Hayır Diyor *
DIE TÜRKEI VOR DEM REFERENDUM
*Wir sagen Nein
FRANZISKA NEDELMANN
Seit 2012 beobachtet der RAV zusammen mit der Strafverteidigervereinigung Berlin und dem DAV im Rahmen einer internationalen Beobachtungsdelegation anwaltlicher Organisationen den Prozess, der gegen insgesamt46 Anwält*innen wegen angeblicher Mitgliedschaft in der KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans) geführt wird. Ein Prozess, der unmittelbar die anwaltliche Tätigkeit der Kolleginnen und Kollegen ins Visier nimmt, sie kriminalisiert und damit einen eindeutigen Verstoß gegen die ›UN Basic Principles on the Role of Lawyers‹ darstellt. Wir haben darüber regelmäßig berichtet.(1)Was wir seit dem Putschversuch im Juli 2016 erleben, ist die Umsetzung dessen, was bereits seit jeher Tradition in der Türkei hat: Die Instrumentalisierung der Justiz für rein machtpolitische Interessen der Regierung. Dies ist nun von Erdoğan durch den Erlass von Notstandsdekreten ›pseudolegalisiert‹ worden. Die freie Advokatur wurde schlicht abgeschafft und damit dem Rechtsstaat jede Grundlage entzogen. »Es gibt kein Anwaltsgeheimnis mehr, die Dekrete verletzten unsere Verfassung«, so fasst unsere Kollegin Rechtsanwältin Ayşe Acinikli(2) die Maßnahmen zusammen, die seit Juli 2016 zur systematischen Abschaffung von Verteidigungsrechten durch Dekret ergriffen wurden:
- Beschuldigte können bis zu fünf Tage in Incommunicado-Haft gehalten werden, also ohne Recht auf Kontakt zu einem Rechtsanwalt/einer Rechtsanwältin
- Beschuldigte konnten zunächst für 30 Tage - mittlerweile noch 14 - in Gewahrsam, ohne einem Richter/einer Richterin vorgeführt werden zu müssen
- Besuche der Verteidigung bei ihrer inhaftierten Mandantschaft können für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten verboten werden
- Alle Besprechungen zwischen inhaftierten Beschuldigten und ihren Verteidiger*innen sollen audiovisuell aufgezeichnet und vom Gefängnispersonal überwacht werden
- Alle Verteidigungsunterlagen können beschlagnahmt werden, auch ohne richterlichen Beschluss
- Verteidiger*innen können bei Besuchen ihrer Mandantschaft in der Haft durchsucht werden, auch in den Körperöffnungen
- Anwaltskanzleien können ohne Durchsuchungsbeschluss durchsucht und Mandantenunterlagen beschlagnahmt werden(3)
Zur Klarstellung: Die Tatsache, dass Beschuldigtenrechte massiv beschnitten werden oder dass die Verteidigungstätigkeit kriminalisiert wird, ist kein neues Phänomen. Die in dem sog. KCK-Anwaltsverfahren angeklagten Anwältinnen und Anwälte durften beispielsweise ihren gemeinsamen Mandanten, Abdullah Öcalan, seit jeher nur nach erfolgter Durchsuchung und bei vollständiger Überwachung und Aufzeichnung der Anwaltsgespräche in der Haft auf der Insel Imralı besuchen. Die Kommunikation der Anwält*innen untereinander wurde überwacht und der Anklage zugrunde gelegt. Auch die Verteidiger*innen in dem KCK-Verfahren sind unrechtmäßig überwacht worden. So wurden beispielsweise Besprechungen mit inhaftierten Mandant*innen im Knast heimlich aufgezeichnet und diese Aufzeichnungen für ein weiteres Verfahren gegen die Anwält*innen verwendet, die sich deswegen fast sechs Monate in Untersuchungshaft befanden. Auch wurde den Anwält*innen vorgeworfen, durch die Verbreitung einer Entscheidung des EGMR via Twitter Propaganda für die PKK betrieben und dem Ansehen des türkischen Staates geschadet zu haben. Dabei fanden sowohl die Entscheidung des EGMR wie auch die Twitter-Nachrichten selbst Eingang in die die Anklage stützenden Ermittlungsakten.(4)
