Sie sind hier: RAV > PublikationenInfoBriefeInfobrief #108, 2013 > Ein nachträglicher Geburtstagsgruß

Ein nachträglicher Geburtstagsgruß

von Hannes Honecker

Lieber Ingo,

zum 70. Geburtstag sende ich Dir die allerbesten Wünsche auch im Namen des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, dem Verein, dem Du – ohne Anwalt zu sein – immer treu geblieben bist. Eine Anmerkung soll den Glückwünschen folgen. Es geht um die Wirkung eines Deiner Bücher auf mich als junger Student vor nunmehr über 25 Jahren – wobei es, das weiß ich, vielen Anderen genau so erging. Es ist Dein Bericht von Nazis in der Justiz der Bundesrepublik, von Juristen, die die NS-Ideologie mitprägten und nach 1949 Lehrstühle für Staatsrecht und noch sehr viel später teils kritiklose, teils liebesdienerische Festschriftbeiträge erhielten sowie von Richtern, die vielhundertfach Todesurteile auf zweifelhaften Rechtsgrundlagen mit grotesk-zynischen Begründungen ausgesprochen haben und später Anerkennung mal als hoher Ministerialbeamter, mal als Präsident eines Oberlandesgerichts fanden. Es ist die Schilderung des entwürdigenden Umgangs mit den Opfern, die nicht nur nicht rehabilitiert wurden. Das erlittene Unrecht wurde kleingeredet und Du stellst dies dem Gnaden-Fieber den Alt-Nazis gegenüber, welche nicht nur unbehelligt blieben, sondern von einer völlig schamlosen Verwaltung noch mehrere Jahrzehnte mit hohen Pensionen alimentiert wurden.

Die Leser dieses Geburtstagsgrußes wissen es bereits: es sind die ›Furchtbaren Juristen‹, von denen ich schreibe, die nicht nur mich berührt und mitgenommen haben (das Buch wurde in mehrere Dutzend Sprachen übersetzt) und es ist Deine Leistung, die NS-Geschichte in die Bundesrepublik fortzuschreiben und zwar ins Herz (hier nur) meines damaligen Daseins: als Jura-Student und als Teilnehmer eines bundesrepublikanischen politischen und rechtspolitischen Alltags. An Vieles in diesem Werke anlässlich Deines Geburtstages zu erinnern würde mir Freude bereiten. Ich will nur zwei Dinge in Erinnerung rufen:

Verjährungsdebatten

Es sind zum einen die mit »größtem sittlichen Ernst« geführten Verjährungsdebatten 1960, 1964 und 1969, die Ausnahmen für die Verjährung für Mord und Völkermord beschlossen, welche Du angesichts der nachfolgend beschriebenen faktischen Amnestie als Scheindebatten dargestellt hast. Denn parallel zu den Verjährungsdebatten fand eine materiellrechtliche Verjährung durch die Hintertüre statt.

Mit der Änderung im Ordnungswidrigkeitenrecht wurde über § 50 Abs. 2 StGB a.F. (heute § 28 Abs. 1 StGB n.F.) eine Verjährung über die Hintertür eingeführt, ohne dass dies Parlamentarier, Justizminister, Landesjustizminister, Fachleute des Generalbundesanwaltes und Richter des Bundesgerichtshofs bemerkt haben wollen. Der damals neu geschaffene § 50 II StGB a.F. sah eine Strafrahmenverschiebung für Gehilfen der Morde mit dem Ergebnis vor, dass den Gehilfen nicht mehr lebenslange, sondern nur noch zeitige Freiheitsstrafe angedroht wurde. Dass nach § 67 Abs. 1 StGB a.F. solche Taten, die mit zeitigen Freiheitsstrafen bedroht wurden, nach 15 Jahren verjährten, wollte niemand bedacht haben. Federführend für den Gesetzgebungsentwurf war übrigens Ministerialdirigent Dr. Eduard Dreher, Autor des 1932 von Otto Schwarz begründeten Standardkommentars (der Dreher/Tröndle) zum Strafgesetzbuch, den auch heute (als Fischer, 61. Auflage, 2014) alle Richter, Staatsanwälte und Verteidiger nutzen.

