Wie weiter mit den EU-Verträgen?
Nachdem bereits in mehreren Staaten die zuständigen Parlamente und die Spanier in einer Volksabstimmung (bei einer Wahlbeteiligung von 40 %) dem Verfassungsvertrag zugestimmt hatten, stand im Mai 2005 die voraussehbare Zustimmung von Bundestag und Bundesrat zum Verfassungsvertrag an und Ende Mai 2005 die Volksabstimmung in Frankreich bevor. Die französische Bevölkerung hatte den Verfassungsvertrag, der an jedem Kiosk erhältlich war, seit Monaten kontrovers diskutiert. Laut Meinungsumfragen war eine Ablehnung des Verfassungsvertrags wahrscheinlich.
Dieser Stand der Dinge war Anlass für den RAV, den VDJ, die IALANA und den Arbeitskreis Kritischer JuristInnen, über Probleme des Verfassungsvertrags zu informieren.
Gründe für die Ablehnung des Verfassungsvertrags
Als Gründe für die Ablehnung des Verfassungsvertrags durch die Franzosen und Niederländer werden die hohe Arbeitslosigkeit, die Verkürzung von Rechtsansprüchen auf soziale Sicherung und die Absenkung von Sozialleistungen sowie die Verringerung des öffentlichen Wohlstands in Gestalt öffentlicher Güter (öffentliche Dienste, allen zur Verfügung stehende Infrastrukturen) und die wachsende soziale Ungleichheit genannt. Dies bedeutet für viele wegen der ungewissen Lebensperspektiven eine bedrückende existentielle Unsicherheit. Die Analyse lautet: In beiden Ländern haben die Verlierer des neoliberalen Strukturwandels gegen den Verfassungsvertrag gestimmt.
Konsequenzen der Konstruktion der EU als Binnenmarkt
Die EU ist als Binnenmarkt konstruiert, in dem alle Beschränkungen für den freien Waren-, Personen- und Dienstleistungsverkehr und für die Niederlassungsfreiheit zwischen den Mitgliedsstaaten, für den Kapitalverkehr nicht nur zwischen den Mitgliedsstaaten, sondern auch zwischen den Mitgliedsstaaten und dritten Ländern, verboten sind, und die dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist. Das Programm der EU heißt um des freien Wettbewerbs willen Deregulierung und Privatisierung - Deregulierung im Sinne von Entstaatlichung und Entlassung des Staates aus wirtschaftspolitischen Ordnungsaufgaben, sozialen Leistungs- und Sicherungsbereichen und übergeordneten Kontrollfunktionen; und Privatisierung zwecks Zurückdrängung des Anteils des öffentlichen Sektors und der öffentlichen Verantwortung zugunsten der privaten Wirtschaft und der Marktorientierung.
Hieraus resultiert zugleich das ebenfalls nicht strittige strukturelle Demokratiedefizit der EU. Die Realisierung der mit dem Binnenmarkt verfolgten zunehmenden Marktintegration und die Verpflichtung der Mitgliedsländer durch die Währungsunion auf Preisstabilität, Haushaltskonsolidierung und eine Politik des Nulldefizits schränken den Politikspielraum der Mitgliedsländer ein. Mit dem Konzept des offenen Binnenmarkts mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb kollidiert die Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben in den Mitgliedstaaten durch die Bereitstellung öffentlicher Güter, sowohl weil die steuerfinanzierten öffentlichen Dienstleistungen sich für die Wirtschaft als Kosten darstellen, als auch weil gesellschaftliche Bereiche der Vermarktung entzogen sind. Sozialpolitische Maßnahmen, die die Lohnkosten erhöhen, oder Ausgaben des Staates, für die Steuergelder benötigt werden, kollidieren mit dem Interesse der Unternehmen an der Minimierung von Kosten und optimaler preislicher Wettbewerbsfähigkeit. Die Unternehmen machen zur Rechtfertigung geltend, dass aus der Funktionsweise der Marktwirtschaft ein prinzipieller, fast naturgesetzlicher (Sinn, Ist Deutschland noch zu retten, 2003) Gegensatz zwischen internationaler Wettbewerbsfähigkeit und Sozialpolitik resultiere. Die Regierungen der Mitgliedstaaten berufen sich zur Rechtfertigung der Kürzung von Sozialleistungen bei gleichzeitigen Steuersenkungen, die insbesondere hohe Einkommen und die Unternehmen entlasten, darauf, dass ein in die internationalen Märkte integrierter Staat keine Politik der ausgeglichenen Wohlstandsverteilung verfolgen könne, selbst wenn dies eine parlamentarische Mehrheit beschließen würde.
