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»Wir spielen Gerechtigkeit«(1)

PROZESSBEOBACHTUNG DES RAV IM KCK-ANWALTSVERFAHREN

FRANZISKA NEDELMANN

Gemäß Artikel 16 der ›UN-Grundprinzipien betreffend die Rolle der Rechtsanwälte‹ vom 7. September 1990 hat der Staat sicherzustellen, dass Anwältinnen und Anwälte in der Lage sind, alle ihre beruflichen Aufgaben ohne Einschüchterung, Behinderung, Schikanen oder unstatthafte Beeinflussung wahrzunehmen. Dies nicht ohne Grund. Die Freiheit in der Berufsausübung gerade von Strafverteidigerinnen und Strafverteidigern ist immer auch ein Indikator dafür, wie es um die Freiheitsrechte jedes Einzelnen in einem Land bestellt ist. Die gezielte Repression, die in der Türkei seit einigen Jahren die Anwaltschaft und andere Berufsstände trifft, wird in der internationalen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Im Gegenteil wird gerne auch vor deutschen Gerichten angeführt, dass ›erfreuliche‹ Gesetzesreformen zu einer erheblichen Verbesserung des türkischen Justizsystems geführt und damit Menschenrechtsverletzungen eingedämmt hätten. Dass dies mit der Praxis insbesondere in den sog. Antiterrorverfahren nichts zu tun hat, zeigt beispielhaft das sog. KCK-Anwaltsverfahren, das vom RAV beobachtet wird.

  Im April 2009 setzte die türkische Justiz eine seit den 1990er Jahren einmalige Repressionswelle gegen zumeist kurdische Politiker, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Gewerkschafter und Anwälte in Gang: die sog. KCK-Operation. ›KCK‹ steht für ›Union der Gemeinschaften Kurdistans‹ (Koma Civakên Kurdistan), ein auf Initiative des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan gebildeter Dachverband, der von Justiz und Sicherheitsbehörden als städtischer Arm der PKK, also als terroristische Vereinigung, bewertet wird. Unter dem Vorwurf, Mitglied in der KCK zu sein, waren im Jahr 2013 laut dem Jahresbericht der Stiftung für Menschenrechte in der Türkei (TIHV) 2.892 Menschen angeklagt. 1.302 von ihnen befanden sich 2013 noch in (Untersuchungs-)Haft. Alles Terroristen?

ANGRIFF AUF DIE ANWALTSCHAFT

Eines dieser Massenverfahren richtet sich gegen 46 AnwältInnen sowie vier NichtjuristInnen, die mit einem der Anwaltsbüros in Verbindung stehen. Den KollegInnen wird formal der Verstoß gegen Art. 314 Abs. 1 und Abs. 2 tStGB vorgeworfen, also die Mitgliedschaft bzw. Führungsposition in einer militärisch bewaffneten Organisation. Tatsächlich ist Gegenstand des Vorwurfs ihre originäre anwaltliche Tätigkeit, insbesondere im Rahmen der Verteidigung und Haftbetreuung von Abdullah Öcalan, den fast alle in der Haft besucht hatten. Das Verfahren basiert auf koordinierten Razzien der Anwaltsbüros in der gesamten Türkei und einer Massenfestnahme von 36 Anwältinnen und Anwälten am 22. November 2011.
  Die Anklageschrift trägt auf gut 900 Seiten Aufzeichnungen von beruflichen Kontakten, Sitzungen und Haftbesuchen zusammen, sämtlich Material, das auch nach dem türkischen Strafprozessrecht einem Beweisverwertungsverbot unterliegt. Konkrete Tatvorwürfe gegen die einzelnen KollegInnen lassen sich hierin nicht finden. Nach Aussage des Istanbuler Strafverteidigers Ercan Kanar trägt diese Anklageschrift eher die Züge eines politischen Pamphlets als die eines an Straftatbeständen orientierten Vorwurfs. Zu Recht: Die angeklagten KollegInnen sollen quasi als ›Sprachrohr‹ Abdullah Öcalans geheime Befehle aus der Haft nach Außen getragen haben. Ein absurder Vorwurf, werden doch sämtliche Anwaltsgespräche mit Öcalan durch Sicherheitskräfte überwacht, auf Video aufgezeichnet und die Verteidigernotizen kopiert.

