Sie sind hier: RAV > PublikationenInfoBriefeInfobrief #106, 2011 > Du sollst nicht falsch Zeugnis reden

Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten!

POLIZEILICHE TATBEOBACHTER ALS ZEUGEN VOR GERICHT

VON ANDREAS BLECHSCHMIDT

Seit den 1990er Jahren werden im Zusammenhang mit Demonstrationen und vergleichbaren polizeilichen Lagen Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) bei den Bereitschaftspolizeien und der Bundespolizei eingesetzt. Die Gründung der BFE-Einheiten geht auf die polizeilichen Erfahrungen mit Demonstrationen zurück, bei denen es den Kräften der Bereitschaftspolizei selten gelang, Festnahmen zu präsentieren, die später vor Gerichten zu Verurteilungen führten.

Das entsprechend geschaffene taktische Einsatzkonzept besteht in BFE-BeamtInnen, die sich als "Tatbeobachter" innerhalb oder unmittelbar am Rande z. B. einer Demo in zivil und szene­typischem Aussehen bewegen. Diese Observationskräfte sind geschult, sogenanntes Tat- und Täterverhalten zu erkennen, um es zu beobachten und zu dokumentieren. Dazu werden Verdächtige durch die Tatbeobachter lückenlos observiert, diese entscheiden dabei selbstständig, auf wen sie sich konzentriert, da es auf Festnahmen ankommt, bei denen sie glauben, gerichtsfeste Beweise für eine strafbare Handlung vorweisen zu können.

Die Festnahmen erfolgen nach verdeckten Zuweisungen an uniformierte KollegInnen der BFE, die diese dann unter taktisch guten Bedingungen durchführen. Nach der Festnahme läuft ein Szenario der Beweissicherung ab, das in Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften und polizeilichen RechtsexpertInnen entwickelt wurde und sicherstellen soll, dass die BFE-BeamtInnen später in einem Gerichtsverfahren eindeutige "Beweise" präsentieren können. Ebenso werden sie auf die Befragung durch AnwältInnen der Beschuldigten vorbereitet, um sich nicht verunsichern zu lassen. Alles in allem soll am Ende eine Verurteilung stehen.

EIN AKTUELLER FALL AUS HAMBURG

Dass dieses polizeiliche Konzept nicht immer zu den gewünschten Resultaten führt und die gerichtliche Verwertbarkeit der polizeilichen Zeugenaussagen für die Verurteilung von Beschuldigten zuweilen fragwürdig ist, zeigt ein aktueller Fall aus Hamburg.

Der Beschuldigte S. wurde der gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit dem Vorwurf der Gefangenbefreiung und des Widerstands gegen PolizeibeamtInnen vor dem Amtsgericht angeklagt. Demnach sollte er mit Unterstützung zweier Begleitpersonen bei einem der Hamburger Schanzenfeste eine BFE-Einheit der Hamburger Polizei zweimal mit Pfefferspray attackiert und so letztlich die Festnahme einer Person verhindert haben. Beobachtet haben wollten dies zwei zivile Tatbeobachter einer anderen schleswig-holsteinischen BFE-Einheit. Diese observierten und verfolgten den Beschuldigten und seine Begleitung, schließlich nahmen die uniformierten BFE-KollegInnen der beiden Tatbeobachter S. und eine Begleitperson fest, die dritte Person konnte sich der Festnahme entziehen.

Aus der der Anklage zugrunde liegenden Ermittlungsakte ging aus dem gemeinsamen?(!) Festnahmebericht der zivilen Tatbeobachter hervor, dass der Beschuldigte S. sich nach einer ersten Pfeffersprayattacke zunächst wieder zu seinen beiden abseitsstehenden Begleitpersonen begeben habe. Die beiden Personen hätten den Täter beglückwünscht, es sei eine weitere Pfefferspraydose aus einem Rucksack hervorgeholt worden, der Beschuldigte sei noch einmal auf die Hamburger BFE-Einheit zugegangen, um diese erneut zu attackieren. Der gesamte Tathergang habe ca. fünf Minuten gedauert. Da der Beschuldigte unvermummt gewesen und anhand seiner Kleidung für die Tatbeobachter einwandfrei identifizierbar gewesen sei, sei eine Verwechselung ausgeschlossen.

Aus Sicht des Beschuldigten S. hatte sich das Geschehen anders zugetragen. Er habe mit zwei Freunden eine BFE-Einheit, die bei einer Festnahme durch Umstehende mit Gegenständen beworfen wurde und sich durch den Einsatz von Pfefferspray wehrte, beobachtet. Er habe auch einen Unbekannten beobachtet, der die BeamtInnen offenbar mit Pfefferspray anging. Er selbst habe ein Erste-Hilfe-Spray aus einem Rucksack entnommen, um Betroffenen des polizeilichen Pfeffersprayeinsatzes zu Hilfe kommen zu können. Nachdem er sich eine Weile später schließlich mit seiner Begleitung vom Geschehen entfernt habe, sei er und einer seiner Begleiter kurz darauf völlig unerwartet festgenommen worden. Die festnehmenden BFE-BeamtInnen protokollierten bei S. tatsächlich nur ein mitgeführtes Erste-Hilfe-Spray.