Unterschiedliche Bewertung des Binnenmarktprojekts
Die Konstruktion der EU als Binnenmarktprojekt, dessen höchstes Ziel und zugleich alle Politik dominierender Wertmaßstab die Wettbewerbsfähigkeit ist, wird kritisiert, weil dessen Resultat die Benachteiligung eines großen Teils der Gesellschaften in den Mitgliedstaaten und die ungleiche Verteilung von Wohlstand und Lebensperspektiven ist.
Diejenigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteure, die an den strukturellen Anpassungszwängen für weitere Arbeitsmarktflexibilisierung und den Abbau sozialpolitischer Maßnahmen interessiert sind, befürworten es, dass Wirtschaftsunion und Osterweiterung den Druck zu Veränderungen erhöhen und die "ungelehrigen" Menschen zwingen, auf alles Mögliche zu verzichten (siehe FTD v. 03.06.2005 und v. 29.07.2005). Das zeigt die von dem sozialdemokratischen Bundeswirtschaftsminister Clement gezogene Bilanz der Regierungsjahre 1997 bis 2005, in der er die teilweise faszinierende Gewinnsituation in den Unternehmen und die hohen Überschüsse bei Banken und Industrie als Vorboten eines selbsttragenden Aufschwungs und die stagnierenden Löhne und Arbeitskosten als Unterpfand des nächsten Booms bezeichnet (TAZ v. 29.07.2005). Das zeigt auch die Analyse des Präsidenten des ifo-Instituts Hans-Werner Sinn, dass der durch die europäische Integration erzwungene Strukturwandel das deutsche Sozialprodukt dadurch steigere, dass er vornehmlich zu einem Anstieg der Kapitaleinkommen führe, hingegen die Beschäftigten die Verlierer seien, was aber unausweichlich sei, weil, würde versucht, aus Gründen der Gerechtigkeit gegenzusteuern, nur alle zu den Verlierern gehören würden (Sinn, aaO).
Regelungen im EUV und im EGV (wie auch im Verfassungsvertrag), die die neoliberal genannte, marktradikale Ausrichtung der Europäischen Union normieren
Allerdings: Kommt der Verfassungsvertrag nicht zustande, gelten die bisherigen Verträge, der EUV und der EGV in der Fassung der Verträge von Amsterdam (1997) und Nizza (2000), weiter. Die am Verfassungsvertrag kritisierte wirtschafts- und gesellschaftspolitische marktradikale und neoliberale Ausrichtung der EU gründet aber auf den Bestimmungen zur Wirtschafts- und Währungspolitik und zu den Grundfreiheiten des freien Personen-, Waren- und Kapitalverkehrs in den geltenden Verträgen (EUV und EGV von 1992). Der Verfassungsvertrag beinhaltet (nur) deren Bekräftigung und Verfestigung. Die Gründe für die Ablehnung des Verfassungsvertrags betreffen deshalb auch den EUV und den EGV.
Um zu erfassen, welcher Änderungsbedarf besteht und wie Änderungen aussehen könnten, ist es erforderlich, das komplexe Normengefüge zu skizzieren, durch das die EU als marktgläubige Wirtschafts- und Währungsunion gesichert und strukturell gefestigt ist.
Als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hatten sich die Mitgliedsstaaten "um einer harmonischen Entwicklung des Wirtschaftslebens willen die Errichtung eines gemeinsamen Marktes" und "zu diesem Zwecke die Angleichung innerstaatlicher Rechtsvorschriften" vorgenommen (Art. 1 und 3 EWG-V von 1967). Es bestand Übereinstimmung, dass die Angleichung der Rechtsvorschriften auf eine Harmonisierung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in den einzelnen Staaten beruhen müsse.
Zur Vollendung des gemeinsamen Marktes einigte sich die Europäische Gemeinschaft (EG) 1986 auf ein Programm "zur schrittweisen Verwirklichung des Binnenmarktes", definiert als "Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist" (Art. 8a EWG-V). Mit der einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von Februar 1986, in Kraft seit Juli 1987, wurde die schrittweise Realisierung des Binnenmarktes bis zum 31.12.1992 verabredet und die Mitgliedsstaaten zu umfangreichen Rechtssetzungsaktivitäten innerhalb der Frist angehalten. Die Zuständigkeiten der Gemeinschaft wurden außerdem auf weitere Politikfelder ausgedehnt und für das Binnenmarktprogramm weitgehend Mehrheitsentscheidungen des Rates über Verordnungen und Richtlinien zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten verabredet. Unverändert blieb Art. 104 des EWG, der die Mitgliedstaaten auf eine Wirtschaftspolitik verpflichtete, die zur Wahrung auch eines hohen Beschäftigungsstandes und nicht nur eines stabilen Preisniveaus erforderlich ist.
