Alles unter Kontrolle
Berliner Demonstationen dürfen abgefilmt werden
von Anja Heinrich und Dr. Anna Luczak
Der Berliner Gesetzgeber hat eine Neuregelung zum Filmen von Demonstrationen getroffen, wonach die Polizei ermächtigt wird, so genannte Übersichtsaufnahmen zu machen. Damit wird die Versammlungsfreiheit grundlegend beschnitten.
VERSAMMLUNGSFREIHEIT BEDEUTET UNÜBERWACHTES VERSAMMELN
Denn Versammlungsfreiheit bedeutet nicht nur, dass Demonstrationen in der Form geplant und durchgeführt werden dürfen, wie die Versammelten es sich gedacht haben, sondern auch dass die staatliche Überwachung und Registrierung unterbleibt. In seiner Grundentscheidung zur informationellen Selbstbestimmung aus dem Jahr 1983 hat das Bundesverfassungsgericht es klar und eindeutig formuliert: »Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und dass ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art. 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist«.(1)
Ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit ist es daher nicht nur, wenn durch Auflagen die Wegstrecke verlegt oder das Mitführen von Seitentransparenten untersagt wird, oder wenn die Polizei eine Versammlung auflöst oder die TeilnehmerInnen einkesselt. Ein Eingriff ist es auch, wenn neben dem/der AnmelderIn auch OrdnerInnen namentlich benannt werden sollen oder bei (Vor-)Kontrollen die Personalien von TeilnehmerInnen erfasst werden. Wer an einer Demonstration teilnehmen möchte, muss unerkannt bleiben dürfen.
POLIZEILICHE PRAXIS
In der Praxis wird diese Freiheit, bei einer Versammlung unerkannt zu bleiben, vielfach unterlaufen. Durch besagte Vorkontrollen, wie zuletzt in umfassendem Maße bei den Blockupy-Protesten in Frankfurt, aber regelmäßig auch durch Abfilmen von Demonstrationen. So laufen neben der Demonstration Polizeibeamte und machen Portraitaufnahmen von TeilnehmerInnen, fahren Videowagen mit laufenden Kameras auf dem Dach vor der Demonstration, filmen andere Beamte von Dächern herab und fliegen Hubschrauber mit Nachtsichtkameras über der Demonstration. Es steht zu erwarten, dass demnächst auch mit Aufzeichnungsgeräten ausgestattete Drohnen DemonstrationsteilnehmerInnen begleiten werden.
Das ist in Bezug auf »gefährliche« Demonstrationen gesetzlich erlaubt.(2) Nicht jede Demonstration lässt es aber zu, sie als gefährlich zu definieren, und so haben Gerichte in Bezug auf zwei Anti-Atom-Demonstrationen entschieden, dass deren filmische Aufzeichnung rechtswidrig war.(3) Der Berliner Gesetzgeber war aufgrund dessen der Ansicht, dass eine gesetzliche Regelung eingeführt werden müsse, die das Abfilmen auch völlig ungefährlicher Demonstrationen erlaubt.
NEUREGELUNG IN BERLIN
In Orientierung an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu einer entsprechenden Regelung im bayrischen Versammlungsgesetz(4) brachten die Regierungsfraktionen SPD und CDU im November 2012 einen Gesetzentwurf ein, wonach »die Polizei Übersichtsaufnahmen von Versammlungen unter freiem Himmel und Aufzügen sowie ihrem Umfeld […] anfertigen kann, wenn dies wegen der Größe oder Unübersichtlichkeit der Versammlung oder des Aufzuges im Einzelfall zur Lenkung und Leitung erforderlich ist«.(5)
Ermächtigt wird die Polizei also zur Anfertigung von so genannten Übersichtsaufnahmen. Dabei handelt es sich um Videoaufnahmen, die von einem erhöhten Standpunkt aus – etwa von einem Video-Wagen oder einem Hubschrauber – in Weitwinkeleinstellung angefertigt und an die Polizeileitstelle übertragen werden. Der Gesetzentwurf spricht von Übertragung der Bilder in Echtzeit im so genannten Kamera-Monitor-Prinzip.(6) Die Identifizierung einzelner Personen soll dabei angeblich »in aller Regel«(7) nicht möglich sein.