DAS TYPISCHE DILEMMA DER VERTEIDIGUNG

Für die Verteidigungsstrategie war zunächst eine "Antizipation der mutmaßlichen gerichtlichen Beweiswürdigung" notwendig, die zu folgender Einschätzung führte: Eine Einlassung des Beschuldigten allein würde als bloße Schutzbehauptung qualifiziert werden. Auch eine Aussage der begleitenden und selbst beschuldigten zweiten Person würde als Gefälligkeitsaussage bzw. Schutzbehauptung in eigener Sache gewertet werden. Selbst eine die Version des S. stützende Aussage durch den dritten nicht Festgenommenen würde allein dazu führen, dass er sich selbst der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzt. Keinesfalls würde das Gericht den dritten Begleiter aber als glaubwürdigen Zeugen akzeptieren. Insoweit ließ sich der Beschuldigte S., dessen Verfahren von dem der zweiten Person abgetrennt wurde, zwar mit einer Erklärung zur Sache ein, ansonsten war es das Ziel, die angeklagte Täterschaft durch das Herausarbeiten von Widersprüchen der Aussagen der Hauptbelastungszeugen infrage zu stellen.

Der Verlauf der erstinstanzlichen Verhandlung bestätigte allerdings wesentlich die im Voraus skizzierte Antizipation der Beweiswürdigung des Gerichts. Die ausführliche Befragung der polizeilichen Hauptbelastungszeugen sowie die von der Pfeffersprayattacke betroffenen BeamtInnen legte zwar gravierende Widersprüche bezüglich der Zuverlässigkeit der Wahrnehmung der beiden Tatbeobachter und zeitlichen Abläufen offen. Doch das zuständige Amtsgericht ließ sich davon nicht zugunsten des Beschuldigten beeindrucken.

Die Richterin folgte der oft zu beobachtenden Bereitschaft von erkennenden Gerichten, entweder Aussagen von PolizistInnen, die sich bis in einzelne Formulierungen in der Befragung durch die Verteidigung decken, als Beleg zu werten, dass sich ein angeklagtes Geschehen nur so zugetragen hat, was sich durch übereinstimmende Aussagen gerade zeige. Oder es werden andernfalls widersprechende Aussagen von polizeilichen Zeugen durch Gerichte zu einem Kerngeschehen destilliert, das Tathandlungen zumindest in der Substanz bestätige.

Widersprüche werden dann nicht zu Zweifeln, die zugunsten eines Angeklagten ausfallen, sondern als Beleg eines nicht bestehenden Belastungsinteresses von PolizistInnen gewertet, das übrigens im Fall auffällig übereinstimmender Aussagen nie thematisiert wird. Zudem sind Widersprüche dann eben nachvollziehbarer Ausdruck schwindender Erinnerungen wegen Zeitablaufs oder sie werden schlicht in der Urteilsfindung ignoriert.

Im Falle des S. entschied sich das erstinstanzliche Gericht für die letzte Variante und verurteilte den Beschuldigten zu einer siebenmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung. Das Gericht stützte sich auf die Überzeugung, dass an seiner Wiedererkennung keine Zweifel bestünden. Die Tatsache, dass es nur einen gemeinsamen Bericht der Hauptbelastungszeugen gab, kritisierte das Gericht zwar, die Frage der Verwertbarkeit einer solchen "gemeinschaftlichen" Aussage wurde nicht problematisiert.

Widersprüche im tatsächlichen und zeitlichen Ablauf seien der chaotischen und unübersichtlichen Einsatz­situation geschuldet, die eben zu differierenden Wahrnehmungen der Zeugen geführt hätten. So hatten die Tatbeobachter "anschaulich" zwei Pfeffersprayattacken des S. innerhalb von mehreren Minuten geschildert. Die betroffenen BeamtInnen der BFE-Einheit hatten sich aber auf eine einmalige Attacke festgelegt, der man sich binnen Minutenfrist entzogen habe. Selbst diese gravierende Differenz unter Berücksichtigung der Einlassung des S. konnte nach der Überzeugung des Gerichts die belastenden Polizeizeugen nicht widerlegen.

EIN VERFAHREN OHNE KONSEQUENZEN

Es bedurfte der Berufungsinstanz vor dem Landgericht und einer Kammer, die unter dem Eindruck einer erneuten ausführlichen Befragung der polizeilichen Hauptbelastungszeugen ahnte, dass es zwar einen Pfeffersprayangriff auf die BFE-Einheit gegeben hatte, dass aber aufgrund des geschilderten Ablaufs durch die Tatbeobachter nicht S. der Täter gewesen sein konnte. Vermutlich hätte auch das Landgericht eine Reihe von Widersprüchen hingenommen, wenn nicht in der zweiten Instanz durch die Verteidigung eingeführte Videoaufnahmen der vom Angriff betroffenen BFE-Einheit sowie das Nachstellen des angeblichen Tatablaufs im Gerichtssaal die Aussage der beiden Tatbeobachter widerlegt hätte. Die nicht in Übereinstimmung zu bringende Darstellung der Belastungszeugen einerseits und der betroffenen BeamtInnen andererseits wurde durch die Videoaufnahme belegt, anhand derer sich der Beginn einer einzelnen Attacke und der Rückzug innerhalb kürzester Zeit nachvollziehen ließen. Dies schließlich führte zum Freispruch des Beschuldigten. Für die beiden angeblich besonders ausgebildeten Tatbeobachter blieb das Verfahren ohne Konsequenzen. Zu diesen stellte das Landgericht lediglich fest, sie hätten sich wohl in ihren Wahrnehmungen geirrt.

 

Andreas Blechschmidt, freier Autor der Berliner Wochenzeitung jungle world, ist langjähriger Mitarbeiter eines Hamburger Anwaltsbüros.