Die Maastricht-Verträge von Februar 1992 (EUV und EGV), in Kraft seit dem 01.11.1993, beinhalten die Bestätigung der Dogmen des Binnenmarktkonzepts: Das Konzept einer Wirtschaftsordnung, die durch die Steuerung aller ökonomischen Prozesse über den Markt, d.h. durch einen möglichst freien und funktionsfähigen Wettbewerb und die ungehinderte Entfaltung des Kapitals gekennzeichnet ist; ferner das Konzept eines schlanken und finanziell genügsamen Staates, dessen vorrangige Aufgabe die Gewährleistung der Marktfreiheiten ist; sowie die Unterstellung, dass sich die gesamtgesellschaftliche Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen als automatische Folge der Wirtschaftsliberalisierung einstellen werde.
Die Vertragslage
Nach "Maßgabe des Vertrages" bedeutet: Gemäß Art. 4 EGV (= Art. III-177 EVV) ist die Tätigkeit der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet. Die Währungspolitik hat vorrangig das Ziel der Preisstabilität zu verfolgen. Art. 4 Abs. 3 EGV (= Art. III-177 Abs. 3 EVV) gibt den Mitgliedsstaaten und der Gemeinschaft die Einhaltung "der folgenden richtungsweisenden Grundsätze" auf: "Stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz".
Art. 98 bis 104 EGV (= III-178 bis III-184 EVV) schwören erneut die Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten und der Union auf den Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, zur Einhaltung der vom Rat verabschiedeten Grundzüge der Wirtschaftspolitik und zur Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite ein.
Art. 104 EGV (= Art. III-184 EVV), der den Mitgliedstaaten die Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite aufgibt, wird ergänzt durch das Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit von 1992, in dem die Grenze von 3 % des Bruttoinlandsprodukts für das jährliche Haushaltsdefizit und von 60 % vom Bruttoinlandsprodukt für den öffentlichen Schuldenstand vorgeschrieben wird. Ergänzt werden diese Regelungen durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) vom 17. Juni 1997 (Amsterdam), in dem sich die Mitgliedstaaten überdies verpflichtet haben, das Haushaltsziel eines nahezu ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalt einzuhalten und die haushaltspolitischen Korrekturmaßnahmen, die ihres Erachtens zur Erreichung der Ziele ihrer Stabilitäts- oder Konvergenzprogramme erforderlich sind, zu ergreifen, wenn es Anzeichen für eine tatsächliche oder erwartete erhebliche Abweichung von diesen Zielen gibt, sowie, wenn sie ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen sind, sich den von der Kommission bzw. dem Rat beschlossenen vorbeugenden bzw. sanktionierenden Maßnahmen zu unterwerfen.
Der Pakt heißt nur deshalb Stabilitäts- und Wachstumspakt, weil Frankreich anlässlich der Verhandlung des Stabilitätspaktes (Amsterdam 1997) auf einer wachstums- und beschäftigungspolitischen Verantwortlichkeit der Europäischen Union beharrte. Dessentwegen wurde die Einleitung des vom damaligen Finanzminister Deutschlands Theo Waigl initiierten Stabilitätspakts um das Bekenntnis ergänzt, dass gesunde Staatsfinanzen als Mittel zur Verbesserung der Voraussetzungen für Preisstabilität auch für ein "starkes, nachhaltiges und der Schaffung von Arbeitsplätzen förderliches Wachstum" gut sind (Heise, Schulmeister Deutschland, Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/05). Im Pakt selbst ist von Beschäftigungsförderung allerdings keine Rede mehr, sondern nur noch von der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, mittelfristig einen nahezu ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalt einzuhalten. Die Nennung auch von Beschäftigungsförderung als Politikziel und das Bekenntnis zur Verantwortung von Wirtschaftspolitik auch für die Beschäftigungsförderung blieb folglich ohne Bedeutung gegenüber dem strikten Gebot des Art. 104 EGV i.V.m. dem Protokoll von 1992 über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, dass das jährliche Haushaltsdefizit 3 % und der Schuldenstand 60 % des Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigen dürfe, und den Sanktionsdrohungen des SWP von 1997.