Auch die systematische Verfolgung von Anwältinnen und Anwälten hat nicht erst nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 begonnen, aber sie hat eine eindeutig neue Qualität erlangt: Denn neben der Strafverfolgung einzelner Anwält*innen werden nun gleich die Anwaltsorganisationen als Ganze angegriffen. So wurden mit dem Notstandsdekret vom 11. November 2016 u.a. gleich drei Anwaltsvereinigungen verboten, die sich seit jeher für die Rechte von Minderheiten, die Bekämpfung von Folter und Menschenrechtsverletzungen – insbesondere in den kurdischen Gebieten – einsetzen, nicht zuletzt durch erfolgreiche Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.(5) Derzeit befinden sich 287 Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte in Haft, und seit dem 15. Juli 2016 wurden insgesamt 708 Haftbefehle gegen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ausgestellt.(6)
KEIN EFFEKTIVER RECHTSSCHUTZ
Mit dem nach dem Putschversuch verhängten Ausnahmezustand ist die Macht des Faktischen der Erdoğan-Regierung auf pseudolegale Füße gestellt worden: Alle Einschränkungen und Repressionen, von denen (nicht nur) Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger ohnehin schon seit Jahren betroffen waren, sind nun in Dekrete gegossen. Sowohl die Instanzgerichte, wie auch das Verfassungsgericht erklären sich derzeit hinsichtlich der konkreten Überprüfung der Recht- und Verfassungsmäßigkeit der Dekrete für unzuständig. Die Instanzgerichte mit dem Hinweis darauf, dass die Dekrete ja Gesetzeswirkung hätten und die Kontrolle von Gesetzen bzgl. ihrer Verfassungsmäßigkeit nicht im Kompetenzbereich der Instanzgerichte liege. Das Verfassungsgericht wiederum lehnte eine inhaltliche Überprüfung der Dekrete bisher mit dem Argument ab, es könne lediglich die formellen Voraussetzungen des Erlasses von Notstandsdekreten überprüfen, nicht aber deren Inhalte, bzw. deren Umsetzung. Der EGMR verweist hingegen auf die Notwendigkeit der Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges, einschließlich des Verfassungsgerichts. Beim EGMR waren am 31. Dezember 2016 allein aus der Türkei 12.575 Beschwerden anhängig, davon allein 5.363 nach dem Putschversuch.(7) Damit ist der Zustand der Rechtlosigkeit komplett.
RICHTER*INNEN IM KNAST - VERFAHREN GEGEN ANWÄLT*INNEN GEHEN TROTZDEM WEITER
Die Verfahren gegen unsere Kolleginnen und Kollegen gehen weiter und nehmen zu. Es herrscht inzwischen auf allen Seiten ein Klima der Angst. Auch vor Richter*innen und Staatsanwält*innen macht die Repression Erdoğan nicht Halt. Das beste (und zugleich absurde) Beispiel bietet wieder einmal das von uns seit 2012 beobachtete Verfahren gegen die 46 Anwältinnen und Anwälte wegen angeblicher Mitgliedschaft in der KCK: Der 2011 als Ermittlungsrichter und später (rechtswidrig) auch als Vorsitzender in dem ›KCK-Anwaltsverfahren‹ tätige Richter Mehmet Ekinci zeichnete sich dadurch aus, dass er sich in seiner Arbeit weniger am Recht als vielmehr an dem gewünschten Ergebnis der Kriminalisierung von Verteidigungstätigkeit orientierte. Bereits im Rahmen eines Hauptverhandlungstages im Januar 2013 wies einer der Verteidiger den Richter Ekinci deshalb mit den Worten »Sie, Herr Vorsitzender, werden uns Anwälte auch noch einmal brauchen« darauf hin, dass das gesamte Verfahren allein der politischen Konjunktur geschuldet sei und sich in der Türkei der Wind schnell drehen könne. Der Vorsitzende ignorierte diesen Hinweis und ordnete damals die Aufrechterhaltung der Haftbefehle gegen 26 Kolleginnen und Kollegen an. Am 27. Januar 2017 wurde Mehmet Ekinci selbst aufgrund eines gegen ihn bestehenden Haftbefehls wegen Mitgliedschaft in der FETÖ (Gülen-Bewegung) festgenommen. Bei seiner Festnahme gab er an, er sei Richter und verlangte nach einem Anwalt.(8) Seit dem Putschversuch im Juli 2016 wurden insgesamt 3.843 Richter und Staatsanwälte entlassen, viele befinden sich in Untersuchungshaft.(9)
