Editorial

Da ist es nun, das als ›Feministischer Info­Brief‹ angekündigte Sonderheft innerhalb der ›Reihe InfoBriefe‹ des RAV. Das Heft erscheint später als angekündigt, da der Corona-Lockdown mit all seinen Implikationen die Autor*innen und das Redaktionsteam sehr beansprucht hat.
Es ist ein feministischer InfoBrief, aber nicht in dem Sinne, dass versucht würde, einen Diskus­sions- oder Erkenntnisstand zu (queer-)feministischen Positionen abzubilden. Vielmehr werden Sexismus und genderegalitäre Perspektiven im Zusammenhang mit unserer konkreten Arbeit als Rechtsanwält*innen und Mitglieder im RAV in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gerückt.
Die Entstehung dieses Heftes ist auf eine konflikthafte RAV-interne Diskussion in Berlin zurückzuführen, die auch im erweiterten Vorstand und Vorstand stattfand. In dieser geht es um die fehlende Auseinandersetzung mit Sexismus und der Blindheit gegenüber der eigenen Leerstelle im Bezug auf eine feministische Positionierung im RAV. Es fehlen uns immer mal wieder deutliche Abgrenzungen des RAV zu sexistischen, antifeministischen Positionen und Äußerungen, und angesichts der gesellschaftlichen Diskussionen mutet das laute Schweigen beim RAV dazu inzwischen nahezu anachronistisch an. Nicht zuletzt sind da noch die nicht seltenen, zum Teil mehr als ärgerlichen und manchmal auch schmerzhaften Erfahrungen mit dem Sexismus, zumindest mit der Sexismus-Blindheit einiger Kolleg*innen.
Der RAV hinkt einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung und Verortung im Bezug auf Sexismus als strukturierendes gesellschaftliches Machtinstrument sowohl in der Positionierung nach außen, als auch den Bemühungen im Inneren, hinterher.
Die expliziten Herausgabe eines Rundbriefs durch eine externe Redaktion – der ängstlich entgegengehalten wurde, bei einer solch thematischen ›Eingrenzung‹ könne wohlmöglich die zeitgleich stattfindende Revolution verpasst werden – war dabei als EINE Idee, als ein ANFANG gedacht und wird von uns, dem Redaktionsteam und der Autor*innenschaft weiterhin so verstanden. Es kann beim besten Willen nicht alles sein und schon gar nicht bleiben.
Eine weitere Forderung aus der damaligen Diskussion wurde ganz aktuell umgesetzt: Der RAV gendert ab jetzt alle seine Veröffentlichungen mit dem *. Lest dazu den Artikel in diesem Heft.
Redaktionsteam und Autor*innen sind in Teilen deckungsgleich. Wir sind als offene Gruppe angetreten und eine solche geblieben und haben mehrfach zur Mitarbeit eingeladen. Die Interessenbekundungen zum Mitmachen, Mitdenken und Mitschreiben waren und blieben allerdings überschaubar. Genau hier fangen die nie gestellten Fragen schon an. Was hindert Kolleg*innen, sich zu melden und einen Beitrag zu schreiben? Ist Sexismus in den geführten Auseinandersetzungen zu G20, rassistischem Polizeirecht, #unteilbar, Gesetzesverschärfungen, Migration und all den anderen Bereichen und Aktivitäten, in denen sich der RAV engagiert, kein Thema, nie eines gewesen? Gibt es keine männliche* Haltung zu Sexismus?
Ein jugendlicher Freund aus der Antifa berichtete aus der Vorbereitung auf den Tag der Räumung der Liebigstraße 34 in Berlin, dass in der Gruppe das Vorgehen einer Schildkrötenformation diskutiert wurde. Als sich auf die Frage, wer die äußeren Reihen bilden würde, nur Männer meldeten, wurde das Konzept als unbrauchbar gecancelt. So schlicht, so konsequent.
Bei allen sichtbaren Veränderungen im RAV braucht es ein deutliches und klares Ja zu einer feministischen und antisexistischen Positionierung und nicht nur ein entsprechendes Lippenbekenntnis. Und wenn sich die feministischen Positionen nicht einfach so ergeben und sich von selber melden, dann müssen sie gesucht werden und erarbeitet. Und das bedeutet, Themen angehen, etwas riskieren, Fragen stellen, Zuhören, auch mal den Mund aufmachen bei sexistischen Sprüchen von Kolleg*innen. So wie es dem – doch insgesamt recht weißen – Verein angesichts von Rassismus offensichtlich nicht schwerfällt.
In der 40-Jahresfestschrift des RAV erläutert der Beitrag einer erst kürzlich in den RAV eingetretenen Kollegin »Feministische Rechtskritik und freie Advokatur – Anmerkungen zu einem historischen Ärgernis«, die Notwendigkeit, im Verein mit feministischer Rechtskritik ins Gespräch zu kommen. Aber löste der Artikel vereinsintern einen Denkprozess, gar eine Diskussion aus? Besteht ein Bedürfnis es mal zu probieren?
Die Redakteur*innen und Autor*innen teilen kein kohärentes Verständnis von (Queer-) Feminismus oder eine einheitliche Analyse sexistischer Strukturen und Machtverhältnisse. Vielmehr stellt dieser InfoBrief eine Vielzahl der Perspektiven auf und beleuchtet Umgänge mit sexistischen Strukturen und Verhaltensweisen. Ebenso wie die feministische Perspektive eine vielfältige ist, weshalb wir lieber von einer Bündelung von Perspektiven sprechen, sind auch die in diesem Heft versammelten Betrachtungen der Diskriminierungen, Gewaltverhältnisse und Sexismen unterschiedlich und teilweise widersprüchlich. Es fehlen deshalb auch eine Reihe wichtiger Perspektiven und deren Verzahnung.
