Sie sind hier: RAV > PublikationenInfoBriefeInfobrief #101, 2008 > Kritik und Perspektiven der Bürgerrechtsbewegung in Deutschland

Kritik und Perspektiven der Bürgerrechtsbewegung in Deutschland

Wolfgang Kaleck

 
1. Der RAV hat sich in den letzten Jahren, insbesondere nach 2001, nicht nur als Interessenvertretung progressiver AnwältInnen verstanden, sondern war ein aktiver Teil der Bürgerrechtsbewegung.1, 2

Diese Tätigkeit findet ihren Ausdruck vor allem in der Herausgeberschaft des Grundrechtereports und der Teilnahme an den gemeinsamen jährlichen Treffen der wichtigsten Gruppen. Wenn ich daher als langjähriger RAV-Vorsitzender und Mitherausgeber des Grundrechtereports im folgenden Kritik an Inhalten und Methoden der Bürgerrechtsbewegung übe, ist dies nicht zuletzt auch eine Selbstkritik.

2. Die Bürgerrechtsbewegung in Deutschland besteht aus den neun Herausgeberorganisationen des Grundrechtereports, einigen weiteren in erster Linie berufsständischen Vereinen (Strafverteidigervereinigungen u. a.), einigen JournalistInnen, PolitikerInnen und AnwältInnen. Darüber hinaus wird zu einzelnen Themen mit progressiven und linken Gruppen zusammen gearbeitet, die sich nicht unbedingt als Bürgerrechtsorganisationen verstehen (Flüchtlings- und MigrantInnengruppen, Chaos-Computer-Club, Rote Hilfe, Ermittlungsausschüsse).  

Eine größere gesellschaftliche Wirkung hatte die Bürgerrechtsbewegung in den vergangenen drei Jahrzehnten nur, wenn sie entweder selbst weitere Kreise der Gesellschaft mobilisieren oder an Mobilisierungen anknüpfen konnte (Volkszählungsboykott in den 1980er Jahren, Kampf gegen die Abschaffung des  Asylgrundrechtes, Schily-Gesetzgebungsvorschläge 2001ff. und zuletzt G8-Gipfel in Heiligendamm). In solchen kurzen Momenten reagierte sie flexibel, konnte in kürzester Zeit kritisches Expertenwissen mobilisieren und erfüllte eine Scharnierfunktion zwischen linken Gruppen, den Bürgerrechtsliberalen, Medien und einer breiteren Öffentlichkeit.

3. Im politischen und juristischen Alltag ist die Bürgerrechtsbewegung zahlenmäßig zu klein, in zahlreiche, kaum miteinander verbundene Einzelorganisationen zersplittert und deswegen dauerhaft zu unprofessionell und ineffektiv. Nur in Einzelfällen (Terrorismusverfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der »militanten gruppe« 2007) oder zu Einzelthemen sind einige Gruppen und Einzelpersonen präsent und leisten gute anwaltliche Arbeit, ab und zu auch vernünftige Lobbyarbeit.

4. Vor allem sind die Organisation und die Arbeitsmethoden verbesserungswürdig. Ich muss zugeben, dass mich die Mischung aus Pragmatismus und Verbundenheit mit den verschiedensten sozialen Bewegungen fasziniert, die die US-Bürgerrechtsorganisationen, vor allem das Center for Constitutional Rights (CCR)3 und (letzteres in geringerem Masse) die American Civil Liberties Union (ACLU)4 auszeichnet. Deren Aktivitäten haben sowohl in professioneller Hinsicht (professionelles, durch Fundraisingaktivitäten finanziertes Public Interest Lawyering, professionelle begleitende Öffentlichkeitsarbeit) als auch inhaltlich (Gebrauch des Rechts als Instrument im Kampf um gesellschaftlichen Fortschritt, Gerichte als Foren des Protestes) eine wesentlich höhere Effizienz und einen höheren Wirkungsgrad – ohne dass sie sich politisch verbiegen müssten. In Europa erreichen allenfalls in London ansässige Organisationen wie Statewatch, Liberty und Justice vergleichbare Arbeit. Bei effektiverer Organisierung, besserer Vernetzung und Akquise würden sich für deutsche Organisationen Möglichkeiten bieten, die in den vergangenen Jahren nur selten genutzt wurden.

