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Tagungsbericht 1. Berliner Gefangenentage

von Sebastian Scharmer

Unter dem Motto »In dubio pro securitate – Sicherheitsbedürfnis contra Resozialisierung?« fanden vom 28. bis zum 29. Mai 2010 die ersten Berliner Gefangenentage an der Humboldt–Universität statt. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Arbeitskreis Strafvollzug der Strafverteidigervereinigung (Berlin) in enger Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis kritischer Juristinnen und Juristen und dem RAV. Die Veranstaltung war mit täglich um die 60 TeilnehmerInnen gut und vor allem gut durchmischt besucht. Während am Freitag schwerpunktmäßig Anwältinnen und Anwälte an der Fortbildung teilnahmen, setzten sich die Podien am Samstag neben AnwältInnen auch aus VollstreckungsrichterInnen, Studierenden, ReferendarInnen, PsychologInnen und Fachpresse teils aus mehreren Bundesländern zusammen.

Nach der Konzeption der Veranstalter sollte die Tagung eine Fortbildung mit einer rechtspolitischen Diskussion über die aktuellen Entwicklungen in den Haftanstalten verbinden. Während es bei der Fortbildung darum ging, die notwendigen (Grund–)Kenntnisse im Strafvollzugs– und Vollstreckungsrecht zu vermitteln, orientierte die Diskussion auf Entwicklungen bei den Vollstreckungsgerichten und in der öffentlichen Wahrnehmung – gerade auch in Hinblick auf die nunmehr rechtskräftige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 17. Dezember 2009.

Am Freitag wurde in etwas mehr als vier Stunden versucht, einen umfassenden Überblick über Rechtsgrundlagen, Antragswege und einschlägige vollstreckungs– sowie verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zu vermitteln. Die Rechtsanwältinnen Diana Blum, Dr. Annette Linkhorst und Rechtsanwälte Lawrence Desnizza sowie Björn Tessen referierten anhand von Folien in der für die Masse an Stoff gebotenen Kürze über die wichtigsten praktischen Probleme im Strafvollzug, Jugendstrafvollzug, Maßregelvollzug, sowie zu wichtigen vollstreckungsrechtlichen Fragen, wie §§ 57f. StGB, § 35 BtMG und § 456a StPO. Nach der Tagung wurde ein umfangreiches Tagungsskript an alle Interessierten versandt. Weil eine vollständige Aufarbeitung aller Probleme des Strafvollzugs– und Vollstreckungsrechts innerhalb von vier Stunden natürlich nicht erfolgen kann, war hier zunächst Ziel, auch KollegInnen und Interessierten, die ansonsten wenig Erfahrung mit dem Gebiet haben, die wichtigsten Punkte zu verdeutlichen. Dies ist meiner Ansicht nach gelungen.

Beim anschließenden gemeinsamen Abendessen bestand die Möglichkeit, Erfahrungen auszutauschen und Kontakte zu knüpfen.

Am Samstagmorgen hielt Prof. Dr. Feest zunächst einen Festvortrag zum Thema »In dubio pro securitate?« Der Vortrag kritisierte die Tendenz des Strafrechtssystems, sich verstärkt an Sicherheits– und nicht an Schuldaspekten zu orientieren. Messbare Sicherheit durch Strafe oder Maßregel zu schaffen, sei eine Illusion, die populistisch genutzt werde. Prof. Feest führte in nachvollziehbarer, empirisch belegter und im Übrigen auch durchaus unterhaltsamer Art aus, welche Entwicklung im Vollzug und Vollstreckung stattgefunden haben und was dem entgegengesetzt werden müsse (abgedruckt in diesem Heft).

Danach fanden sich die VeranstaltungsteilnehmerInnen in drei Arbeitsgruppen zusammen, um über Einzelprobleme mit ausgesuchten Spezialisten zu diskutieren.

In der Arbeitsgruppe 1 wurde unter Moderation von RAin Ursula Groos mit Prof. Dr. Saß, dem ärztlichen Direktor des UK Aachen und ehemaligen Präsidenten der DGPPN, sowie Herrn Zierep als langjährigem Leiter der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Tegel, über Behandlungsoptionen im Vollzug und die Auswirkungen auf die Kriminalprognose diskutiert.

RAin Ria Halbritter moderierte in der Arbeitsgruppe 2 die Diskussion über Rechtsschutz im Strafvollzug unter der Fragestellung »Renitenz auf beiden Seiten?« Prof. Dr. Feest diskutierte hier mit RiLG Buermeyer, der nach einer Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am BVerfG nunmehr in der Senatsverwaltung für Justiz arbeitet, statt mit Herrn VRiKG Weißbrodt, der leider kurzfristig erkankt war.

