"Ich dachte man sollte die Polizei rufen, aber es war die Polizei."

Eva Lindenmaier ... so fasste eine Indymedia - Reporterin und Augenzeugin des Polizeiüberfalls auf die Scuola Diaz in Genua das Erlebte bei einer Pressekonferenz des Berliner Ermittlungsausschusses zusammen. In der Nacht vom 21. auf den 22. Juli 2001 war die Schule, welche als Übernachtungsmöglichkeit für DemonstrantInnen während des Gipfeltreffens G 8 von der Stadt zur Verfügung gestellt worden war, von verschiedenen Einheiten der Polizei und der Carabinieri gestürmt worden. Was in dieser Nacht geschah, ist nun Gegenstand des Prozesses gegen Beamte der italienischen Polizei und Carabinieri, der am 26. Juni 2004 in Genua begann. In den Gängen und Räumen der Schule spielte sich in der Nacht vom 21. auf den 22. Juli 2001 in den Fluren folgendes ab: Frauen und Männer erwarteten verängstigt die anrückende Polizei, sie lagen in Schlafsäcken, standen mit zum Zeichen der Ergebung erhobenen Händen oder kauerten am Boden und die meisten von ihnen wurden systematisch von den in Ruhe die Reihen abarbeitenden Ordnungskräften mit Schlagstöcken und Stiefeltritten vor allem an Kopf und Händen verletzt. Nach dem Überfall wurden die misshandelten Personen festgenommen. 62 der insgesamt 93 in der Schule festgenommenen Personen mußten im Krankenwagen teils schwerverletzt abtransportiert werden und im Krankenhaus behandelt werden: Prellungen, Platzwunden, gebrochene Arme, gebrochene Nasen, gebrochene Kiefer, ausgeschlagene Zähne, Schädelbrüche, schwere Schädeltraumata etc. Zwei Personen lagen nach dem Überfall durch die Beamten im Koma. Es dürfte nur der schnellen medizinischen Versorgung zu danken sein, daß niemand an den Mißhandlungen starb. Manche der Schilderungen dessen, was in der Schule geschah, lassen angesichts der Brutalität, mit der zum Beispiel auf bereits in ihrem Blut liegende Bewußtlose eingeschlagen und -getreten wurde, meines Erachtens keine andere Interpretation als die des versuchten Totschlags zu. Während also über zwei Drittel der Personen aus der Schule nach dem Einsatz im Krankenhaus behandelt wurden, war nicht einer der 148 an dem Einsatz beteiligten Beamten danach verletzt. Diejenigen, die nicht im Krankenhaus bleiben durften, kamen auf eine Polizeistation und wurden dort weiter mißhandelt: Beschimpfungen, Schläge, Verletzungen, stundenlanges Stehen (trotz teils schwerer Verletzungen). Es wurden umfangreiche erkennungsdienstliche Maßnahmen ergriffen: Aufzeichnung der Gesichts- und Irisstruktur, Fingerabdrücke etc. Durch die Polizeibeamten waren gegen sie Strafanzeigen wegen Bildung einer Kriminellen Vereinigung, Widerstandes und anderem erstattet worden. Erst nach vier Tagen wurden die Inhaftierten auf richterliche Anordnung entlassen. Die Richter, denen die bandagierten und teils schwer verletzten Personen aus der Schule vorgeführt wurden, kamen zu dem Ergebnis, dass keine Haftgründe vorlagen. Als letzte Freundlichkeit wurden die Betroffenen ausländerrechtlich ausgewiesen und abgeschoben. Inzwischen ist bekannt, dass die italienischen Ordnungskräfte die Ermittlungsergebnisse massiv gefälscht und gelogen haben, um ihre brutale Prügelorgie zu rechtfertigen. So behaupteten die Beamten nach dem Überfall insbesondere drei Vorfälle: Zum einen habe es vor dem Einsatz aus der Schule heraus einen Steinhagel auf ein vorbeifahrendes Polizeiauto gegeben. Nach dem Einsatz seien in der Schule zudem zwei Molotowcocktails gefunden worden, also benzingefüllte Flaschen, die eine Wirkung erzielen können, die der von Handgranaten ähnelt. Und drittens sei ein Beamter, Massimo Nucera, von einer der Personen aus der Schule mit einem Messer angegriffen worden, hierdurch sei im Brustbereich seiner Uniformjacke und der darunter getragenen Schutzweste ein Schnitt entstanden. Hier habe es sich um einen versuchten Totschlag gehandelt, ohne seine kugelsichere Weste wäre er gestorben. Der Täter sei trotz der Überzahl der Beamten unerkannt entkommen. Der Schnitt in der Jacke des Beamten Nucera wurde in Italien im Fernsehen als Beweis dafür gezeigt, dass der Polizeieinsatz in der Scuola Diaz