Die Währungspolitik ist in Art. 105 bis 110 EGV und 123 EGV (= Art. III-185 bis 191 EVV) geregelt. Als vorrangiges Ziel wird dem Europäischen System der Zentralbanken (ESZB) und der Europäischen Zentralbank (EZB) aufgegeben, die Preisstabilität zu gewährleisten. ESZB und EZB dürfen nur, soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft unterstützen.
Schließlich: Gemäß Art. 126 Abs. 1, 128 Abs. 2 Satz 2 EGV (= Art. III-204 Abs. 1, 206 Abs. 2 Satz 3 EVV) ist die Beschäftigungspolitik der Wirtschaftspolitik untergeordnet. Vorrang haben das von der Wirtschaftspolitik verfolgte Ziel der Preisstabilität und der Vermeidung von öffentlichen Defiziten und die Grundsätze einer offenen Wirtschaft mit freiem Wettbewerb. Gemäß Art. 136 Abs. 2 u. 3 EGV (= Art. III-209, Abs. 2 u. 3 EVV) hat auch die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft der Wettbewerbsfähigkeit Rechnung zu tragen.
Konsequenzen dieser Regelungen (u.a):
Die von Deutschland initiierten Grenzen von 3 % für das jährliche Haushaltsdefizit und von 60 % für den Schuldenstand machen den Mitgliedsstaaten der Union einerseits eine Politik unmöglich, wie sie z.B. von Amerika, egal wer regiert, seit dem New Deal der 30er Jahre praktiziert wird: Dass Regierungen in Konjunkturkrisen alles Geld mobilisieren, egal wie hoch das Defizit ist.
Mit dem Gebot der Preisstabilität werden die Mitgliedstaaten andererseits verpflichtet, Steuern, soziale Abgaben und Staatsausgaben niedrig zu halten.
Die inzwischen realisierte Privatisierung vieler Unternehmen der Daseinsvorsorge - weitgehend die Energieversorgung, auch der Eisenbahnverkehr (Art. 87 e Abs. 3 GG), das Postwesen und die Telekommunikation (Art. 87 f Abs. 2 GG) - ist Konsequenz auch der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freien Wettbewerb zu folgen und die öffentlichen Unternehmensbereiche dem Marktgeschehen zu unterstellen (Art. 4, 98, 99 EGV = Art. III-177, 178, 179 EVV i.V.m. Art. 86, 81 bis 89, 70 bis 80, 154 bis 156 EGV = Art. III-166, 161 bis 169, 236 bis 245, 246 u. 247 EVV).
Die Grundfreiheiten, Entwicklung und Bedeutung
Ursprünglich waren die Grundfreiheiten als Ge- und Verbote formuliert, die der Umsetzung durch die Nationalstaaten bedurften. Die Rechtssprechung des EuGH wandelte sie zu subjektiven einklagbaren Rechten. Grundlegend dafür war die Cassis-de-Dijon-Entscheidung des EuGH vom 11.07.1979, mit der der EuGH den Import des Fruchtsaftlikörs als Branntwein erlaubte, obwohl er nach deutschem Recht wegen eines zu geringen Alkoholgehalts nicht als Branntwein angesehen wurde - ein harmloser Sachverhalt und eine vernünftige Entscheidung, sollte man meinen. Mit dieser Entscheidung wurde jedoch den einzelnen Marktteilnehmern das Recht zugestanden, die Ausübung der Grundfreiheiten einzuklagen, soweit entgegenstehende nationale Normen nicht notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden. Aus der Entscheidung wurde gefolgert, dass es zur Durchsetzung des freien Warenverkehrs nicht mehr notwendig ist, das gesamte Recht zu harmonisieren. Die Cassis-de-Dijon-Entscheidung des EuGH setzte deshalb eine Dynamik der gegenseitigen Anerkennung von rechtlichen Regelungen der Mitgliedsländer in Gang, befördert durch Rechte einklagende Marktteilnehmer. Die "Cassis-Philosophie", dass, was in dem einen Land gut ist, in dem anderen Land nicht schlecht sein könne, beschleunigte die Entwicklung des Binnenmarktes - unabhängig von politischen Entscheidungen der Mitgliedstaaten. Deshalb befindet der Spiegel (v. 25.07.2005): "Die Geschichte der Verfassung Europas ist mit Johannisbeerlikör geschrieben." Denn: Die Grundfreiheiten wurden nicht mehr als Inländergleichbehandlungsgebot und Diskriminierungsverbot verstanden, sondern als allgemeines Beschränkungsverbot - als das sie erst ab 1992 im EUV und im EGV (und auch im EVV) konzipiert und normiert sind. Diese Binnenmarktphilosophie ermöglichte es den Unternehmen, sich Marktfreiheiten zu erstreiten, die in den Mitgliedstaaten politisch nicht durchsetzbar gewesen wären.
