Grenzenlos
Ein deutscher Prozess gegen US-Verantwortliche für Abu Ghraib?
Der erste Schritt vorwärts: Am 30. Juni 2002 trat in Deutschland das Völkerstrafgesetzbuch in kraft, ein Gesetz, das Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Straftatbestände formuliert. Es sieht auch die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Befehlshabern vor, die solche Taten ihrer Untergebenen nicht verhindern.
Ein wichtiger Schritt vorwärts, den der deutsche Gesetzgeber da tat - wenn auch mit gewisser Verspätung. Das Gesetz hätte schon 1954 erlassen werden müssen, als die Bundesrepublik den Genfer Abkommen von 1949 zum Schutz der Opfer bewaffneter Konflikte beitrat. Diese schreiben vor, dass jeder Vertragsstaat schwere Verletzungen der Abkommen strafrechtlich ahnden muss, wenn er eines Täters habhaft wird, wo immer die Tat verübt wurde. Immerhin: die lange "Bedenkzeit" hat dem Gesetz genützt. Es bildet in mustergültiger Klarheit die völkerrechtlichen Normen im deutschen Strafrecht ab, eine hervorragende juristische Leistung, für die die Autoren des Gesetzes zu Recht weltweite Anerkennung gefunden haben.
Dazu tat der Gesetzgeber ein Weiteres: Für Straftaten nach dem Völkerstrafrecht gilt, anders als sonst bei Auslandstaten, weitgehend das so genannte Legalitätsprinzip. Die Staatsanwaltschaft muss grundsätzlich ermitteln, wenn "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" für eine Straftat vorliegen.
Der nächste Schritt vorwärts: Eine angesehene amerikanische Juristen-Organisation, das Center for Constitutional Rights, sowie einige Folteropfer erstatteten im November 2004 beim Generalbundesanwalt Strafanzeige gegen US-Verteidigungsminister Rumsfeld sowie weitere hochrangige Militärs und zivile Amtsträger. Sie hätten als Befehlshaber in vielfältiger Weise Ursachen für die Misshandlungen im Gefängnis von Abu Ghraib gesetzt und dafür eine strafrechtliche Verantwortung zu tragen.
Damit war eine Debatte, die auch in den Vereinigten Staaten hitzig geführt wurde, nach Deutschland getragen. Mit Blick auf die moderne Entwicklung des Völkerstrafrechts und des strafrechtlichen Schutzes der Menschenrechte war das folgerichtig. Im modernen Völkerrecht hat sich, auch über die Ansätze der Genfer Abkommen von 1949 hinaus, das Prinzip durchgesetzt, dass überall auf der Welt verfolgt und bestraft werden kann, wer einer Verletzung dieser grundlegenden Normen der internationalen Ordnung schuldig ist - der Grundsatz der "universal jurisdiction".
In ruhigen Wassern
Der hohe Anspruch des neuen Völkerstrafgesetzbuchs - wo ist er geblieben? Oder ist er doch nur Illusion? Bei den einschlägigen Rechtsfragen vermengen sich Völkerrecht und deutsches Prozessrecht ziemlich unübersichtlich: Sind die deutschen Strafgerichte nach Völkerrecht und nach deutschem Recht überhaupt zur Bestrafung der angezeigten amerikanischen Personen zuständig? Und selbst wenn, gibt es besondere Gründe, etwa eine persönliche Immunität der angezeigten Personen, die der Strafverfolgung in Deutschland entgegenstehen? Schließlich: Muss das Gericht den Opfern Rechtsschutz gewähren?
Der Generalbundesanwalt verneint die erste Frage und beruft sich auf den Grundsatz der Subsidiarität. Der Staat des Täters oder des Opfer sei primär zur Strafverfolgung zuständig, ein anderer Staat nur "subsidiär" (ersatzweise), wenn die ersteren Staaten ihre Zuständigkeit nicht ausüben wollen oder können. Dieser Grundsatz ist allerdings bislang bei Kriegsverbrechen - und Folter im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ist ein Kriegsverbrechen - im Völkerstrafrecht nicht bekannt.
