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›MIT RECHT GEGEN DIE MACHT‹

PERSÖNLICHE EINDRÜCKE ZUR MONOGRAPHIE VON WOLFGANG KALECK

JÖRG ARNOLD

I.
Als ich gefragt wurde, ob ich das neue Buch von Wolfgang Kaleck rezensieren wolle, habe ich spontan zugesagt. Einfach so, ohne genau zu wissen, was das neue Buch eigentlich beinhaltet. Es hieß nur, dass es um Menschenrechtsfälle gehe und dass ich wegen des Erscheinungstermins für die Rezension wenig Zeit habe. Da ich die beiden vorangegangen Bücher des Autors in ihrer Entstehungsphase inhaltlich teilweise mit begleiten durfte – was beim zweiten Buch ›Mit zweierlei Maß‹ stärker noch der Fall war als beim ›Kampf gegen die Straflosigkeit‹ – war ich der Annahme, dass das neue Buch vielleicht eine Weiterentwicklung sei, eine Fortschreibung der von Wolfgang Kaleck und seinen Mitstreitenden vertretenen Menschenrechtsfälle. Doch als ich die Druckfahnen für die Rezension in den Händen hielt, war ich überrascht; nicht etwa, weil der Gegenstand des Buches anders war als erwartet. Nein, das Buch behandelt eine Vielzahl jener Fälle, mit denen Wolfgang Kaleck für Menschenrechte und gegen Macht kämpft, und zwar im wahrsten, besten Sinne des Wortes: mit aller Energie, radikal, mit hohem persönlichen Einsatz. Solidarisch. Einfach vorbildlich. Meine Überraschung gründete sich eher auf das ›Wie‹ der Abhandlungen, auf den Duktus, auf den Kontrast zu dem Stil, in dem die vorhergehenden Bücher geschrieben sind. Denn der Autor legt dieses Mal ein sehr persönliches Buch vor. Er zeichnet seinen Weg zu einem Menschenrechtsanwalt nach. Die Beschreibungen der Fälle selbst sind eindringlich, sie verbinden sich mit empathischen Gedanken und Gefühlen des Autors bei seinen Begegnungen mit den Menschen, die er schützen und vertreten will. Die Wiedergabe von Eindrücken und Beobachtungen der Kultur, der Natur, des Schönen wie des Bedrückenden in den jeweiligen Ländern werden dabei ebensowenig vernachlässigt wie die detaillierten schwer zu ertragenden Schilderungen von brutalsten Misshandlungen und Ermordungen der Opfer. Diese sollten unter Hinweis auf Susan Sonntag gar nicht so im Einzelnen geschildert werden, weil dann die Gefahr bestehe, »dass wir uns selbst – als diejenigen, die wir uns an diesen Geschehnissen abarbeiten – umso wichtiger machen, je drastischer wir sie darstellen« (S. 39). Und doch erscheint es richtig, auf derartige Details einzugehen.
Dieser ›Mix‹ aus Autobiografie, bedrückenden Schicksals- und Fallbeschreibungen, Poetischem, Nachdenklichem, Zweifelndem, Selbstgewissen und Hoffnungen überrascht; ebenso der Duktus der Ich-Form, ferner Auslassungen beim Benennen einer Vielzahl von wissenschaftlichen Begegnungen des Autors zum Thema Menschenrechte – und dass lediglich Andeutungen über bestimmte Auseinandersetzungen und Diskussionen von Kaleck ›unter Linken‹ beispielsweise über die Reichweite des Rechts und Rechtspositivismus zu finden sind. Mithin aber ein herausfordernder ›Mix‹ von all jenem, das aufgegriffen und über das gestritten werden muss. ›Trotz alledem!‹ und ›Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker‹ – das atmet das Buch.