gerechtfertigt gewesen sei. Alle drei Behauptungen wurden durch die Ermittlungen der italienischen Staatsanwaltschaft widerlegt: Der Beamte, der den Steinhagel behauptet hatte, gab schließlich zu, er habe davon nur von einem Kollegen gehört, dessen Namen ihm nun entfallen sei. Seltsamerweise sind auf Aufnahmen des Schulhofs und des davor liegenden Strassengeländes, die nach der nächtlichen Prügelorgie durch die Einsatzkräfte aufgenommen wurden, auch keine Steine zu sehen. Die auf internationalen Pressekonferenzen stolz präsentierten Molotowcocktails wurden von dem stellvertretenden Polizeipräsidenten von Bari, Pasquale Guaglione wiedererkannt. Er hatte die Flaschen selbst bereits am nachmittag vor dem Überfall auf die Schule in Genua in einem Gebüsch gefunden und beschlagnahmt. Zur Krönung wurde auch ein Amateurvideo entdeckt, auf dem zu sehen ist, wie ein hochrangiger Polizeioffizier die Flaschen nachts in die Schule brachte. Auf dem Video ist zu sehen, wie sich nahezu die gesamte Führung der Sicherheitskräfte die Flaschen interessiert zeigen lässt. Der angeblich mit dem Messer angegriffene Beamte Massimo Nucera war übrigens einer der wenigen Beamten, der nach dem Polizeieinsatz nicht von seinem Schweigerecht als Beschuldigter Gebrauch machte. Allerdings ergab ein von der Staatsanwaltschaft Genua in Auftrag gegebenes Gutachten, dass der Schnitt nicht so entstanden sein konnte, wie Nucera behauptete. Dies ergab sich unter anderem daraus, dass der Schnitt in der Uniformjacke und der Schnitt in der darunter getragenen Schutzweste nicht übereinstimmten. Die Jacke und Schutzweste mussten zudem angesichts des Schnittwinkels - so das Gutachten - auf einem Tisch oder auf dem Boden gelegen haben, als der Schnitt zugefügt wurde. Inzwischen äußert sich Nucera nicht mehr zu den von ihm erhobenen Behauptungen. Obwohl mehrere Aktivisten den Einsatz der Beamten in der Nacht vom 21. auf den 22. Juli 2001 dank schneller medizinischer Hilfe überlebten, war keiner der verantwortlichen Beamten in Untersuchungshaft genommen oder vom Dienst suspendiert worden. Am 26. Juni 2004 hat aber immerhin ein Strafprozess gegen einige der Beamten in Genua begonnen. Es handelt sich hierbei zunächst um eine "udienza preliminare", das heißt eine nicht öffentliche Vorverhandlung in welcher geklärt werden soll, ob der öffentliche Hauptprozess eröffnet werden wird. Unter den Angeklagten sind einige der einflussreichsten Sicherheitsbeamten Italiens: Francesco Gratteri, Leiter der Abteilung Antiterrorismus, Giovanni Luperi, Verantwortlicher der europäischen Expertengruppe, die sich mit islamischem Extremismus beschäftigt, sowie Vincenzo Canterini, heute Leitungsbeamter der italienischen Kriminalpolizei. Den insgesamt 29 angeklagten italienischen Ordnungskräften werden unter anderem die folgenden Delikte vorgeworfen: - gemeinschaftliche Falschbeurkundung im Amt in Verdeckungsabsicht - gemeinschaftliche falsche schwere Anschuldigung in Verdeckungsabsicht - gemeinschaftliche, gefährliche Körperverletzung durch Tun oder Unterlassen unter Einsatz von Waffen im Amt - gemeinschaftliche Sachbeschädigung im Amt durch Tun oder Unterlassen mit Gewalt oder Drohung gegen Personen unter Missbrauch der Befugnisse, die mit einem öffentlichen Amt verbunden sind - willkürliche Durchsuchung von Personen sowie Hausfriedensbruch im Amt in Verdeckungsabsicht - gemeinschaftliche Nötigung im Amt durch Tun oder - gemeinschaftliche Amtsunterschlagung durch Tun oder Unterlassen. Es muss betont werden, dass die Betroffenen aus der Scuola Diaz durch diese Delikte schwer geschädigt wurden. Neben den häufig noch heute nicht überwundenen körperlichen und seelischen Schäden durch die Misshandlungen und durch die rechtswidrigen Inhaftierungen sahen sich die Betroffenen auch mit ausländerrechtlichen Ausweisungen, mit Ermittlungsverfahren, in welchen unter anderem aufgrund der falschen Behauptungen des Beamten Nucera auch der Vorwurf des versuchten Totschlags erhoben wurde und mit dem Umstand konfrontiert, dass ihre Daten und die falschen Anschuldigungen in Polizei- und Sicherheitsdateien europaweit gespeichert wurden.