SONDERGERICHTE: VERWIRRSPIEL DER ZUSTÄNDIGKEITEN

Die Anklage wurde im April 2012 bei einem Sondergericht für Schwere Straftaten in Istanbul erhoben, das gem. Art. 250 ff. der türkischen Strafprozessordnung für Staatsschutzdelikte zuständig war und seit 2005 die alten Staatssicherheitsgerichte abgelöst hatte. Im Juli 2012, noch vor Beginn der Hauptverhandlung, wurden diese mit Sonderbefugnissen (Einschränkung der Rechte der Angeklagten, erweiterte Ermittlungsbefugnisse) ausgestatteten Gerichte aus politischen Gründen wiederum abgeschafft und durch Kammern ersetzt, die nach Art. 10 des türkischen Antiterrorgesetzes für mehrere Provinzen zuständig und den Gerichten für schwere Straftaten angegliedert sind.(2) Dennoch wurde das Verfahren formell vor dem – eigentlich bereits abgeschafften – Sondergericht, zuständig nach Art. 250 ff. der tStPO, eröffnet. Die diesbezüglichen Rügen der Verteidigung blieben erwartungsgemäß unbeachtet, die Angeklagten weiterhin in Haft.
  Im März 2014 trat nun eine weitere Gesetzesänderung in Kraft.(3) Im Rekordtempo hat Erdogan, nachdem die Justiz auch ihn und einige seiner Minister wegen Korruptionsfällen ins Visier genommen hatte, ein neues Gesetz verabschieden lassen, mit dem die Sonderkammern für Staatsschutzsachen gem. Art. 10 des türkischen Antiterrorgesetzes vollends abgeschafft wurden. Schwebende Verfahren wurden anderen, ordentlichen Kammern für schwere Straftaten übergeben und die an den Sondergerichten beschäftigen Richter und Staatsanwälte wurden binnen zehn Tagen durch den Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) an für sie angemessene Kammern versetzt.
  Die nunmehr zuständige, neue Strafkammer des ›Gerichts für Schwere Straftaten‹ in Istanbul muss jetzt also ein Verfahren fortführen, in dem seit Juli 2012 neun Hauptverhandlungstage unter Maßgabe des Antiterrorgesetzes stattgefunden haben. Für die Beobachterdelegation ein undenkbarer Vorgang: Wie soll ein Gericht in einem Verfahren zu einem Urteil kommen, das es zu großen Teilen selbst gar nicht geführt hat? Und unter welchen Vorgaben?
  Zunächst hat die neu zuständige Kammer am 18. März 2014 den für den 8. April 2014 anberaumten Fortsetzungstermin aufgehoben und die längst überfällige Entscheidung getroffen, die letzten zehn AnwältInnen, die seit dem 22. November 2011 inhaftiert waren, aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Die Freude über die Freilassung der Kolleginnen und Kollegen sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit keineswegs das Verfahren beendet ist. Denn die Haftentlassungen erfolgten nicht etwa, weil der dringende Tatverdacht verneint oder erhebliche Mängel im Verfahren festgestellt wurden. Das Gericht führte zur Begründung lediglich aus, dass eine Fluchtgefahr nicht mehr gegeben sei und dass das Gericht nun erst einmal Zeit brauche, um sich in das neue Verfahren einzuarbeiten.
  Von Rechtssicherheit für die Kolleginnen und Kollegen kann daher keine Rede sein. Der Prozess soll am 12. November 2014 fortgesetzt werden. Alle Angeklagten sind mit einem Ausreiseverbot belegt. Sie wissen nicht, ob sie nicht jederzeit wieder inhaftiert werden können. Und dies, obwohl die Verfahrensmängel gravierender kaum sein könnten. Während des neunten Hauptverhandlungstages am 19. Dezember 2013 kommentierte die Verteidigerin Oya Aydin, dass dieses Verfahren einem Theaterstück gleichkomme, in dem die Verteidigung versuche, »Gerechtigkeit zu spielen«, obwohl sich das Gericht schon lange von den Verfahrensregeln verabschiedet habe: So wurde eine vollkommen unbestimmte, auf rechtswidrig erlangten Beweismitteln basierende Anklage zugelassen, das Verfahren gegen die Anwaltschaft ohne die dafür gesetzlich erforderliche Genehmigung vor einem abgeschafften Gericht eröffnet, das Akteneinsichtsrecht der Verteidigung missachtet, Anträge der Verteidigung gar nicht erst beschieden oder aber ohne individuelle Begründung abgelehnt, das Beschleunigungsgebot missachtet, etc. Die Liste ließe sich beliebig weiterführen. Und dennoch ist der Ausgang ungewiss.
  Optimistisch könnte man hoffen, dass sich die nun zuständige ordentliche Kammer des Gerichts für Schwere Straftaten – im Gegensatz zu der Sonderkammer nach Art. 250 ff. tStPO, bzw. Art. 10 des tATG – zumindest dem geltenden Recht verpflichtet fühlen wird. Die einzig dann denkbare Entscheidung wäre die sofortige Verfahrenseinstellung wegen unheilbarer Verfahrensmängel. Dies ist bisher jedoch noch nicht geschehen. Und so schnell, wie derzeit in der Türkei neue Gesetze erlassen werden, um missliebige Personen oder Bewegungen mundtot zu machen, kann auch von einer materiell-rechtlichen Sicherheit nicht ausgegangen werden. Umso wichtiger ist es, dass die Beobachtung des Verfahrens im Rahmen der internationalen Delegation fortgeführt und die sofortige Einstellung der Verfahren öffentlich gefordert wird.

