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Systematische Diskriminierung

SACHSEN: BÜRGERSCHAFTLICHES ENGAGEMENT IM VISIER DER STRAFVERFOLGER

VON GRIT HANNEFORTH UND FRIEDEMANN BRINGT

 

Mit den Worten »Das ist sächsische Demokratie« kommentierte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) das harsche Auftreten sächsischer Behörden und den massiven Polizeieinsatz gegen Demonstrierende, die gegen den Naziaufmarsch am 19. Februar 2011 in Dresden auf die Straße gingen. Thierse hatte sich an diesem Tag selbst an den Protesten beteiligt. Vor JournalistInnen beklagte er, dass drei Naziveranstaltungen zugelassen, die Rechte der demokratischen DemonstrantInnen dagegen eingeschränkt worden seien.

Einige Monate nach den Ereignissen des 19. Februar 2011 deckte die taz auf, dass sowohl während der Demonstrationen 2010 als auch 2011 mittels Funkzellenabfragen Mobilfunkdaten in bisher ungeahntem Ausmaß und auf Basis einer zweifelhaften Richterentscheidung von den sächsischen Innenbehörden erfasst wurden. Während der diesbezüglichen Debatten im sächsischen Landtag wurde das Ausmaß der Datenabfrage immer deutlicher, die Wahrheit hingegen kam nur scheibchenweise ans Licht.

War am Anfang der Debatte noch von Verkehrsdaten die Rede – also Daten über Datum, Uhrzeit und Kennung der Kommunikation, Standortdaten etc. – so wurde schnell klar, dass auch Bestandsdaten wie Namen, Adressen und Geburtsdaten von 40.000 Menschen erfasst worden waren. Da die Datenabfrage neben dem 13. Februar 2011 auch den 18. und 19. Februar 2011 – also ca. 48 Stunden am Stück – umfasste, war es auch möglich, aus den vorliegenden Daten Bewegungsprofile Einzelner zu erstellen. Im weiteren Verlauf wurde deutlich, dass mehr als eine Million Datensatze von knapp 300.000 Personen erhoben worden sind. Der vom Dresdener Landtag mit der Untersuchung beauftragte Sächsische Datenschutzbeauftragte Andreas Schurig ermittelte, dass »mehrfach gegen gesetzliche Vorgaben verstoßen [wurde]«.

Erfasst man auf der Suche nach einem oder mehreren GewalttäterInnen – dabei muss es sich um schwerwiegende Straftaten handeln – 40.000 unverdächtige BürgerInnen, dann kann von Angemessenheit des Mittels keine Rede mehr sein. Außerdem sind im Vorwege mildere Mittel zu prüfen. Zudem war klar, dass sich auch BerufsgeheimnisträgerInnen wie AnwältInnen, Abgeordnete, PfarrerInnen, JournalistInnen u.a. in diesem Gebiet befinden.

Die Polizei hätte schon alleine aufgrund dieser Information von der Datenerfassung Abstand nehmen müssen – selbst bei vorliegender richterlicher Entscheidung. Das bestätigt auch der Verfassungsrechtler der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, Joachim Wieland.(1) Warum die Situation von der sächsischen Polizei und vom Ermittlungsrichter anders bewertet wurde, versucht der sächsische Landtag zu klären. Warf dieses Rechtsverständnis schon ein getrübtes Licht auf das sächsische Demokratieverständnis, so musste der sächsische Innenminister Markus Ulbig (CDU) auch noch bestätigen, dass Polizei und Staatsschutz einzelne Gesprächsinhalte mitgehört haben.

ARROGANZ DER MACHT?

Die betroffenen Behörden wiesen jeglichen Vorwurf des Fehlverhaltens aggressiv von sich: Der stellvertretende Leiter der Polizeidirektion Oberes Elbtal/Osterzgebirge, Andreas Arnold, stellte wegen der eingangs zitierten Äußerung Strafanzeige gegen Wolfgang Thierse wegen »Beleidigung sächsischer Polizisten und Einsatzkräfte aus den anderen Bundesländern durch einen der höchsten Repräsentanten der Bundesrepublik«. Ganz große Geschütze fuhr auch der Präsident des Oberlandes00gerichts Dresden, Ulrich Hagenloch, auf: Er verwahrte sich mit einer geharnischten Erklärung gegen den Bericht des Sächsischen Datenschutzbeauftragten und warf ihm einen »Verstoß gegen das Sächsische Datenschutzgesetz« und einen »Eingriff in das verfassungsrechtliche Prinzip der Gewaltenteilung« vor.