Die Schwierigkeit des nun begonnenen Prozesses gegen die italienischen Sicherheitskräfte liegt darin, dass die Delikte häufig keinem der Beamten persönlich zugeordnet werden konnten, da viele Beamten bei dem Einsatz vermummt waren. Die Opfer konnten die Täter daher in der Regel später nicht persönlich identifizieren. Die Anklage bezieht sich daher darauf, dass zumindest die vorgesetzten Beamten die Pflicht gehabt hätten, die Kollegen an den Delikten zu hindern. Außerdem werden diejenigen Beamten wegen Beweismittelfälschung und falscher Anschuldigung zur Verantwortung gezogen, die beispielsweise die falschen Strafanzeigen unterzeichnet haben.

Für die derzeit laufende Vorverhandlung in dem Strafverfahren gegen die Beamten wurden bereits 30 Termine zur Hauptverhandlung anberaumt. Diese hohe Zahl an Terminen erklärt sich damit, dass die Verteidiger von einigen der Angeklagten zugleich Parlamentarier sind und als Abgeordnete für die weit rechts stehende Partei "Alleanza Nazionale" im Parlament sitzen. Aus diesem Grund werden die Verteidiger vermutlich ständig Terminsverlegungen beantragen. Der Prozess wird sich voraussichtlich erheblich in die Länge ziehen.

Es spricht für sich, dass die Alleanza Nazionale, welcher einige Verteidiger der angeklagten Beamten angehören, an der Regierungskoalition des Ministerpräsidenten Berlusconi beteiligt ist. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international stellte zu dem Überfall auf die Scuola Diaz fest, dass hier die Menschenrechte durch Sicherheitskräfte in einem Ausmaß verletzt wurden, wie dies in der jüngeren Geschichte Europas nicht mehr vorkam. Ministerpräsident Berlusconi hat sich dennoch bisher nicht von dem Handeln seiner Beamten in der Scuola Diaz distanziert oder bei den Opfern entschuldigt.

Er hat sich aber in anderer Weise hervor getan: Derzeit wird in Genua gegen 26 italienische Demonstranten ein Prozess unter anderem wegen Sachbeschädigung und Plünderung während der Demonstrationen gegen den G8 - Gipfel in Genua im Juli 2001 geführt, in dem keinem einzigen vorgeworfen wird, einen anderen Menschen verletzt zu haben. Hier beteiligt sich Ministerpräsident Berlusconi an dem Prozess als Nebenkläger, also als Geschädigter, mit der Begründung, die Angeklagten hätten das Ansehen Italiens in der Welt beschädigt. In diesem Prozess geht es beispielsweise darum, dass Demonstranten ein Päckchen tiefgefrorene Lasagne aus einem Supermarkt entwendet haben sollen. Nach Auffassung des Ministerpräsidenten sind das offenbar schlimmere Delikte als die Prügelorgie seiner Beamten in der Scuola Diaz mit zahlreichen Schwerverletzten, für die seine Regierung letztlich politisch die Verantwortung trägt.

Dem politischen Klima in Italien ist daher nur zu wünschen, dass der Prozess, der am 26. Juni 2004 begonnen hat, mit klaren Verurteilungen gegen die angeklagten Beamten endet.