Der EGV (auch nicht der Verfassungsvertrag) enthält keine Bestimmung, die ausdrücklich eine generelle Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Anerkennung von Rechtsakten anderer Unionsstaaten ausspricht. Eine solche Verpflichtung könnte allenfalls aus der Pflicht zur Gemeinschaftstreue (Art. 10 EGV, Art. I-5 Abs. 2 EVV) hergeleitet werden. Die Rechtssprechung des EuGH erlaubte jedoch mit der "Cassis-Philosophie" eine Auswechslung des Bestimmungslandprinzips durch das Herkunftslandprinzip zu Lasten der nationalen Gesetzgebung.
Diskriminierungsverbote oder das Gebot der Inländerbehandlung verlangen, die Rechtsvorschriften des Bestimmungslandes einzuhalten. Ihnen entspricht das Bestimmungslandprinzip. Werden die Grundfreiheiten nicht nur als Diskriminierungsverbote, sondern auch als allgemeine Beschränkungsverbote interpretiert, wird die Inländergleichbehandlung gegebenenfalls dennoch als Beschränkung der Grundfreiheiten angesehen, wenn in den betroffenen Staaten unterschiedliche Standards bestehen. Ein Weg, um solche Beschränkungen zu minimieren, ist die Rechtsangleichung, ein anderer die Anerkennung der anderen Standards nach dem Herkunftslandprinzip. Während die Rechtsangleichung auf eine Harmonisierung zielt, greift nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ein Wettbewerb der Standards, in dem sich gemeinschaftsweit einheitliche Regelungen im Wege (nur) faktischer Angleichung aufgrund der Präferenzen der Marktbeteiligten herauszubilden vermögen. Aus ökonomischen Zwängen droht auf diese Weise eine faktische Angleichung der Standards auf dem gemeinschaftsweit niedrigsten Niveau (so die Zusammenfassung in der von Schachtschneider verfassten Klageschrift gegen die Zustimmung von Bundestag und Bundesrat zum EVV).
So hat der EuGH mittels der Auslegung der Niederlassungsfreiheit als Beschränkungsverbot das Gesellschaftsrecht für die Mitgliedsstaaten wesentlich umgestaltet. Der Gerichtshof hat die Sitzlehre, gemäß der für Fragen des Gesellschaftsrechts das Recht am tatsächlichen Sitz der Hauptverwaltung maßgeblich ist, als Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit relativiert, indem er zunächst für die Tätigkeit von Tochtergesellschaften und Zweigniederlassungen außerhalb des Heimatlandes die Anwendung des Heimatrechts zugelassen hat. Im Jahre 2003 etablierte er dann die Rechtswahlfreiheit im europäischen Gesellschaftsrecht, indem er entschied, dass in einem Mitgliedsstaat wirksam gegründete Gesellschaften in jedem anderen Staat uneingeschränkt anerkannt werden müssten. Das hat u.a. Konsequenzen für die Unternehmensmitbestimmung in Deutschland, die nur für Unternehmen gilt, auf die deutsches Gesellschaftsrecht Anwendung findet.
Seit dem Beginn der Wirtschafts- und Währungsunion am 01. Januar 1994 verbietet Art. 56 Abs. 1 EGV (= Art. III-156 EVV) alle Beschränkungen des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs. Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten und zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern sind in weiter Auslegung (analog der Rechtssprechung des Gerichtshofs zu anderen Grundfreiheiten) alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften und sonstigen mitgliedstaatlichen Maßnahmen, die für den grenzüberschreitenden Kapital- und Zahlungsverkehr eine gegenüber den Inlandsgeschäften abweichende Regelung vorsehen, indem sie "den Zufluss, den Abfluss oder den Durchfluss von Kapital der Form, dem Wert oder der Menge nach (auf Dauer oder zeitweise) behindern, begrenzen oder völlig untersagen" (so bereits EuGH vom 12.07.1973 - Rs 2/73).
Dessentwegen ist in Deutschland ansässigen Unternehmen, die ihre Produktion in einen anderen Mitgliedstaat verlagern, erlaubt, die Verlagerungskosten von ihrem in Deutschland gemachten Gewinn steuerlich abzusetzen.