Konsequenzen aus der »Handygate«-Affäre ließen sich jedoch selbst in Sachsen nicht vermeiden: Weil er »seine Vorgesetzten unzureichend über das Ausmaß informiert« habe, musste Dresdens Polizeipräsident Dieter Hanitsch im Sommer 2011 seinen Hut nehmen. Ein Bauernopfer, denn seine direkten Dienstvorgesetzten Landespolizeipräsident Bernd Merbitz und Innenminister Ulbig blieben im Amt. Sachsen hat zudem kürzlich eine Bundesratsinitiative vorgestellt, um die Bedingungen für Datenabfragen in der Strafprozessordnung klarer zu formulieren ...

DURCHSUCHUNGEN BEI PFARRER LOTHAR KÖNIG IN ERFURT

Die Ermittlungen der Polizei wegen der Blockaden am 19. Februar 2011 nehmen seitdem immer absurdere Züge an: Am frühen Morgen des 10. August 2011 durchsuchten sächsische PolizistInnen auf Ersuchen der Dresdner Staatsanwaltschaft die Wohnung und Diensträume des Jenaer Jugendpfarrers Lothar König. Er soll aus dem Lautsprecherwagen der Jungen Gemeinde Jena heraus zu Blockaden und Straftaten aufgerufen haben. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft Dresden gegenüber dem Pfarrer: schwerer aufwieglerischer Landfriedensbruch. Filmmaterial widerlegt diese Vorwürfe deutlich.(2)

Aus Sorge über die »politische Unzuverlässigkeit« der Thüringer AmtskollegInnen unterließen es die sächsischen BeamtInnen zunächst sogar, das Thüringer Innenministerium – wie sonst üblich – rechtzeitig über die Hausdurchsuchung zu informieren und KollegInnen mit Ortskenntnis einzubeziehen.(3)

Mehrere Bündnisse, Kirchen und PolitikerInnen protestieren gegen die Kriminalisierung, auch die BAG Kirche & Rechtsextremismus.(4) So kritisierte die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) die Razzia der sächsischen Polizei scharf. Ihre Bischöfin Ilse Junkermann erklärte, die von der Dresdner Staatsanwaltschaft initiierte Aktion sei skandalös. Mit der Durchsuchung der Räume und der Beschlagnahme von Datenträgern aus dem Besitz des Pfarrers werde das Seelsorgegeheimnis gefährdet. Junkermann deutete an, dass die Kirche das Vorgehen der Polizei und Staatsanwaltschaft aus Sachsen für rechtswidrig hält. Die Präsidentin des Landeskirchenamtes der EKM, Brigitte Andrae, sprach von einem gravierenden Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Kirche.

HINTERGRUND: DER 13. FEBRUAR IN DRESDEN

Am 13./14. Februar 1945 bombardierten britische und us-amerikanische Bomber die Stadt. Dieser Bombenangriff ist bis heute sowohl in Dresden, als auch weit darüber hinaus umstritten. Eine lautstarke Minderheit Dresdner BürgerInnen mag von der Mittäterschaft der Dresdner Bevölkerung im Nationalsozialismus bis heute nichts wissen: Dresden hatte gemessen an der Einwohnerzahl die meisten NSDAP-Mitglieder in Deutschland und war sowohl als Offiziersausbildungs- als auch als Kasernenstandort des Heeres und als Rüstungs- und Versorgungsstandort der Wehrmacht von Bedeutung. Die weltbekannte Frauenkirche wurde 1943 vom Reichsbischof Ludwig Müller der NS-hörigen Deutschen Christen zum »Dom der Deutschen Christen« geweiht. Das Trauma der Zerstörung der Stadt verschließt noch immer eine Bearbeitung von Schuld, Verdrängung und Opfermythos.

Daher ist es wenig verwunderlich, dass Neonazis aller Couleur in Dresden leichtes Spiel haben, wenn sie – seit 1997 regelmäßig und mit größer werdendem Zulauf – Tatsachen verdrehen, revisionistisch Trauermärsche organisieren und vom »Bombenholocaust« gegen die deutsche Zivilbevölkerung faseln. Die sogenannten Trauermärsche von NPD und Junger Landsmannschaft Ostdeutschland sind heute die größten Neonaziaufmärsche in Europa. Sie konnten, weitgehend unbehelligt von sächsischen Behörden und der Dresdner Stadtverwaltung über Jahre durch Dresden ziehen und so ihre internationale Bedeutung entwickeln. Gegendemonstrationen wurden von Behörden als Störfaktor bewertet und behandelt. Traditionell melden Neonazis den Trauermarsch an dem Samstag an, der dem 13. Februar am nächsten liegt. In 2011 war es der 19. Februar.

