›drohenden Gefahr‹ durch das »Gesetz zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen« – kurz »Gefährdergesetz«. Mit diesem Gesetz wurden u.a. die medial weit beachtete Elektronische Fußfessel eingeführt und v.a. die Höchstgrenze des Unterbindungs- oder Vorbeugegewahrsams schlicht abgeschafft. Schlimm genug, befreite der Gesetzgeber die bayerischen Polizeibeamt*innen darüber hinaus auch noch von der lästigen Pflicht, erst tätig werden zu können, wenn tatsächlich eine konkrete Gefahr eintrat, also ein Zustand, der »bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung der Schutzgüter führt«. Denn nun gibt Art. 11 Abs. 3 BayPAG die Möglichkeit, Maßnahmen zu treffen um »die Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut zu verhindern, wenn im Einzelfall 1. das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet oder 2. Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen, wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung zu erwarten sind (drohende Gefahr)«.
Damit wurde die Eingriffsbefugnis der Polizei zeitlich weit vorverlagert und die Anforderungen an den möglichen Kausalverlauf verringert. Es braucht keine Verletzung eines Rechtsguts mehr bevorstehen, sondern nur noch die Wahrscheinlichkeit der Schutzgutverletzung. Das sei auch verfassungsgemäß, so die Gesetzesbegründung mit Verweis auf das Urteil des BVerfG zum BKA-Gesetz vom 20. April 2016.(3) Der bayerische Gesetzgeber entnimmt daraus, dass er »nicht von vornherein auf das tradierte sicherheitsrechtliche Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren beschränkt ist, sondern dass er die Grenzen ggf. auch weiter ziehen kann, indem er die Anforderungen an den Kausalverlauf reduziert«.(4)
Soweit tatsächlich die Entscheidung aus Karlsruhe – nur: Dieses BVerfG-Urteil beschäftigt sich explizit mit sog. terroristischen Bedrohungen. Wenn eine „Terrorgefahr“ konkret vorliegt, kann es nach dem Urteil auch unterhalb der konkreten Gefahr Kriterien für hoheitliches Einschreiten geben. Zudem beschäftigte sich das BVerfG  mit Maßnahmen zur Informationsgewinnung, nicht  mit Eingriffsbefugnissen zur Gefahrenabwehr. Das ist aber etwas ganz anderes, als das, was die bayerische Regelung der Polizei nunmehr schon beim Vorliegen einer nur drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut einräumt: nämlich gleich eine ganze Reihe von Standardbefugnissen.
Problematisch an dem Begriff der ›drohenden Gefahr‹ ist nicht zuletzt dessen Unbestimmtheit und der Verzicht auf konkrete Tatsachen, wenn auf das »Verhalten einer Person« und eine »konkrete Wahrscheinlichkeit« abgestellt werden soll. In Verbindung mit der bereits erwähnten ›Unendlichkeitshaft‹, kann also ein*e Polizist*in aufgrund einer Wahrscheinlichkeit (wie soll man die überprüfen?) entscheiden, dass von jemand eine Gefahr ausgehen könnte – und Inhaftierung anordnen. Richter*innen dürfen dann alle drei Monate entscheiden, ob die drohende Gefahr, die laut Polizei von der Person ausgeht, immer noch vorliegt. Theoretisch ohne zeitliche Grenze.
Was bei einer ›drohenden Gefahr‹ noch möglich ist? Neben dem erwähnten ›Unendlichkeitsgewahrsam‹ (Art. 17 BayPAG) wären da:

  • Identitätsfeststellung (Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 b BayPAG) Erkennungsdienstliche Behandlung (Art. 14 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BayPAG)
  • Durchsuchungen von Personen und Sachen (Art. 21 Abs. 1 Nr. 3 und Art. 22 BayPAG)
  • Platzverweis, Aufenthaltsverbot und -gebot, sowie Kontaktverbot (Art. 16 BayPAG)
  • Bild- und Tonaufnahmen bei Veranstaltungen (Art. 32 BayPAG)
  • Elektronische Fußfessel (Ar. 32a BayPAG)
     

Die Praxis wird zeigen, wie bayerische Polizist*innen ihre neuen Befugnisse handhaben. In polizeilichen Standardsituationen können sie nun noch mehr als ohnehin das tun, was ihnen zweckmäßig erscheint – die Eingriffsbefugnis kann herbeiorakelt werden. Die drohende Gefahr, zumindest für Bürgerrechte, geht vom bayerischen Staat aus – einmal mehr.

Yunus Ziyal ist Rechtsanwalt in Nürnberg und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV; (Zwischen)Überschriften wurden von der Redaktion eingefügt.

Fußnoten

(1) Vgl. AfD KV Regensburg am 13.11.2017 auf Facebook; Journalistenwatch.com (rechtspopulistischer Blog), 13.11.17; casten-huetter.de (AfD, MdL Sachsen) am 14.11.2017.
(2) Vgl. BayVerfGH, NVwZ 2003, 1375, 1377.
(3) Az. 1 BvR 966/09 und 1 BvR 1140/09 (BKAG-Urteil).
(4) Entwurf eines Gesetzes zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen, S. 13.