5. Die Bürgerrechtsbewegung ist in den vergangenen Jahren zu sehr von JuristInnen dominiert worden und zu sehr auf juristische Verfahren ausgerichtet gewesen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die juristische Arbeit ist integraler Bestandteil einer der Durchsetzung von Bürgerrechten dienenden Politik. Die Verteidigung von Bürgerrechten erfordert dabei die professionelle und engagierte anwaltliche Einzelfallarbeit, die sicherlich einer der größten Stärken der Bürgerrechtsbewegung im Allgemeinen und des RAV im Besonderen ist.

Es wäre jedoch sinnvoll für die deutsche Bürgerrechtsbewegung, wenn sie nicht ausschließlich in juristischen Kategorien denken und argumentieren würde. Nicht nur dass die Vermeidung von Redundanzen und der Gebrauch einer  allgemein verständlichen Sprache – im Kontext einer professionellen Öffentlichkeitsarbeit – schlagartig die Chancen verbessern würden, mehr als den oft sehr kleinen Kreis der ohnehin Eingeweihten und dem eigenen Anliegen Aufgeschlossenen zu erreichen. Insbesondere würde ein Überdenken der Fixierung auf juristische Verfahren die oftmals nur reaktive und deswegen fantasielose Vorgehensweise hin zu einer offensiven, umfassenden politischen Agenda ermöglichen.

Dies kann – wie die US-Organisationen gezeigt haben – durchaus in Verbindung mit juristischen Verfahren stehen, wenn nämlich Einzelfälle in einen größeren Kontext gestellt werden, wenn kollektive Rechte zum Gegenstand von Verfahren gemacht werden, wenn Gerichte als Foren des Protestes genutzt werden und der Protest nicht auf die Gerichtssäle beschränkt bleibt.

6. Ein Überdenken jahrelanger eingefahrener Mechanismen würde auch die  Möglichkeit bieten, sich thematisch, geografisch und politisch zu öffnen und dem Gegenstand des Anliegens unangemessene Beschränkungen aufzugeben.

7. So dient es weder einer profunden Analyse noch erhöht es die Chancen für tatsächliche Veränderungen, wenn deutsche Juristen- und Bürgerrechtsorganisationen, sich weiterhin auf den deutschen Rechtsraum und die Bundesrepublik Deutschland als Wirkungsfeld beschränken. Sicherlich ist diese Beschränkung u.a. auch einer antiquierten Juristenausbildung und der täglichen Überforderung gerade der kritischen Anwaltschaft geschuldet. Doch wer wie der RAV für sich in Anspruch nimmt, Anwältinnen und Anwälte für Demokratie und Menschenrechte zu organisieren und unter diesem Label rechtspolitisch zu wirken, sollte darunter nicht nur nationale Demokratie und Menschenrechte für Deutsche, oder bestenfalls für in Deutschland Lebende, verstehen.

Ein besseres Verständnis des europäischen Rechtssystems und eine bessere Nutzung der vorhandenen Rechtsmittel auf europäischer und internationaler Ebene sollten gängige Standards für kritische AnwältInnen werden. Ein Verein wie der RAV sollte sich über diese notwendige Erweiterung des beruflichen Instrumentariums um eine Analyse der politischen, ökonomischen und sozialen Zusammenhänge in Europa und darüber hinaus und die Wechselwirkung auf das Recht bemühen.

8. Bei einer derartigen Öffnung des Blickes über die geografischen Grenzen hinaus, wird sich derselbe möglicherweise auch für andere rechtliche und gesellschaftliche Probleme öffnen. Selbst wer sich nur um die Rechtsverletzungen deutscher Akteure kümmern möchte, müssten die  militärischen Aktivitäten der BRD, zumeist im NATO-, zunehmend aber auch in anderem Kontext, ebenso wie die Produktionsbedingungen, unter denen deutsche Markenfirmen Textilien u. a. in Vietnam, Indonesien und China5 produzieren lassen, ins Visier nehmen.