II.
Nach eindrücklichen Szenen der internationalen menschenrechtlichen Arbeit von Wolfgang Kaleck im Jahre 2014, über die er im Prolog berichtet und mit der Frage enden lässt, wie für ihn alles begonnen hat, erfahren wir etwas über den Typ des ›Verweigerers‹, wie sich der Autor in der Überschrift dieses Abschnitts selbst nennt. Verweigert sich den herrschenden Verhältnissen im kleinen wie im größeren. Den Weg in die Friedensbewegung über zivilen Ungehorsam bei der Bundeswehr gefunden. Geprägt durch die Vergangenheit seiner Familie, seinen Eltern gegenüber dankbar für so viele positive, fortschrittliche Einflüsse, die ihm erst nach und nach wirklich bewusst werden. Der Beginn des Jurastudiums in Bonn in der Hoffnung, »die Normen zu beherrschen und zugunsten derer anwenden zu lernen, die von ihnen benachteiligt werden, um zugleich auf ihre Abschaffung und Veränderung politisch hinzuwirken« (S. 32). Für viele sei das ein Widerspruch, für ihn jedoch nicht, schreibt der Autor. Dann geht es erst einmal Schlag auf Schlag. Kaleck ist ›solidarischer Beobachter‹ in Guatemala und Mexiko im Jahre 1990; in der DDR begann zu dieser Zeit der politische Umbruch. Indes hatte er das Glück, sein Referendariat in Mexiko D.C. fortsetzen zu können und wird in einer im Exil arbeitenden guatemaltekischen Menschenrechtskommission tätig. Dort kommt er das erste Mal mit den Grausamkeiten lateinamerikanischer Diktaturen in Berührung und begreift, »dass die Kategorie Straflosigkeit eine komplexe gesellschaftliche Situation beschreibt, die weit mehr als nur das Ausbleiben von Strafe bedeutet« (S. 41). Diese Einsicht wird seine zukünftige Motivation prägen: nämlich gegen die Straflosigkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen zu kämpfen. Zunächst aber, Anfang der neunziger Jahre, erobert er das nun freiheitliche Ostberlin mit all seinen Möglichkeiten, Risiken und Gefahren. Er wird mit Gleichgesinnten ein linker Anwalt, um sich den Ungerechtigkeiten entgegenzustemmen und eröffnet eine Anwaltskanzlei in Berlin-Prenzlauer Berg. Die Strafverteidigung von Kriegsdienstverweigerern und von Strafgefangenen stellt ebenso wie die Vertretung von Bürgerrechtlern der DDR und von Opfern neonazistischer Gewalt einen Schwerpunkt der damaligen Arbeit dar. Doch führt Wolfgang Kalecks Weg recht schnell nach Lateinamerika zurück, dieses Mal, Mitte der neunziger Jahre, nach Uruguay, Argentinien und Chile, zunächst noch als Privatmann. Immer mehr entwickelt sich aus den bewegenden Begegnungen mit den unterdrückten Menschen dieser Länder auch Kalecks anwaltliches Engagement für sie und die Wahrung ihrer Würde. Indes drängt sich beim Lesen zuweilen der Eindruck auf, dass der Autor nicht nur hinsichtlich der Durchsetzbarkeit von Menschenrechten vor Ungeduld brennt, sondern dass er auch Menschen manchmal mit Ungeduld zu begegnen scheint, die ihm ans Herz gewachsen sind. Wenn sein alter und mittlerweile müde gewordener Freund Pieter aus Buenos Aires, der viele Jahre in der DDR lebte und nun an sich und der Welt zweifelt und einen Teil seiner Hoffnung verloren hat, dann vermag das Wolfgang Kaleck zwar zu verstehen, aber nicht zu akzeptieren. Aber heißt verstehen zu können, nicht auch, die so andersartige Biographie mit ihren untergegangenen Hoffnungen akzeptieren zu müssen? Oder können die untergegangenen Hoffnungen des Freundes durch das Beharren auf dem gerade anderen Beispiel wieder neu erweckt werden? Ein Nomade und immer in Bewegung zu sein, wie der Autor sich beschreibt, und dabei die Orte in der Welt zu finden, an denen man sich geborgen fühlt, ist dies neben all dem menschlichen Verdienst nicht auch ein Privileg? Hängt dieses nicht ab von den persönlichen Möglichkeiten, den Erfahrungen, den äußeren Umständen und Bedingungen des Einzelnen?