Auch die 1999 in Deutschland eingeführte weitgehende Steuerfreiheit für Gewinne bei der Veräußerung von Unternehmensbeteiligungen dient der Freiheit des internationalen Kapitalverkehrs. Die steuerliche Freistellung sollte zur Auflösung der Deutschland-AG, wie die über Jahrzehnte gewachsene wechselseitige Verflechtung der Finanzbranche mit der Industrie genannt wird, anreizen. Das wechselseitige Halten von Unternehmensbeteiligungen war eine Besonderheit der Kapitalbeschaffung durch die Unternehmen in Deutschland und garantierte langfristiges Interesse der miteinander verflochtenen Unternehmen aneinander - im Unterschied zu den in der Regel kurzfristigen Interessen der auf den internationalen Kapitalmärkten agierenden Investoren. Die Deutschland-AG ist inzwischen weitgehend aufgelöst, so dass sich für ausländische Investoren interessante Einstiegsmöglichkeiten bieten. Es wird berichtet, dass an den Aktienmärkten schon spekuliert wurde, Finanzfonds könnten Daimler-Chrysler übernehmen und zerschlagen, um die einzelnen Teile des Konzerns mit Gewinn zu verkaufen (Tagesspiegel vom 15.08.2005).
Aus der unmittelbaren Wirkung der in Art. 56 EGV (= III-156 EVV) normierten Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit resultiert z.B. nach der Rechtssprechung des EuGH das Verbot der so genannten "Goldenen" Aktien, die dem Staat, etwa bei der Privatisierung von Unternehmen der Daseinsvorsorge, Sonderrechte (namentlich Sonderaktien, Mehrstimmrechte oder Zustimmungsrechte) geben, die es ihm ermöglichen, den Einfluss weiterer Anteilseigner gering zu halten und gegebenenfalls Übernahmen, insbesondere durch ausländische Konkurrenten, zu verhindern. Belgien, Frankreich und Portugal wurde durch den EuGH die Einführung von Goldenen Aktien bei Energieunternehmen, um in Krisensituationen die Energieversorgung sicherstellen zu können, untersagt. Wegen der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den goldenen Aktien sieht die Kommission in dem 44 Jahre alten Volkswagen-Privatisierungsgesetz von 1960 einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsprinzips des freien Kapitalverkehrs und der Niederlassungsfreiheit und hat Deutschland deswegen vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt (Nachweise ebenfalls bei Schachtschneider, a.a.O.).
Teil II des EVV - Charta der Grundrechte
Aufgrund des Rechts auf Arbeit, definiert als "die Möglichkeit für jedermann, seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen" - so die von den Mitgliedstaaten der EU ratifizierte Europäische Sozialcharta von 1961 - kann zwar kein Arbeitsplatz eigener Wahl, aber eine bestmögliche Beschäftigungspolitik eingefordert werden (so ebenfalls die Europäische Sozialcharta).
Die Bedeutung der unternehmerischen Freiheit erhellt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vom 07.08.1962): "Die in der Größe der Betriebe und in der Höhe der eingesetzten Kapitalien verkörperte Zusammenballung wirtschaftlicher Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten hat zur Folge, dass das unternehmerische Verhalten der Konzernleitung über das Schicksal des einzelnen Unternehmens hinaus auf die gesamte Volkswirtschaft und die Konjunktur einwirkt, selbst auf Arbeitsmarkt-, Preis- und Währungspolitik. Dennoch hat sich der Gesetzgeber für die unternehmerische Freiheit auch des Konzerns entschieden."
Allerdings ist die unternehmerische Freiheit nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts begrenzt durch die in Art. 14 Abs. 2 GG statuierte Verantwortlichkeit gegenüber dem Gemeinwohl: "Dabei gilt aber die insbesondere in Art. 14 Abs. 2 GG statuierte Verantwortlichkeit gegenüber dem Gemeinwohl erst recht für die Konzernleitung."
Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums nennt die Grundrechtecharta des Verfassungsvertrags nicht. In Art. II-77 EVV, der das Eigentumsrecht garantiert, heißt es nur: "Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist."
Gemäß der Grundrechtecharta sind somit die sozialen Rechte der BürgerInnen zweitrangig, weil die Charta die unternehmerische Freiheit anerkennt, jedoch das Recht auf Arbeit ausspart, das eine Politik, welche die Unternehmensinteressen fördert, aber die Arbeitnehmerinteressen vernachlässigt, ins Unrecht setzen würde.