»Die Judikative in der Türkei ist derzeit nicht in der Lage, zu arbeiten. […] Die Richter*innen und Staatsanwält*innen trauen sich in diesen Zeiten des Ausnahmezustands schlicht und ergreifend nicht, Maßnahmen zu ergreifen, die der Regierung missfallen könnten«, so beschreibt Rechtsanwalt Metin Feyzioğlu, Präsident der Union der Anwaltskammern in der Türkei, die derzeitige Situation.(10)
INTERNATIONALE KONFERENZ IN ANKARA IM JANUAR 2017
Vom 13. bis 15. Januar 2017 fand in Ankara auf Einladung diverser Anwaltskammern aus der Türkei eine internationale Konferenz von Juristinnen und Juristen, von Richter- und Anwaltsorganisationen statt, die sich mit dem Ausnahmezustand und der damit einhergehenden faktischen Aufhebung der Gewaltenteilung und Ausschaltung der demokratischen Opposition beschäftigte. Ziel war es, Anwält*innen und Richter*innen im In- und Ausland miteinander in Kontakt zu bringen, um über die Repression zu informieren und konkrete Ansätze zur Verteidigung des Rechtsstaates gemeinsam zu entwickeln. An der Konferenz nahmen ca. 300 Juristinnen und Juristen teil, u.a. von der EDA (Europäische Demokratische Anwältinnen und Anwälte), der EJDM (Europäische Vereinigung von Juristinnen & Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt) und der NRV (Neue RichterVereinigung). Allerdings hatte auch hier Erdoğan seine Finger im Spiel: Der Kollegin Barbara Spinelli aus Italien (Mitglied der EJDM), die sich in den letzten Jahren bei Prozessbeobachtungen und Delegationsreisen bezüglich der Flüchtlingssituation in der Türkei engagiert hatte, wurde die Einreise in die Türkei verweigert. Sie wurde zunächst bei der Einreise festgenommen und am nächsten Tag nach Italien abgeschoben.(11)Im Rahmen der Konferenz wurde einhellig der Missbrauch des Ausnahmezustandes durch die türkische Regierung gerügt und festgestellt, dass die unter dem Ausnahmezustand getroffenen Maßnahmen gegen die türkische Verfassung und gegen internationales Recht verstoßen. Man sprach sich für einen direkten Beschwerdeweg zum EGMR aus, da die türkische Justiz weder unabhängig sei, noch derzeit überhaupt einen Rechtsweg eröffne. Alle europäischen Anwaltsorganisationen wurden aufgerufen:
- weiterhin die politisch motivierten Prozesse gegen Anwält*innen, Akademiker*innen, Parlamentarier*innen, Gewerkschafter*innen und Journalist*innen zu beobachten,
- Öffentlichkeit für die massiven Menschenrechtsverletzungen zu schaffen und sich für eine direkte Beschwerdemöglichkeit beim EGMR einzusetzen,
- Druck auf die Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auszuüben, gegebenenfalls auch mit wirtschaftlichen Sanktionen gegen die Türkei zu agieren und
- die Juristinnen und Juristen, die in der Türkei oder auch bereits im Exil von politischer Verfolgung bedroht sind, zu unterstützen.
In diesem Sinne wird auch die internationale Beobachtungsdelegation für das ›KCK-Anwaltsverfahren‹ den Prozess weiter beobachten und – im Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen aus der Türkei – den Kampf um das Recht unterstützen. Der nächste Verhandlungstermin ist der 9. März 2017.