KEIN ENDE IN SICHT

Die Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, die nun aus der Haft entlassen wurden (auch in dem Strafverfahren gegen den ›Fortschrittlichen Anwaltsverein‹ ÇHD sind die neun zuletzt noch inhaftierten KollegInnen freigelassen worden), haben viel zu tun:
  So ist beispielsweise im April 2014 erneut Anklage gegen 18 Anwältinnen und Anwälte in Izmir erhoben worden. Ihnen wird ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz vorgeworfen: Sie hatten im September 2013 anlässlich einer Ansprache des Präsidenten des Regionalgerichts in den Räumen des Gerichts Transparente hochgehalten und Sprechchöre gerufen, mit denen sie die Freilassung ihrer inhaftierten KollegInnen aus dem KCK-Anwaltsverfahren und dem ÇHD-Verfahren forderten. Sie werden nun auch von den KollegInnen verteidigt, deren Freilassung sie 2013 forderten.
  Der Versuch, die Anwaltschaft in der Türkei durch Kriminalisierung ihrer beruflichen Tätigkeit zu schwächen und damit unliebsame Kritiker der Regierungspolitik mundtot zu machen, ist bisher gescheitert. Eine für deutsche Verhältnisse unvorstellbare Solidarität innerhalb der Anwaltschaft in der Türkei war nicht nur während der Gezi-Proteste zu beobachten, als mehrere tausend AnwältInnnen gegen die Inhaftierung ihrer KollegInnen protestierten. Auch am Vorabend des Prozessauftakts in dem Verfahren gegen die ÇHD-AnwältInnen protestierten im Dezember 2013 in Istanbul circa 2.000 AnwältInnen und forderten deren sofortige Freilassung. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. 

Franziska Nedelmann ist Rechtsanwältin und Vorstandsmitglied im RAV.

Fußnoten

(1) Strafverteidigerin Oya Aydin am 9. Hauptverhandlungstag im ›KCK-Verfahren‹ gegen die Anwältinnen und Anwälte am 19. Dezember 2013.
(2) Sowohl die Richter als auch die Staatsanwälte an diesen Gerich­ten werden vom Hohen Rat für Richter und Staatsanwälte bestimmt und dürfen nicht an anderen Gerichten tätig sein.
(3) Das Gesetz wurde in der Großen Nationalversammlung der Türkei (TBMM) am 21. Februar 2014 verabschiedet. Nachdem Staatspräsident Abdullah Gül am 6. März 2014 zugestimmt hatte, wurde es am gleichen Tag im Amtsblatt veröffentlicht. “TERÖRLE MÜCADELE KANUNU VE CEZA MUHAKEMESİ KANUNU İLE BAZI KANUNLARDA DEĞİŞİKLİK YAPILMASINA DAİR KANUN” (›Änderungen am Gesetz zum Kampf gegen den Terrorismus, der Strafprozessordnung und einigen Gesetzen‹).