Schlussfolgerungen
Das Unbehagen an der derzeitigen Verfasstheit der EU ist weit verbreitet. Wenn gegenwärtig sich die nationale Politik als ohnmächtig erweist und sich ökonomischen Zwängen beugt, die moralisches Unrecht bedeuten, müsste dann nicht, wird gefragt, mindestens auf europäischer Ebene so etwas wie ein neuer Gesellschaftsvertrag ersonnen werden, der größere Unternehmen als profitable, doch nicht selbstzweckhafte Gemeinwesen begreift (Tagesspiegel vom 22.05.2005).
Um Raum für politische Entscheidungen zurückzugewinnen, muss auch die derzeitige Vertragslage in Frage gestellt werden.
Da eine Abänderung beider Verträge nur einstimmig durch alle 25 Mitgliedsländer vorgenommen werden kann und die erforderliche Einstimmigkeit unwahrscheinlich ist, müssten die KritikerInnen der derzeitigen Verfasstheit der Europäischen Union und die VerfechterInnen einer der Sozialstaatlichkeit verpflichteten EU um des zur Abänderung erforderlichen Entscheidungsspielraums willen von ihren Regierungen die Aufkündigung der bestehenden Verträge bzw. der zu beanstandenden Vertragsbestimmungen aus wichtigem Grund fordern.
Um die Politiken der EU zur Verantwortlichkeit für die gesamte Gesellschaft zu verpflichten, sind Regelungen erforderlich, durch die die Beschäftigungsförderung nicht, wie in § 126 EGV (= III-204 EVV), den Grundzügen der Wirtschaftspolitik untergeordnet wird und nicht mehr nur "zu berücksichtigen" ist, wie es § 127 EGV (= III-205 EVV) vorsieht; und auch von der Sozialpolitik nicht mehr, wie es § 136 EGV (= III-209 EVV) verlangt, gefordert wird, den Zwecken der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft Rechnung zu tragen.
Vorbild kann zum einen das in Deutschland gesetzlich und verfassungsrechtlich normierte Prinzip des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sein. Das deutsche Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 (StabWG) ermöglicht bei einer die Ziele des § 1 StabWG gefährdenden Abschwächung der allgemeinen Wirtschaftstätigkeit, zusätzliche Ausgaben zu leisten (§ 6 Abs. 2 StabWG), und § 6 Abs. 3 StabWG, zu diesem Zweck Kredite über die im Haushaltsgesetz erteilten Kreditermächtigungen hinaus aufzunehmen. Das auch verfassungsrechtlich verankerte Prinzip des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (Art. 104 a Abs. 4 Satz 1, 109 Abs. 2 und Abs. 4, 115 Abs. 1 Satz 2 GG) ist nicht durch den Vorrang der Preisstabilität bestimmt, sondern durch die Gleichrangigkeit der Ziele des magischen Vierecks, wie es § 1 des StabWG definiert, nämlich durch die gleichrangigen Ziele der Stabilität des Preisniveaus, des hohen Beschäftigungsstandes, des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts und des stetigen und angemessenen Wachstums im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung. Für diesen Stabilitätsbegriff gibt es keine wirtschaftliche Stabilität, wenn eines der Ziele verfehlt wird, wie gegenwärtig durch die hohe Arbeitslosigkeit.
Vorbilder können zum anderen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, die Europäische Sozialcharta von 1961 und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 sein.
Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, überschrieben mit "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit", lautet: "Alle Menschen sind frei an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen."
Art. 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lautet: "Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen."
Art. 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lautet: " 1. Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit. 2. Alle Menschen haben ohne jede unterschiedliche Behandlung das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. 3. Jeder Mensch, der arbeitet, hat das Recht auf angemessene und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert und die, wenn nötig, durch andere soziale Schutzmaßnahmen zu ergänzen ist. 4. Jeder Mensch hat das Recht, zum Schutze seiner Interessen Berufsvereinigungen zu bilden und solchen beizutreten."
Gemäß der Europäischen Sozialcharta sind die Staaten verpflichtet, sich für die Verwirklichung u.a. folgender Rechte einzusetzen: Das Recht auf Arbeit, das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen, das Recht auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, das Vereinigungsrecht, das Recht auf Kollektivverhandlungen inklusive des Streikrechts, das Recht auf berufliche Ausbildung und das Recht auf soziale Sicherheit.
Zum Recht auf soziale Sicherheit heißt es in Art. 12 der Europäischen Sozialcharta: "Um die wirksame Ausübung des Rechts auf soziale Sicherheit zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien (u.a.), ein System der sozialen Sicherheit einzuführen und beizubehalten, das System der sozialen Sicherheit auf einem befriedigenden Stand zu halten, der zumindest dem entspricht, der für die Ratifikation des Übereinkommens (Nr. 102) der Internationalen Arbeitsorganisation über die Mindestnormen der sozialen Sicherheit erforderlich ist; sich zu bemühen, das System der sozialen Sicherheit fortschreitend auf einen höheren Stand zu bringen."