Das deutsche Rechtsverständnis von den bürgerlichen und politischen Rechten als gerichtlich durchsetzbar, und den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Grundrechten als dem politischen Diskurs zugehörig, dürfte weltweit zum Reaktionärsten zählen. Traurig nur, dass sich auch insoweit die Bürgerrechtsorganisationen und der RAV kaum vom juristischen Mainstream abheben.

Selbst offenkundige massenhafte Rechtsverstöße gegen ArbeiterInnen im  Inland (Lidl-Skandal) und im Ausland (Südwind, Puma6) veranlassen kaum einer der Organisationen, derartige Themen aufzugreifen. Dies lässt sich zum Beispiel am Themenspektrum des Grundrechtereportes der vergangenen Jahre aufzeigen.

9. Wenn SkeptikerInnen der Menschenrechtsbewegung wie David Kennedy7, ihr eine mitunter verengte Sichtweise vorwerfen, weil ihre Instrumente bisweilen, selbst wenn sie erfolgreich sind, nur die Symptome und nicht die Krankheit  behandelten, gilt dies für die deutsche Bürgerrechtsbewegung in viel höherem Maße. Erfolge in juristischen Verfahren werden unreflektiert mit tatsächlichen Veränderungen gesellschaftlicher Missstände gleichgesetzt wie zuletzt die Rezeption der Serie von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen zu Überwachungsgesetzen.8

Überdies wird oft die Verfassung als Heiliger Text, als unveränderlicher
Kanon und Bezugsrahmen betrachtet. Kritische linke Verfassungstraditionen sind fast nicht mehr präsent. Lasalles Diktum, wonach die Realverfassung das Gesamtensemble gesellschaftlicher Verhältnisse ist, und Wolfgang Abendroths Analyse des Grundgesetzes als Klassenkompromiss sind vergessen.Eine (neo-)materialistische Analyse des Rechts bedeutet selbstverständlich nicht, dass das juristische Feld und der tägliche Kampf um das Recht aufgegeben werden sollen zugunsten eines rein politischen Diskurses. Nein, das Recht ist bei aller Kritik keine bloße Funktion der Macht, die Rechtsförmigkeit von Verfahren hat eminente Schutzfunktionen. Aber kritische BürgerrechtlerInnen und JuristInnen sollten dabei nicht stehen bleiben, sondern die Rolle des Rechts und das Verhältnis von Recht und Macht und Recht und Politik ständig thematisieren. Dann könnten sie nicht nur zur Verbesserung des Bürgerrechtsschutzes, sondern zur tatsächlichen Verbesserung von gesellschaftlichen Missständen beitragen.

Der Autor und langjährige Vorsitzende des RAV ist Generalsekretär des european center for constitutional and human rights (ecchr).
 

Fussnote

1 Überarbeitete Fassung des mündlichen Beitrages auf der Abschlussdiskussion des bundesweiten Kongresses zur Zukunft der Bürgerrechte unter dem Titel »Sicherheitsstaat am Ende« am 23. und 24. Mai 2008 in Berlin.
2 Vgl. nur die Beiträge von Sönke Hilbrans, Wolfgang Kaleck und Andrea Würdinger in der gemeinsamen Stellungnahme der Bürgerrechtsorganisationen zu dem Entwurf des Terrorismusbekämpfungsgesetzes des damaligen Innenministers Schily am 30. November 2001.
3 Vgl. www.ccrjustice.org
4 Vgl. www.aclu.org
5 Ingeborg Wick: All die Textilschnäppchen – nur recht und billig? Arbeitsbedingungen bei Aldi-Zulieferern in China und Indonesien. Siegburg 2007; www.suedwind-institut.de/0dt_sw-start-fs.htm
6 Vgl. Die Berichte bei China Labor Watch über die Arbeitsbedingungen bei Puma-Zulieferern in China, siehe auch Wolfgang Kaleck/Miriam Saage-Maass: Transnationale Unternehmen vor Gericht. Berlin 2008.
7 David Kennedy: The International Human Rights Movement: Part of the Problem? Harvard Human Rights Journal 2002, 101 ff.; ders.: The Darker Sides of Virtue: Reassessing International Humanitarianism. Princeton 2005.
8 Vgl. in diesem Sinne auch Christian Rath: Zähmung der Wanzen, in: Die Tageszeitung vom 28.3.2008.