NOTWENDIG ODER NUR BEQUEM
Zielrichtung der Videoaufnahmen ist die Lenkung und Leitung von großen oder unübersichtlichen Demonstrationen, also die Einsatzbewältigung der Polizei. Allerdings bleibt unklar, warum hierfür Übersichtsaufnahmen erforderlich sein sollen. Aufgrund der Rechtsprechung musste die Polizei ihre Einsätze in den letzten annähernd drei Jahren auch ohne Übersichtsaufnahmen bewältigen. Das heißt, vor Ort anwesende Beamte mussten ihre Beobachtungen über Funk an die Einsatzleitstelle mitteilen. Dass es dabei Schwierigkeiten gegeben hat, wurde während des gesamten Gesetzgebungsverfahrens nicht vorgetragen. Es entsteht deshalb der Eindruck, dass es hier zu Lasten der Versammlungsfreiheit um ein bisschen mehr Bequemlichkeit für die Polizei geht.
Der Gesetzentwurf benennt als Zweck der Übersichtsaufnahmen die Gewährleistung von Sicherheit und die Regelung der Verkehrssituation. Eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit ist aber nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter erlaubt.(8)Die »Verkehrsregelung« mit dem Ziel »Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs« ist sicherlich kein der Versammlungsfreiheit ebenbürtiges Rechtsgut.
Sofern es um die Gewährleistung der Sicherheit (also auch die Rechtsgüter »Leben und Gesundheit« von VersammlungsteilnehmerInnen oder Dritten) geht, greift die neue Regelung weit im Vorfeld einer Gefahr in die Versammlungsfreiheit ein. Während bisher zwingend eine »erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung« festgestellt werden musste, um die Notwendigkeit von Videoaufnahmen zu begründen, reicht es nun aus, dass eine Versammlung »groß« oder »unübersichtlich« ist, damit die Polizei ihre Kameras anschalten darf. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass wegen der Größe oder Unübersichtlichkeit eine Gefahr besteht, sind nicht erforderlich. Da der Gesetzentwurf weder »groß« noch »unübersichtlich« definiert, wird die Polizei diese Begriffe nach ihrem Gutdünken auslegen. Zu recht wird daher vielfach von quasi »anlassloser Videoüberwachung« gesprochen.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT UNVERSTANDEN
Die Regierungskoalition hat das massive Absenken der Eingriffschwelle mit der angeblich geringen Eingriffsintensität gerechtfertigt, denn schließlich ermächtige die neu Regelung weder zur Individualisierung von Personen, noch erlaube sie die Speicherung der Bilder.(9)In den Gesetzestext aufgenommen wurden zudem Teile des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zum bayrischen Versammlungsgesetz. Hierbei wurde aber außer acht gelassen, dass das Bundesverfassungsgericht in diesem Eilverfahren gar keine umfassende Verfassungsmäßigkeitsprüfung vorgenommen hat. Außerdem beinhaltet diese Entscheidung auch Hinweise darauf, dass der vom Berliner Gesetzgeber behauptete Unterschied von Übersichts- und personenbezogenen Aufnahmen mit den heutigen technischen Mo?glichkeiten gar nicht mehr besteht.(10)
Hinzu kommt, dass auf eine Versammlung gerichtete Kameras stets Abschreckungs- und Einschüchterungspotential haben, weil sie bei den VersammlungsteilnehmerInnen ein Gefühl des Beobachtetseins hervorrufen. Ob die Bilder gespeichert oder einzelne VersammlungsteilnehmerInnen herangezoomt werden, ist für sie gar nicht erkennbar. Der Gesetzentwurf schreibt lediglich vor, dass die Übersichtsaufnahmen »offen« angefertigt werden müssen. Doch zum einen ist fraglich, wie das beim Einsatz von Kameras auf Hausdächern, in Hubschraubern oder Drohnen gewährleistet werden soll, zum anderen weiß der/die an der Versammlung Teilnehmende allein durch die offenen Datenerhebung noch nicht, aufgrund welcher Ermächtigungsgrundlage die Polizei filmt und mithin auch nicht, ob herangezoomt und gespeichert wird. Informationspflicht gegenüber den DemonstrantInnen sieht der Gesetzentwurf nicht vor. Auch der Missbrauch durch simples Drücken des Aufnahme- oder Zoomknopfes ist einfach.
AUF KRITIK FOLGT KOSMETIK
Nachdem der Gesetzentwurf aufgrund all dessen heftig in der Kritik stand, wurde er vor seiner Verabschiedung noch einmal nachgebessert. Allerdings handelt es sich hierbei nur um kosmetische Änderungen. Denn weder ändert das nun auch im Gesetzestext festgeschriebene Verbot der Identifizierung einzelner VersammlungsteilnehmerInnen etwas an dem Abschreckungs- und Einschüchterungspotential der Videoaufnahmen, noch genügt die in den Text hinzugefügte zwingende Information des/der die Versammlung Leitenden. Bei Videoüberwachung im öffentlichen Raum gilt, dass alle Betroffenen über die Anfertigung der Bilder durch die Behörde informiert werden müssen. Dem widerspricht es, den/die Versammlung Leitenden sozusagen zum verlängerten Arm der Polizei zu machen, indem nur er/sie diese Information erhält und weiterleiten muss, damit die Betroffenen davon erfahren.