Was uns als Autor*innen, Redakteur*innen und Beitragende dieses InfoBrief eint, ist die Lust und das Interesse unsere jeweiligen Blickwinkel zusammenzutragen und zur Diskussion zu stellen. Das gegenseitige Kennenlernen und die Diskussion über die in Inhalt und Form sehr unterschiedlichen Beiträge, waren Teil eines konstruktiven Arbeitsprozesses. Sexismus und Geschlecht werden aus verschiedenen individuellen Ausgangspositionen in den Blick genommen.
Wie bereits erwähnt, gibt es eine ausführliche Auseinandersetzung einer ehemaligen Richterin am Berliner Verfassungsgericht auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive zum Gebrauch und zur Wirkmächtigkeit gendergerechter Sprache. Zur Umsetzung in die Praxis haben wir ein Gespräch mit der Mitherausgeber*in des Beck-Online-Kommentars zum Asylrecht geführt.
Über die leider wenig überraschende Realität von Kolleg*innen im alltäglichen Arbeitsumgang mit Gerichten und Mandanten, aber auch mit fortschrittlichen republikanischen Kollegen gibt eine Reihe von Erfahrungsberichten Auskunft.
Deutlich weiter geht die Diskussion inzwischen, wenn es um die Abschaffung der Kategorie Geschlecht als solche geht. Hierzu gibt es seit einigen Jahren eine rege politisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung, und inzwischen sind auch eine Reihe von Verfahren beim Bundesverfassungsgericht und beim EuGH anhängig. Unseres Wissens taucht diese Frage in der öffentlich sichtbaren Arbeit des RAV bisher nicht auf, obwohl einige Mitglieder hier rechtspolitisch aktiv sind. Eine Kolleg*in berichtet von den Verfahren und führt in den Diskussionstand ein.
Auch in diesem Heft zu kurz kommt leider eine intersektionale Perspektive, immerhin aber haben wir dazu eine Denkanregung einer Kolleg*in. Ebenso nachdenkenswert in der Ausein­andersetzung um das Sexualstrafrecht ist ein Gespräch über Adornos Text »Sexualtabus und Recht« mit der Beschreibung seiner psychoanalytischen Zugänge. Weitere Beiträge untersuchen mögliche Unterschiede im gesellschaftlichen und judiziellen Umgang mit rechtsradikalen Frauen als Täter*innen und Möglichkeiten der Transformative Justice.
Femizid benennt die Tötung einer Frau im Kontext geschlechtsbezogener Gewalt und ist damit machtvollster Ausdruck patriarchaler Gewalt. Weltweit gingen in den letzten Jahren vor allem Frauen* gegen sexuelle, körperliche und psychische Gewalt auf die Straße und rangen ihren Regierungen mehr Aufmerksamkeit ab. Der Ausdruck ›Femizid‹ gehört in vielen lateinamerikanischen Ländern inzwischen zur Alltagssprache. In Deutschland bildet sich eine entsprechende Aufmerksamkeit erst sehr langsam, und im deutschen Strafrecht gibt es kaum ein Bewusstsein für das Phänomen. Als ›Eifersuchtsdramen‹ oder ›Beziehungstaten‹ werden Tötungen verharmlost, die alle im Kontext einer Abwertung und Unterdrückung von Frauen geschehen. Hierzu drucken wir ein Interview mit einer Kollegin ab, das bereits in der Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung »#keinemehr – Femizide in Deutschland« im September 2020 erschienen ist.
Einen letzten Schwerpunkt bildet – welche wundert‘s – der Streit um die Nebenklage in Sexualstrafverfahren. So sehr wir das Bedürfnis hatten, diese Auseinandersetzung nicht zum x-ten Mal in den Mittelpunkt einer feministischen Kritik am Umgang des RAV mit dieser Diskussion zu stellen, so sehr haben uns die Gespräche bei der Entstehung dieses Heftes gezeigt, dass bis heute ein nicht bearbeiteter Konflikt besteht, der Zweifel am Wunsch nach einer wirklich solidarischen Zusammenarbeit aufkommen lässt. So ist ein Teil der Mitglieder wegen dieser bis heute mit harten Bandagen geführten Auseinandersetzung in der Vergangenheit aus dem Verein ausgetreten und sieht keine Veranlassung diese Entscheidung zu revidieren.
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieses Konflikts erwarten wir um ein Neues auch und nicht erst zuletzt im RAV und von seinen Mitgliedern eine offene, ehrliche und bisweilen auch schmerzhafte Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Wir wünschen uns eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe, respektvoll und hierarchiearm. Wir führen diese Auseinandersetzung(en) weiter und freuen uns auf alle*, die Lust und Interesse haben, sich mit sexistischen Strukturen und ihrer feministischen Kritik auseinanderzusetzen: Veranstaltungen zu planen, Artikel zu schreiben, zu intervenieren und zu diskutieren.

Last but not least: Ein großes Dankeschön an ›femplak_berlin – angry feminists against all forms of oppression – Intersectional FLINTA collective (Frauen, Lesben, Inter, Nicht-Binäre, Trans, Agender)‹ für ihre Praxis und Bilder, sowie Nele Goldberg, Studentin für Industriedesign an der HTW Berlin, für die Gestaltung des Covers.

Die Redaktion

Katrin Brockmann, Marie Ellersiek, Ronska Grimm, Betül Gülşen, Sunna Keleş, Nele Marie Kliemt, Josephine Koberling, Anya Lean, Linh Steffen, Barbara Wessel, Martina Zünkler