Die Subsidiaritätsregel im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, auf die sich der Generalbundesanwalt beruft, betrifft einen anderen Fall, nämlich das Verhältnis zwischen diesem internationalen Gericht und nationalen Gerichten. Die deutsche Strafprozessordnung enthält auch eine Subsidiaritätsregel, aber die schließt die Zuständigkeit gerade nicht aus: Wenn ein anderer Staat die Tat verfolgt, hat die Staatsanwaltschaft nur ein Ermessen, von der Klage abzusehen. Das ist rechtlich und praktisch etwas ganz anderes.
Anspruch der Opfer
Völkerrechtlich gesehen muss der Staat, der in der Lage ist, schwere Verletzungen der Genfer Abkommen strafrechtlich zu verfolgen, dies auch tun - oder er muss an einen verfolgungswilligen Staat ausliefern. Streiten kann man nur darüber, ob diese Pflicht auch gilt, wenn der Täter sich nicht auf dem Gebiet des betreffenden Staates befindet. Aber ein Teil der angezeigten Personen befindet sich in Deutschland oder besucht Deutschland immer mal wieder. Verfolgt Deutschland diese Personen nicht, verletzt es eine völkerrechtliche Pflicht.
Bleibt die Frage der Immunität der angezeigten Personen. Der Internationale Gerichtshof hat in einem vergleichbaren Fall die Immunität des kongolesischen Außenministers, dem in Belgien Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen wurden, bejaht, allerdings mit einer Begründung, die sehr darauf zugeschnitten war, dass es sich um den Chef des diplomatischen Dienstes handelte. Amtsimmunität für einen Verteidigungsminister ist jedenfalls keine Selbstverständlichkeit. Andere angezeigte Personen sind als Angehörige der Nato-Streitkräfte in Deutschland stationiert und genießen als solche nach dem Nato-Truppenstatut Immunität für Diensthandlungen. Aber kann das Nato-Truppenstatut von seinen Vertragsparteien wirklich verlangen, fundamentale, universal geltende Pflichten zur Ahndung von Kriegsverbrechen zu verletzen?
Schließlich zum Rechtsschutz der Opfer. Das Klageerzwingungsverfahren ist verfassungsrechtlich abgesichert. Es ist eine Verwirklichung der elementaren Pflicht des Staates, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen, auch und gerade mit den Mitteln des Strafrechts. Das ist bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften der Strafprozessordnung zu berücksichtigen. Zwar kann das Gericht im Klageerzwingungsverfahren nicht die Ausübung des Ermessens der Staatsanwaltschaft nachprüfen, wenn diese von einer Strafverfolgung absieht. Wenn die Staatsanwaltschaft aber die rechtlichen Grenzen dieses Ermessens verkannt hat, wofür im vorliegenden Fall viel spricht, dann muss das Gericht eingreifen. Die sich dabei stellenden völkerrechtlichen Fragen wird es dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen müssen.
Es gibt also noch viele Verfahrenshürden, bis man bei der eigentlichen Frage ankommt, ob denn die angezeigten Personen in strafrechtlich erheblicher Weise ihre Verantwortlichkeiten als Vorgesetzte verletzt haben. Dem Rechtsstaat in Deutschland stünde es gut an, wenn seine Justiz sich um diese Frage nicht durch eine leichtfertige Erhöhung der Verfahrenshürden drücken würde. Der nächste Schritt der Echternacher Springprozession beim deutschen Kampf für das Völkerrecht sollte wieder vorwärts gehen. Michael Bothe ist emeritierter Professor für Völkerrecht an der Universität Frankfurt am Main und Leiter der Forschungsgruppe "Internationale Organisationen, demokratischer Frieden und Herrschaft des Rechts" an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.
Andreas Fischer-Lescano ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaft an der Universität Frankfurt am Main. Mit freundlicher Genehmigung der Süddeutschen Zeitung.