Die Arbeitsgruppe 3 beschäftigte sich unter der Moderation von RA Sebastian Scharmer mit der aktuellen Entwicklung der Sicherungsverwahrung. ReferentInnen waren MR Dr. Böhm, als Leiter der Abteilung allgemeines Strafrecht im Bundesministerium der Justiz, und RAin Dr. Woynar, als in diesem Bereich langjährig erfahrene und publizierende Strafverteidigerin und Kriminologin.

Am Nachmittag wurde auf dem Abschlusspodium, auf dem sich alle Referentinnen und Referenten unter der Moderation von RAin Ursula Groos zusammenfanden, kontrovers unter Einbeziehung der TeilnehmerInnen diskutiert.

Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass Gesetzgebung und Rechtsprechung über Gefangene, aber auch der Strafvollzug selbst, grundlegender Reformen bedürfen. Im Vordergrund muss das Ziel stehen, sinnvolle Behandlungsoptionen bereits zu Beginn des Vollzuges anzubieten. Wenn Strafvollzug mehr Sicherheit für die Allgemeinheit bringen kann, dann nicht durch unbefristetes Wegsperren, sondern durch für die Probleme der einzelnen Gefangenen optimierte Behandlungsangebote gerade (auch) zu Beginn der Vollstreckung, wo der Leidensdruck am Größten ist und die Tat noch in greifbarer Vergangenheit liegt.

Der Rechtsschutz für Gefangene bedarf ferner einer dringenden Reform, die ihm auch tatsächliche Effizienz verleiht. Ein konkreter Vorschlag war zumindest die Rechtsprechung, ähnlich wie im Verwaltungsrecht, soweit fortzubilden, dass Gefangene sie begünstigende Entscheidungen der Vollstreckungsgerichte notfalls auch mit Zwangsmitteln gegen die JVAen durchsetzen können. Zudem soll in solchen Fällen häufiger und konsequenter auch die jeweilige Aufsichtsbehörde angerufen werden. Es sollte daran gedacht werden, weite Ermessenspielräume der JVAen gesetzlich zu beschränken und auch nach aktueller Rechtslage viel häufiger auf Ermessensreduktionen hin zu prüfen. Außerdem bedarf es außerhalb gerichtlicher Rechtsschutzmechanismen anderer Wege um Konflikte von JVA und Gefangenen zu lösen, wie beispielsweise Ombudsmänner oder Mediationsverfahren. Sinnvoll sind solche Optionen aber nur dann, wenn sie mit entsprechend wirkungsvollen Einflussmöglichkeiten ausgestattet sind.

Nicht einigen konnten sich die Tagungsteilnehmer auf eine Perspektive des deutschen Strafrechts gänzlich ohne Sicherungsverwahrung, wie sie in vielen unser europäischen Nachbarländer praktiziert wird. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist – insoweit bestand weitestgehende Übereinstimmung – mit der durch die EGMR–Entscheidung vom 17. Dezember 2009 nunmehr bestandskräftigen Rechtsprechung nicht vereinbar und gehört abgeschafft. Gewaltfreie Vermögensdelikte, so die eindeutige Tendenz, die nunmehr auch durch den Gesetzentwurf des BMJ bestätigt wird, sollen in Zukunft ebenfalls eine Anordnung von Sicherungsverwahrung nicht mehr rechtfertigen dürfen. Festgestellt wurde von allen ReferentInnen und TeilnehmerInnen übereinstimmend, dass der derzeitige Vollzug der Sicherungsverwahrung mit unzureichenden (und im Übrigen viel zu spät greifenden) Behandlungsoptionen ausgestattet ist. Daher soll anders als bei der bisherigen Gesetzesentwicklung bei allen zukünftigen Vorhaben zur Sicherungsverwahrung stets bedacht werden, was eine Neuregelung im Vollzug bewirkt und wie die Länder diesen ausgestalten können (und wollen).

Die Veranstaltung war insgesamt eine Mischung zwischen sinnvoller Fortbildung und aussagefähiger rechtspolitischer und vor allem interdisziplinärer Diskussion über die Frage der (Neu–)Definition der Ziele des Vollzugs und deren (bislang mangelhafte) Umsetzung. Von allen ReferentInnen, den VeranstalterInnen, UnterstützerInnen und – soweit mitgeteilt – den TeilnehmerInnen war ausschließlich positives Feedback zu vernehmen. Natürlich war die Veranstaltung nicht umfassend und hatte auch keinen entsprechenden Anspruch. Für eine weitergehende notwendige Diskussion können insoweit aber vielleicht die zweiten Berliner Gefangenentage dienen.

 

Rechtsanwalt Sebastian Scharmer ist Gründungsmitglied des Arbeitskreises Strafvollzug und Mitorganisator der 1. Berliner Gefangenentage