Welche dramatischen Auswirkungen die Änderung im Ordnungswidrigkeitenrecht hatte, wird in Deinem Buch in vielen Facetten aufgelistet. Nur beispielhaft sei die Entscheidung des 5. Strafsenats des BGH im Jahre 1969 aufgeführt, als dieser eine Entscheidung des Kieler Schwurgerichts mit dem lapidaren Hinweis auf die Verjährung kassierte. Jenes Gericht hatte einen Beamten des Judenreferats zur Beihilfe am mehrfachen Mord verurteilt. Du hast darauf hingewiesen, dass mit diesem Urteil die größte in der Bundesrepublik geplante Prozess-Serie gegen NS-Verbrecher mit insgesamt 18 Verfahren gegen 300 Angehörige des Reichssicherheitshauptamtes, gegen die operative Ebene der Vernichtungsmaschine, gegen die Spezialkönner des Verwaltungsmassenmordes platzte.

Nazi-Sonder-Dogmatik

Zum anderen hast Du die Nazi-Sonder-Dogmatik der extrem subjektiven Tatherrschaftslehre und seine Funktion analysiert. Auch diese Analyse hast Du auf eine Vielzahl von Einzelfällen gestützt, von denen hier nur das Urteil des Schwurgerichts Ulm vom 29. August 1958 zu den Massakern der SS-Einsatzgruppen wiedergegeben werden soll. Das Urteil beschreibt detailliert die brutale Ermordung von 4.000 Menschen im litauischen Grenzgebiet, um dann festzustellen: »Die Urheber für die Maßnahmen der ›Sonderbehandlung der potentiellen Gegner‹, also der physischen Vernichtung sämtlicher Juden ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht und der Kommunisten im Ostraum sind nach den tatsächlichen Feststellungen des Schwurgerichts Hitler, Himmler und Heydrich und deren nähere Umgebung. Sie haben gemeinsam den Vernichtungsplan ausgeheckt [...] und durch die Einsatzgruppen und Vernichtungslager durchführen lassen, die jeweils befehlsgemäß gehandelt haben.« Den zehn angeklagten ehemaligen SS-Männern beschied das Gericht, sie hätten zwar nicht unter Befehlsnotstand, sondern durchaus freiwillig gemordet. Dennoch hätten sie die Morde nicht als eigene gewollt, sondern jeweils mit dem Vorsatz gehandelt, durch ihren Tatbeitrag die Tat der Haupttäter zu unterstützen. Die Herren wurden sämtlich als Gehilfen an den Morden zu niedrigen Zuchthausstrafen verurteilt.

Die dieser Rechtsprechung zugrunde liegende Subjektivierung der Strafbarkeit, die Reduktion der Zurechnungsfrage ›Tatherrschaft‹ auf den Willen des Angeklagten, geht auf die nationalsozialistische Strafrechtsdogmatik des Reichsgerichts zurück, »um Fememörder glimpflich davon kommen zu lassen.« Jene Konstruktion setzte sich in den Entnazifizierungsverfahren fort, die auch höhere NS-Funktionäre als Mitläufer einstuften und ausschließlich die toten Nazigrößen verantwortlich machten. Diese Nazis schützende

Sonderrechtsprechung ist eine weitere Säule der Straflosigkeit. Du hast das wohl dramatischste Versagen der Bundesrepublik beleuchtet, nämlich die größten Verbrechen ungesühnt zu lassen und der nachfolgenden Generation von Juristinnen und Juristen die unerträgliche Gewissheit mit auf den Weg zu geben, dass die monströsen Verbrechen, welche im Namen des NS-Staates begangen wurden, Im Namen des Volkes nicht mehr gesühnt werden sollten.

Es schockierten in erster Linie nicht die einzelnen ungeheuren Verbrechen, die Du aufzeigst, sondern die Tatsache, dass sie unter dem Mantel des Rechts begangen worden waren: »Die Prostituierung eines Rechtssystems zur Erreichung verbrecherischer Ziele bringt ein Element des Bösen in den Staat hinein, das in offenen Greulen nicht enthalten ist.« Den NS-Gedanken gegenüber gleichgültige, starke Lobby der ehemaligen Täter und ihren ›unpolitischen‹ Nachfolgern etwas entgegen zu setzen, hat mich Dein Buch gelehrt und mich auf meinem Weg stark geprägt. Dafür will ich Dir danken und ich vermute, dass Du einige meiner Kolleginnen und Kollegen im Vorstand entsprechend durch diesen Teil der deutschen Geschichte geleitet hast.

Herzlichen Glückwunsch und schreibe uns mal wieder,

Hannes

Ingo Müller feierte 2012 seinen 70. Geburtstag – die Redaktion freut sich darüber (noch immer…) und über alle kommenden Geburtstage! Die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.

Furchtbare Juristen – die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz. Mit einem Vorwort von Martin Hirsch. München 1987.