Die Proteste an diesem Tag erlangten bundesweite Aufmerksamkeit. Allerdings waren die Schwerpunkte der Berichterstattung sehr unterschiedlich. Während in sächsischen und ostdeutschen Medien der Fokus auf den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und DemonstrantInnen lag, berichteten die überregionalen Medien vorwiegend über die gelungenen Blockaden.

Seit diesem 19. Februar 2011 kommen Sachsen und mittlerweile die gesamte Bundesrepublik nicht mehr zur Ruhe. Nachdem die Nazidemonstrationen durch viele Tausend, zumeist friedliche Demonstrierende aus der gesamten Bundesrepublik und dem benachbarten Ausland blockiert wurde, verfolgen Dresdner Staatsanwaltschaft und sächsische Innenbehörden alle Organisator­Innen der Blockadeorganisationen oder Personen, die sie dafür halten.

MIT ALLEN MITTELN DEN RECHTSSTAAT UNTERMINIEREN

Bereits am Abend des 19. Februar 2011 wurde ein Gebäude der Dresdner Linkspartei von Poli­zei­einsatzkräften gestürmt, weil darin Menschen vermutet wurden, die zu Angriffen auf PolizistInnen aufgerufen hätten. Dabei wurden auch rechtswidrig die Räume einer Rechtsanwaltskanzlei aufgebrochen und durchsucht. Die Ermittlungsrichter des Dresdner Amtsgerichtes wiesen mit ihrem Beschluss vom 29.??September 2011 (AZ 270 Gs 662/11) die Dresdner Staatsanwaltschaft und Ermittlungsbehörden in ihre Schranken. Kürzlich wurde dem Verein, dessen Räume versehentlich gestürmt wurden, Schadenersatz zugesprochen.

Die drastischen Maßnahmen der sächsischen Innenbehörden im Februar 2011 haben eine Vorgeschichte, die zu den erfolgreichen Blockaden des Jahres 2010 zurückreicht. Die Dresdner Staatsanwaltschaft ging 2010 im Vorfeld des Naziaufmarsches gegen die zu Blockaden Aufrufenden vor, beschlagnahmte Plakate und durchsuchte Büros. Das schuf bundesweit eine ungeahnte Welle der Solidarität und Tausende aus der gesamten Bundesrepublik und den Nachbarländern kamen 2010 zu den Gegendemonstrationen, die nicht zuletzt deshalb ein riesiger Erfolg wurden.

Kurz nach den erfolgreichen Blockaden 2010 begann die Dresdner Staatsanwaltschaft, gegen Mitglieder des Blockadebündnisses »Dresden Nazifrei« wegen Aufrufs zu einer Straftat und Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz zu ermitteln. Diese Ermittlungen trafen insbesondere Abgeordnete der Linkspartei aus Sachsen, Thüringen und dem Bundestag. Ihnen wurde angeboten, das Verfahren gegen Zahlung einer Geldbuße im mittleren dreistelligen Bereich einzustellen. Die Betroffenen weigern sich aber bisher, einer Bußzahlung zuzustimmen.

Gleichzeitig reichte die NPD Klage ein, um feststellen zu lassen, ob die Polizei alle zur Verfügung stehenden Mittel ausgeschöpft habe, um dem »Trauermarsch« zu seiner angemeldeten Route zu verhelfen. Diese Klage wurde dann sehr zum Erstaunen vieler juristischer ExpertInnen bereits im Januar 2011, also noch vor dem erneut zu erwartenden Großaufmarsch der NPD, verhandelt. Das ist ein arg beschleunigtes Verfahren für sächsische Gerichte. Das Ergebnis: Die Polizei hätte 2010 nicht ausreichend dafür gesorgt, dass die NPD marschieren darf. Damit waren die Weichen für den Februar 2011 gestellt.