Auch im Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 haben die Vertragsstaaten sich zur Förderung und Achtung aller dieser Rechte verpflichtet.
Die Grundrechtecharta im Verfassungsvertrag "bekräftigt" in der Präambel, "unter Achtung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Union und des Subsidiaritätsprinzips die Rechte, die sich (u.a.) aus den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und aus den von der Union und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas ergeben". Es ist daher daran zu erinnern, dass die Europäische Sozialcharta 1961 von den Staaten aufgrund der Erkenntnis verabschiedet wurde, dass es erforderlich ist, die bürgerlichen und politischen Rechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 garantiert sind, durch soziale Rechte, die den Staat verpflichten, die Selbstentfaltung des Bürgers zu ermöglichen, zu ergänzen. Nichts hat sich an der Aktualität dieser Erkenntnis geändert.
Diese Erkenntnis entspricht auch christlichen Werten. Schon 1967 mahnte Papst Paul VI. (Enzyklika Popolurum Progressio): "Im Gefolge des Wandels der Daseinsbedingungen haben sich unversehens Vorstellungen in die menschliche Gesellschaft eingeschlichen, wonach der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an den Produktionsmitteln ein absolutes Recht, ohne Schranken, ohne entsprechende Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber, darstellt ... Man kann diesen Missbrauch nicht oft genug verurteilen. Noch einmal sei feierlich daran erinnert, dass die Wirtschaft im Dienst des Menschen
steht ...".
Und schließlich gebietet es der Grundgedanke der Demokratie, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 GG), dass das Regelwerk der EU die Interessen der verschiedenen Gesellschafts- und Interessengruppen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich anerkennt und nicht mittels des Vehikels der Wettbewerbsfähigkeit als höchstem Wertmaßstab vorrangig die Unternehmens- und Kapitalinteressen: Res publica res populi. Das Regelwerk der EU darf es deshalb den politischen Entscheidungsträgern nicht ermöglichen, Handlungsunfähigkeit für soziale Politiken zu reklamieren. Ein demokratisches Regelwerk muss der sozialen Gerechtigkeit, der Verantwortung der Gesellschaftsmitglieder füreinander und ihrer gegenseitigen Solidarität ein rechtliches Fundament geben und den Rechtsanspruch der BürgerInnen anerkennen, die politischen Entscheidungsträger zu einer Politik für alle zu verpflichten.
Abschließend: Das Binnenmarktkonzept als Konstruktionsprinzip der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten ist bizarr und anachronistisch. Bizarr, weil nirgendwo sonst auf der Welt von heute sich ein Staat durch seine Verfassung dezidiert und detailliert die von ihm zukünftig und immer zu verfolgende Wirtschaftspolitik vorschreiben lässt. Anachronistisch, weil der Marktfundamentalismus in den die EU konstituierenden Verträgen von 1992 (EUV und EGV) der Euphorie nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt geschuldet ist, der die Effizienz der kapitalistischen Marktwirtschaften erwiesen habe, die auf die Selbstregulierung der freien Märkte setzen, sowie der Illusion, den Marktgesetzen um des sozialen Ausgleichs willen Grenzen setzende und korrigierende Politiken seien also entbehrlich. Der Erfolg der westlich-kapitalistischen Staaten nach dem 2. Weltkrieg gründete jedoch darauf, dass die Staaten durch die Steuer- und Sozialgesetzgebung und durch öffentliche Investitionen sicherstellten, dass die durch den Markt erzeugte Ungleichheit nicht zu groß wurde - Politiken, die dem Binnenmarktkonzept der EU-Verträge zuwiderlaufen.
In der erstaunlich kurzen Verfassung Frankreichs sind die Maßstäbe für alle Politik in den Art.1 und 2 normiert. Art.1 bestimmt, dass Frankreich eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik ist und die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz gewährleistet. In Art.2 ist bestimmt, dass der Wahlspruch der Republik lautet: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" und "ihr Grundsatz ist: Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk." Als neues "Grundgesetz" für die Europäische Union bedarf es eines Vertragswerkes, das nicht gleichermaßen kurz, aber doch gleichermaßen offen für das Marktgeschehen beschränkende und die Resultate des Marktgeschehens immer von neuer korrigierender Politik ist.
Helga Wullweber ist Rechtsanwältin in Berlin.