III.
Wolfgang Kalecks ›Nomadendasein‹ scheint ihn jedenfalls in den 1980er und Anfang der 90er Jahre geradezu zu zwingen, mit seiner Situation in Deutschland nicht zufrieden sein zu können. Er beklagt, dass Anwälte, die sich in Deutschland für Menschenrechte und eine bessere Welt einsetzen wollen, sich bestenfalls politisch im Rahmen der Solidaritätsbewegung engagieren können. Man könne demonstrieren, Artikel und Petitionen schreiben, Prozesse beobachten, aber als Anwalt habe man diesbezüglich zu wenig zu tun (S. 68). Beim Lesen dieser Zeilen ist des Autors Sehnsucht, transnational juristisch zu agieren, mit der Hand zu greifen. Und fast wie durch ein Wunder führte ihn im Jahre 1999 diese Sehnsucht an seinen persönlichen Sehnsuchtsort Buenos Aires. Von nun an gibt es für die internationale Menschenrechtsarbeit von Kaleck kein Zurück mehr. Wir erfahren (vgl. auch Kalecks Buch ›Kampf gegen die Straflosigkeit‹) von dem beeindruckenden Einsatz für die Interessen der Mütter des Plaza de Mayo in Buenos Aires, von den berührenden Begegnungen, die der Anwalt Kaleck mit Ellen Marx hatte, der Mutter der verschwundenen Nora Marx, und deren Schicksal er versuchte aufzuklären. Weiterhin wird davon berichtet, wie er in Deutschland gegen argentinische Militärs Strafanzeigen bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg stellte. Sein Weg im Kampf gegen die Straflosigkeit führt ihn in Argentinien weiter auf die juristische-anwaltliche Suche nach den verschwundenen Gewerkschaftern von Mercedes-Benz. Danach aber ist er erst einmal wieder zurück in Berlin, sozusagen in der Anwaltsalltags-Realität, gemeinsam mit anderen fortschrittlichen Anwaltskolleginnen und Kollegen, um u.a. als Nebenklagevertreter gegen rassistische und neonazistische Gewalt kämpfend, mutmaßliche Mitglieder der ›Revolutionären Zellen‹ in dubiosen Strafverfahren vertretend und gar selbst als Angeklagter vor Gericht für sein Engagement als Kriegsgegner während des Kosovo-Krieges erscheinend, ein Verfahren, das mit Freispruch vom Vorwurf des Aufrufs zur Fahnenflucht endete. Dann wird Wolfgang Kaleck zum Vorsitzenden des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins gewählt. Er stellt das auch in einen Zusammenhang mit dem Selbstverständnis seiner Kanzlei, in linken Anwalts- und Bürgerrechtsorganisationen engagiert und vernetzt zu sein. So bezeichnet er sich selbst als europäischen Strafverteidiger in Warschau, Athen und Barcelona, der immer auch den politischen Anspruch sieht, beispielsweise als Beistand von kriminalisierten globalisierungskritischen Demonstrierenden zu wirken. Die Berührungen Kalecks mit internationalen Anwaltsorganisationen beim internationalen Einsatz für die Menschenrechte werden größer, die Möglichkeiten des eigenen Tuns erweitern sich. So ist es wohl auch folgerichtig, dass wir vom Wirken des Autors gemeinsam mit Peter Weiss und Michael Ratner vom Center for Constitutional Rights in New York lesen, was eine Geschichte einer bis heute andauernden Freundschaft ist, die maßgeblich von mehreren gemeinsamen Strafanzeigen gegen Rumsfeld mit geprägt wird, die in einem mühevollen internationalen Ringen erweitert werden. Die Argentinien-Fälle wie auch die Begegnungen und Freundschaften mit Peter Weiss und Michael Ratner sind für den Autor zugleich Ansporn, selbst eine internationale Organisation zu gründen. Anstoß dafür gaben aber auch – worauf Wolfgang Kaleck hinweist – Auseinandersetzungen in seiner Anwaltskanzlei. Kollegen beklagten, dass die Ressourcen der Kanzlei mit dem Projekt der Anzeigen gegen Rumsfeld überbeansprucht worden seien. Ferner wurde der Vorwurf erhoben, dass Kaleck mit der täglichen Arbeit der Anwälte der Kanzlei jene finanziellen Mittel erlangte, die für seine Projekte erforderlich seien. Das führte zu der Einsicht, dass die Kanzlei nicht der richtige Rahmen für größere Projekte internationaler Menschenrechtsarbeit ist.
Wolfgang Kaleck hatte bei anderen Einrichtungen wie dem Center von Peter Weiss und Michael Ratner erlebt, wie es anders gehen könne. Mit einem ›kleinen Haufen‹ von MitstreiterInnen macht sich Kaleck ans Werk, den gemeinnützigen Verein ›European Center for Constitutional and Human Rights‹ (ECCHR) aus der Taufe zu heben, über alle Schwierigkeiten hinweg zum Leben zu verhelfen und ihn zu einem schlagkräftigen Mittel beim Kampf gegen Straflosigkeit zu entwickeln. Das ist Pionierarbeit. Eine Arbeit, die sich zwar gelohnt hat, nicht aber nach einer erfolgreichen juristischen Anwendung von Menschenrechten bemessen werden kann, selbst wenn es solche zählbaren Erfolge auch gibt. Vielmehr geht es um die Strahlkraft des ECCHR, die Gewinnung von neuen Bewegungen, die größere internationale Entfaltungskraft eines gemeinsamen Kampfes. ›Unser weltweiter Kampf für die Menschenrechte‹ – so lautet folgerichtig der Untertitel des Buches, der zu der Überschrift des Epiloges ›Fundierte Hoffnung‹ berechtigt.