SICHBARER WIDERSTAND IST NÖTIG - HAYIR
Mit der AKP- und MHP-Mehrheit hat sich das türkische Parlament im Januar 2017 durch die Verabschiedung des Gesetzes zur Einführung des Präsidialsystems selbst abgeschafft und damit den Weg für die Autokratie Erdoğans freigemacht. Nicht nur die Anwaltschaft, sondern die gesamte demokratische Opposition steht damit vor dem Abgrund. Eine breite und sichtbare Solidarität für die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten ist damit überfällig. Die Ultra-Gruppen der drei größten Fußballvereine Istanbuls – Fenerbahçe, Galatasaray und Beşiktaş – machen es vor: Sie haben sich im Januar 2017 zum zweiten Mal unter dem Label ›Istanbul United‹ zusammengeschlossen (!), um die ›Nein‹-Kampagne für das Referendum zur Verfassungsänderung am 16. April 2017 zu unterstützen.(12) Die Anwaltschaft in Deutschland und Europa sollte sich daran ein Beispiel nehmen und endlich begreifen, dass der Angriff auf die Anwaltschaft und die Demokratie in der Türkei auch hier Widerstand erfordert. Immerhin sind es Deutschland und die EU, die zur Durchsetzung ihrer Abschottungspolitik keine Mittel scheuen: Sie unterstützen die Erdoğans -Türkei – und damit auch die massiven Menschenrechtsverletzungen – mit Geld, Waffen und diplomatischer Scheinheiligkeit.
Franziska Nedelmann ist Rechtsanwältin in Berlin und stellvertretende Vorsitzende des RAV.
Fußnoten
(1) Vgl. zuletzt: http://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/strafverfolgung-von-verteidigerinnen-und-verteidigern-in-der-tuerkei-nimmt-kein-endebr-anwaeltinnen-und-anwaelte-w eiter-in-untersuchungshaft-493/.
(2) Vgl. taz vom 9. Februar 2017: ›Unter Generalverdacht‹, Reportage von Julia Amberger, https://www.taz.de/!5379901&s=/.
(3) So die Mitteilung der Istanbuler Rechtsanwaltskammer vom 2. August 2016, vgl. für die Dekrete bis zu diesem Zeitpunkt: http://www.istanbulbarosu.org.tr/Detail_EN.asp?CatID=57&SubCatID=1&ID=11671
(4) Verfahren gegen die Mitglieder des Anwaltsvereins ÖHD und der Organisation TUHAD, in dessen Rahmen sich die Kolleg*innen Ayşe Acinikli und Ramazan Demir von April bis September 2016 in Untersuchungshaft befanden. Die EGMR-Entscheidung bezog sich auf die Ausgangssperre in Cizre und die Weigerung des türkischen Staates, medizinische Hilfe zu schicken, vgl. dazu auch den Verweis auf den Bericht in Endnote 1.
(5) Es handelt sich um die fortschrittliche Anwaltsvereinigung ÇHD (ÇağdaşHukukçular Derneği) – Mitglied von EDA und EJDM sowie Träger des Hans Litten-Preises 2014 –, um die Anwaltsvereinigung für die Freiheit ÖHD (Özgürlükçü Hukukçular Derneği) und um die mesopotamische Anwaltsvereinigung MHD (Mezopotamya Hukukçular Derneği) – beide Organisationen sind Mitglieder in der EJDM.
(6) Stand: Januar 2017; Quelle: http://turkeypurge.com/turkey-keeps-287-lawyers-under-arrest-as-part-of-post-coup-purge.
(7) Vgl. http://www.echr.coe.int/Documents/Stats_analysis_2016_ENG sowie https://www.nzz.ch/international/putschversuch-in-ankara-ueber-5000-menschenrechts-klagen-gegen-die-tuerkei-ld.142007.
(8) Vgl. http://m.t24.com.tr/haber/sike-ve-odatv-davalarinin-hakimi-mehmet-ekinci-yalovada-yakalandi,385551.
(9) Vgl. http://turkeypurge.com.
(10) Vgl. http://www.deutschlandfunk.de/justiz-in-der-tuerkei-anwaelte-kaempfen-fuer-den-rechtsstaat.1773.de.html?dram:article_id=377135.
(11) Vgl. http://www.aeud.org/2017/01/le-systeme-judiciaire-sous-letat-durgence-en-turquie/.
(12) Via Twitter: #istanbulUnitedHayirDiyor.