GESETZ GILT, POLIZEI VERSTÖßT DAGEGEN
Nichts desto trotz hat die Koalition ihr oberstes Ziel – die Inkraftsetzung der neuen Regelung bis zum 1. Mai – erreicht. Von mehreren Versammlungen wurden am 1. Mai Übersichtsaufnahmen angefertigt, die VersammlungsteilnehmerInnen aber natürlich nicht informiert. Im Innenausschuss musste der Polizeipräsident zudem einräumen, dass vielfach nicht einmal die die Versammlung Leitenden von den Aufnahmen in Kenntnis gesetzt wurden. Damit wurden nicht einmal die geringfügigen Anforderungen der neuen Regelung eingehalten. Konsequenzen hat das nicht – und die Polizei hat ihre Bilder.
ABSCHAFFUNG GEFORDERT
Immerhin fordert nun die Opposition in einem bereits ins Abgeordnetenhaus eingebrachten Antrag unter dem Titel »Wiederherstellung der Versammlungsfreiheit«(11) die Abschaffung der neuen Regelung. In der Begründung heißt es u.a.: »Dieses Gesetz stellt eine Kriminalisierung all jener dar, die von ihren Grundrechten auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit Gebrauch machen«. Urheber dieses Satzes sowie der weiteren Begründung des Antrags war aber nicht etwa die Opposition selbst, sondern ein SPD-Landesparteitag.(12) Die SPD-Basis hatte einen von den Jusos eingebrachten entsprechenden Antrag verabschiedet. Doch ob sich die SPD-Abgeordneten dadurch dazu hinreißen lassen, dem Oppositionsantrag zuzustimmen und die Übersichtsaufnahmen wieder abzuschaffen, bleibt äußerst fraglich. Nicht zuletzt, weil das wohl zu einer Krise in der Koalition führen würde. Zu hoffen ist daher auf das Bundes- oder Landesverfassungsgericht. Die Oppositionsparteien haben bereits geäußert, das Landesverfassungsgericht im Wege der Normenkontrolle anrufen zu wollen. Bis dahin bleibt es den DemonstrantInnen vorbehalten, kreativ (aber natürlich, ohne der Polizei Vorwände zu liefern, wegen vermeintlicher Verstöße gegen das Vermummungsverbot die Versammlung zu stoppen und Strafverfolgungsmaßnahmen einzuleiten) mit der polizeilichen Übersichtskontrolle umzugehen.
Anja Heinrich ist Rechtsreferendarin in Berlin und Bundesvorstandsmitglied der Humanistischen Union (Ressort: Versammlungsrecht, Polizeikontrolle).
Dr. Anna Luczak arbeitet als Rechtsanwältin mit den Schwerpunkten Polizei-/Versammlungsrecht sowie politisches Strafrecht in Berlin.
Fußnoten:
(1) BVerfG 65, 1, 43 – so genanntes Volkszählungsurteil. Dass Demonstrationsteilnehmer die polizeiliche Überwachung von Demonstrationen sehr negativ wahrnehmen, zeigt eine aktuelle Studie (vgl. RAV-Infobrief #107, 2012).
(2) §§ 19a i.V.m 12a VersammlG des Bundes.
(3) OVG NRW, 23.11.2010, Az. 5 A 2288/09, vorgehend VG Münster, 21.8.2009, Az. 1 K 1403/08 (vgl. Urteilsanmerkung in RAV-Infobrief #103, 2010); VG Berlin, 5.07.2010, Az. 1 K 905/09 (Berufung noch offen).
(4) BVerfG, 1 BvR 2492/08 Rn. 130
(5) Berliner Abgeordnetenhaus, Drs. 17-0642, S. 3.
(6) Berliner Abgeordnetenhaus, Drs. 17-0642, S. 4.
(7) Berliner Abgeordnetenhaus, Drs. 17-0642, S. 6.
(8) BVerfG 69, 315 (353) - Brokdorf-Beschluss.
(9) Berliner Abgeordnetenhaus, Drs. 17-0642 S. 5f. und Inhaltsprotokoll InnSichO 17/26 S. 10.
(10) BVerfG, 1 BvR 2492/08 Rn. 130.
(11) Berliner Abgeordnetenhaus, Drs. 17-1054.
(12) Beschluss vom 25.05.2013.