IV.
›Trotz alledem!‹ bleiben Fragen und Zweifel. Sie ergeben sich aus der eingangs erwähnten Symbiose des Buchduktus. Wichtige Aspekte wie Streitfragen zu den Menschenrechten unter ›den Linken‹, zu Reichweite und Grenzen derselben, ihrer Anschlussfähigkeit an eine kritische Rechtstheorie (Rechtskritik), Legitimität und Naivität der Inanspruchnahme des nationalen Rechts zur Durchsetzung der Menschenrechte weltweit (Stichwort ›Rechtsillusionen‹) werden nur angedeutet. Darüber, vor allem aber über das Verhältnis zwischen dem Kampf um Menschenrechte im Alltag des eher in der nationalen Rechtsordnung tätigen Anwalts einerseits und des international vernetzten Menschenrechtsanwalts andererseits muss weiter gestritten werden. Denn Folgendes provoziert geradezu Widerspruch, der hier für die weitere Diskussion noch verschärft werden soll:
»Die Verteidigung von Menschen, zumal bedürftigen und politisch aktiven, gegen den mitunter übermächtigen Strafverfolgungsanspruch des Staates ist Menschenrechtsarbeit – mit diesem Anspruch bin ich seinerzeit angetreten. Doch immer mehr sehe ich auch andere und größere Probleme. Ich spüre, dass ich an etwas mitwirken will, was über den einzelnen Fall hinausgeht. Ich will Teil eines politischen Projektes sein« (S. 169). 

Ist dieser Satz wirklich so zu lesen, dass der Autor die Einzelfälle selbst nicht als Teil eines politischen Projekts ansieht, nicht als Menschenrechtsarbeit ›im Kleinen‹ – trotz all der Mühen und Hemmnisse in der Alltagsarbeit: der ökonomischen Zwänge, des permanenten Zeitdrucks, der Grenzen des Einzelfalls bei der Entfaltung politischer Wirksamkeit? Hat Wolfgang Kaleck nicht selbst durch sein Beispiel gezeigt, dass die politische Alltagsarbeit überhaupt erst die Voraussetzung für eine Verwirklichung internationaler Kämpfe ist? Warum aber dann solche Formulierungen, von denen das Zitat nur ein Beispiel ist? Nein, darauf muss beharrt werden: Das Eintreten für Menschenrechte durch so viele Anwältinnen und Anwälte im anwaltlichen Alltag, sei es für Asylsuchende, Flüchtlinge, sozial Benachteiligte, lässt sich nicht von dem Einsatz für Menschenrechte in einem internationalen Rahmen trennen. Lesen wir das Buch von Wolfgang Kaleck also mit Blick darauf, dass es Mut machen soll, nicht nur den Kampf für Menschenrechte international, sondern auch jenen im ›Alltag der Einzelfälle‹ zu bestärken. Des Autors Wandlung vom ›Anwalt der Einzelfälle‹ im Alltag zum international anerkannten Menschenrechtsanwalt ist – unabhängig vom Duktus – selbst das beste Beispiel dafür. 

Wolfgang Kaleck: ›Mit Recht gegen die Macht. Unser weltweiter Kampf für Menschenrechte‹. Hanser Berlin 2015, 224 S., 19,90 Euro

Prof. Dr. Jörg Arnold ist Jurist und Strafrechtswissenschaftler sowie Vorstandsmitglied im RAV.