Die Stadtverwaltung Dresden verlegte – dem Urteil des sächsischen Verwaltungsgerichtes folgend – alle Proteste gegen den Naziaufmarsch auf das rechte Elbufer Dresdens. Die Demonstrationen und Kundgebungen der Neonazis sollten hingegen auf der linkselbischen Stadtseite stattfinden. Mit dieser vermeintlichen Trennung der Gruppen waren alle Vorbereitungen, sowohl bei den DemonstratInnen als auch bei der Polizei hinfällig und so begann der 19. Februar 2011 mit einer komplett unübersichtlichen Situation. Natür­lich ließ sich keiner der GegendemonstrantInnen von seinem demokratischen Grundrecht des Protests in

Sicht- und Hörweite abhalten. Und so versammelten sich am 19. Februar 2011 viele Menschen, DemokratInnen und Neonazis, Polizei und JournalistInnen auf der linkselbischen Seite Dresdens.

MASSIVER EINGRIFF IN FREIHEITS- UND GRUNDRECHTE

Zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus und die Opposition im sächsischen Landtag sehen in dem Vorgehen von Innenbehörden und Staatsanwaltschaft im Nachgang der Februar-Demonstrationen 2010 und 2011 eine Kriminalisierung engagierter BürgerInnen und einen massiven Eingriff in die Freiheits- und Bürgerechte. Die erfolgreiche Blockade von 2010 war den sächsischen Behörden, Verwaltungsgerichten, Staatsanwaltschaft, Innenministerium und Polizei, offensichtlich zu viel des engagierten Bürgerwillens auf Sachsen Straßen. Was in anderen Städten wie Jena, Wunsiedel, Erfurt, Dessau, Lübeck, Hamburg, Berlin, etc. als zivilgesellschaftlicher Erfolg gefeiert wird und die öffentliche Unterstützung von politisch Verantwortlichen erfährt, ist in Sachsen verdächtig und ein Grund Menschen abzuhören, zu kriminalisieren und in ihrem Engagement zu verunsichern.

Dass sich die sächsische Staatsregierung nach vier Jahren erstmalig weigert, den renommierten Sächsischen Demokratiepreis von der Stiftung Dresdner Frauenkirche und der Kulturstiftung Dresden der Dresdner Bank gemeinsam mit der Amadeu Antonio Stiftung und der Freudenberg Stiftung zu verleihen, weil letztgenannte Stiftungen die sogenannte Extremismusklausel ablehnen, fügt sich wie ein weiteres Puzzelteil ins Bild »sächsischer Demokratie«.

Welches Rechtsverständnis, welches Demokratieverständnis hat der Freistaat Sachsen und seine Behörden? Diese Frage stellen sich viele BeobachterInnen dieser Tage. In Stuttgart führten Demonstrationen und bürgerschaftliches Engagement zu einer Mediation, zu Stresstests, zu einem sensationellen Regierungswechsel. In Sachsen führen legaler Protest und legitime Blockaden zu Kriminalisierung, Überwachung und tiefem Misstrauen zwischen engagierter Bürgerschaft und Staat.

Doch der Unmut bei den Menschen in Sachsen und darüber hinaus wächst. Immer mehr BürgerInnen wollen gegen Neonazis auf die Straße gehen und ihr Grundrecht auf Gegendemonstration in Sicht- und Hörweite der Neonazis wahrnehmen. Jede und jeder soll dabei die passende Protestform finden, von der Kundgebung, über Menschenketten und Mahnwachen, Friedensgebeten, Protest in Sicht- und Hörweite bis hin zu Blockaden.

Diesen vielfältigen Protestformen ohne Diffamierung und Kriminalisierung Ausdruck zu verleihen entspricht dem Willen der BürgerInnen und den Bürger- und Freiheitsrechten. Diesen wieder Raum, Stimme und Gesicht zu verleihen – gerade in Sachsen, das so stolz auf die Demonstrationen im Herbst 1989 ist – ist die Aufgabe für den Februar 2012.

 

Grit Hanneforth ist Geschäftsführerin des Kulturbüros Sachsen e.V. Friedemann Bringt engagiert sich in der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche für Demokratie – gegen Rechtsextremismus (BAG Kirche & Rechtsextremismus).

Fußnoten

1      Dresdner Handy-Datenaffäre: Polizei und Staatsanwaltschaft wussten, dass sie Grenzen überschritten, Leipziger Internet Zeitung, 18.9.2011, www.l-iz.de

2      Frontal21 vom 30.9.2011. Die Aufnahmen sind in der ZDFmediathek zu finden.

3      Pressemitteilung der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag vom 27.9.2011

4      Presseerklärung der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus vom 10.8.2011